EGMR Bsw24662/94

EGMRBsw24662/9423.9.1998

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Lehideux und Isorni gegen Frankreich, Urteil vom 23.9.1998, Bsw. 24662/94.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK, Art. 17 EMRK - Verurteilung wegen öffentlicher Verteidigung von Kriegsverbrechen und Verbrechen der Collaboration und Freiheit der Meinungsäußerung.

Verletzung von Art. 10 EMRK (15:6 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 50 EMRK: FF 100.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Der ErstBf. verstarb im Juni 1998. Von September 1940 bis April 1942 war er Minister in der Regierung von Marschall Ptain. Im Frankreich der Nachkriegszeit war er Unternehmer und - von 1959 bis 1964 - Mitglied des Wirtschafts- und Sozialrats. Darüber hinaus war er Vorsitzender der Vereinigung zum Gedenken an Marschall Ptain. Der ZweitBf. war Rechtsanwalt und verstarb im Mai 1995. Er war Sekretär jenes Präsidenten der Rechtsanwaltskammer, der Marschall Ptain 1945 im Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof vertreten hatte. Marschall Ptain wurde am 15.8.1945 zum Tode verurteilt. Im Juli 1984 erschien eine Ausgabe der Tageszeitung Le Monde in der sich im Auftrag der beiden Bf. ein ganzseitiges Inserat unter dem Titel "Franais, vous avez la mmoire courte" ("Franzosen, ihr habt ein kurzes Gedächtnis") befand. Darin wurde die Politik von Marschall Ptain in einem positiven Licht dargestellt. Im Oktober 1984 erstatte die Vereinigung ehemaliger Mitglieder der Rsistance Anzeige ua. gegen den Herausgeber von Le Monde wegen öffentlicher Verteidigung von Verbrechen der Collaboration mit dem Feind, weiters gegen den ErstBf. als Präsidenten der Vereinigung zum Gedenken an Marschall Ptain sowie gegen den ZweitBf. als den für den Inhalt des Inserats Verantwortlichen, wegen Anstiftung bzw. Beihilfe. Im Juni 1986 sprach der tribunal correctionnel de Paris die Bf. frei. Ein dagegen von der Vereinigung ehemaliger Mitglieder der Rsistance eingebrachtes Rechtsmittel war erfolglos. Einem weiteren Rechtsmittel gab der Kassationsgerichtshof (cour de cassation) jedoch statt und verwies die Angelegenheit an die zweite Instanz zurück. Diese verurteilte die Bf. im Jänner 1989. Gegen dieses Urteil brachten die Bf. ein Rechtsmittel an den Kassationsgerichtshof ein, und beriefen sich dabei auf das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit iSv. Art. 10 EMRK. Im Urteil von November 1993 verneinte der Kassationsgerichtshof eine Verletzung des Rechts auf Meinungsäußerungsfreiheit, da der Eingriff im Interesse der nationalen Sicherheit, der nationalen Unversehrtheit und der öffentlichen Sicherheit iSv. Art. 10 (2) EMRK notwendig gewesen sei.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit).

Die Reg. behauptet, die Einschaltung der Bf. widerspräche dem Geist der Konvention und den Grundwerten der Demokratie. Die Bsw. sei wegen des in Art. 17 EMRK verankerten Missbrauchsverbots unzulässig.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:

Die Verurteilung der Bf. stellt einen Eingriff in deren Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit dar. Dieser war gesetzlich vorgeschrieben und verfolgte ein legitimes Ziel iSv. Art. 10 (2) EMRK, nämlich den Schutz des guten Rufes oder Rechte anderer bzw. der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung. Zu prüfen ist, ob der gerügte Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Notwendig iSv. Art. 10 (2) EMRK verlangt das Vorliegen eines dringenden gesellschaftlichen Bedürfnisses. Die Vertragsstaaten haben einen gewissen Ermessensspielraum bezüglich der Beurteilung der Frage, ob ein solches Bedürfnis vorliegt. Der Inhalt der von den Bf. in Auftrag gegebenen Einschaltung war einseitig und polemisch. Der Text beschrieb Marschall Ptain sehr vorteilhaft und erwähnte nicht die Verbrechen, derentwegen er zum Tode verurteilt wurde. Art. 10 EMRK schützt jedoch nicht nur den Inhalt der zum Ausdruck gebrachten Ideen und Nachrichten, sondern auch die Form, in der sie mitgeteilt werden. Die Bf. wurde im wesentlichen deswegen verurteilt, weil sie einigen Passagen in Marschall Ptains Biographie nicht ausreichend kritisch gegenüberstanden, und va. weil sie bestimmte historische Tatsachen überhaupt nicht erwähnten, so zB. die Erlassung eines Gesetzes betreffend die Rechtsstellung der Juden (loi sur les ressortisants trangers de race juive) im Oktober 1940. Es besteht kein Zweifel, dass jegliche Rechtfertigung einer dem Nationalsozialismus positiv gegenüberstehenden Politik nicht den Schutz durch Art. 10 EMRK genießt. Im vorliegenden Fall distanzierten sich die Bf. jedoch unmissverständlich von den Greueltaten während des Nationalsozialismus. Bezüglich der unkritischen Auseinandersetzung mit Marschall Ptains Politik wird festgestellt, dass dies zwar verwerflich ist, da es Ereignisse betrifft, die direkt mit dem Holocaust in Verbindung stehen, dennoch müssen noch weitere Aspekte berücksichtigt werden. Es wäre Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden gewesen, im innerstaatlichen Verfahren Rechtsmittel gegen die Freisprüche der Bf. einzubringen. Weiters betrifft die gegenständliche Einschaltung historische Ereignisse, die über 40 Jahre zurückliegen. Obwohl ein Text wie der der Bf. noch immer äußerst kontroversiell ist, ist es doch unangemessen, diesen mit demselben Maßstab wie vor 10 oder 20 Jahren zu beurteilen. Dies ist ein Teil von Bemühungen, die jedes Land für einen offenen Umgang mit seiner Geschichte zu machen hat. Das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit gemäß Art. 10 EMRK bezieht sich auch auf Informationen und Ideen, die den Staat oder einen Teil der Bevölkerung beleidigen, schockieren oder stören. Darüber hinaus verfolgt der Inhalt des Textes die Ziele der Vereinigungen, die ihn verfassten. Diese Vereinigungen haben sich legal konstituiert und die von ihnen verfolgten Ziele waren nie Gegenstand eines Gerichtsverfahrens. Die Verurteilung der Bf. ist demnach unverhältnismäßig zum verfolgten Zweck und als solche in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig. Eine Anwendung von Art. 17 EMRK ist demnach in diesem Zusammenhang nicht angebracht. Verletzung von Art. 10 EMRK (15:6 Stimmen, Sondervoten der Richter Foighel, Loizou, Sir Freeland, Morenilla und Casadevall).

Art. 50 EMRK: FF 100.000,- für Kosten und Auslagen.

Vgl. die vom GH zitierten Fälle Open Door & Dublin Well Woman/IRL,

Urteil v. 29.10.1992, A/246 (= NL 92/6/13 = EuGRZ 1992, 484 = ÖJZ

1993, 280); Jersild/DK, Urteil v. 23.9.1994, A/98 (= NL 94/5/13 = ÖJZ

1995, 227); Vogt/D, Urteil v. 26.9.1995 (= NL 95/5/5 = EuGRZ 1995,

590 = ÖJZ 1996 75); De Haes & Gijsels/B, Urteil v. 24.2.1997 (= NL 97/2/12 = ÖJZ 1997, 912); Zana/TR, Urteil v. 25.11.1997.

Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 8.4.1997 eine Verletzung von Art. 10 EMRK festgestellt (23:8 Stimmen).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 23.9.1998, Bsw. 24662/94, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1998, 195) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/98_5/Lehideux_Isorni.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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