European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RO2017130016.J00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Bei der mitbeteiligten Partei, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die ein Krankenhaus betreibt, wurde eine gemeinsame Prüfung lohnabhängiger Abgaben (GPLA) durchgeführt, in deren Rahmen der Prüfer im Einzelnen Feststellungen über pauschale Nachforderungen an Lohnsteuer für das Jahr 2004 traf. 2 Das Finanzamt folgte dem Prüfer und zog die mitbeteiligte Partei mit Bescheid vom 9. Jänner 2008 gemäß § 82 EStG 1988 zur Haftung für Lohnsteuer für das Jahr 2004 in Höhe von insgesamt 206.924,78 EUR heran, wobei es hinsichtlich der Bemessungsgrundlagen und Nachforderungen auf den Bericht über die GPLA vom selben Tag verwies.
3 Die mitbeteiligte Partei berief gegen den Haftungsbescheid und brachte im Wesentlichen vor, dass es sich - wie in der Bescheidbegründung zutreffend ausgeführt - bei den strittigen Teilen der Bemessungsgrundlagen in einer Vielzahl von Fällen um Zahlungen handle, die von anderen Vereinen oder Gesellschaften geleistet worden seien. Warum die mitbeteiligte Partei für diese Zahlungen Lohnsteuer abführen müsse, sei unerklärlich. Soweit die in Rede stehenden Zahlungen überhaupt an Dienstnehmer der Mitbeteiligten geleistet worden seien, werde ein Zusammenhang mit diesem Dienstverhältnis bestritten.
4 In einer Ergänzung zur Berufung vom 4. April 2011 wies die Mitbeteiligte darauf hin, dass die Beitragsgrundlage für die Sozialversicherung von 605.069,09 EUR auf 304.437,19 EUR reduziert worden sei. Von diesen 304.437,19 EUR seien noch Zahlungen von dritter Seite in Höhe von insgesamt 198.656,56 EUR in Abzug zu bringen. Die verbleibende Lohnsteuerbemessungsgrundlage von 105.780,63 EUR betreffe nur Dienstnehmer, die unter einen niedrigen Durchschnittssteuersatz bzw. (teilweise) unter die Lohnsteuergrenze fielen. Aus Gründen der Verfahrensvereinfachung werde von der mitbeteiligten Partei eine pauschale Besteuerung der Bemessungsgrundlage von 105.780,63 EUR mit 15 % und die Festsetzung eines Lohnsteuerbetrages von 15.867,09 EUR vorgeschlagen.
5 Mit Beschwerdevorentscheidung vom 19. Dezember 2014 gab das Finanzamt der Berufung (nunmehr Beschwerde) gegen den Haftungsbescheid vom 9. Jänner 2008 keine Folge, woraufhin die mitbeteiligte Partei die Entscheidung über die Beschwerde durch das Bundesfinanzgericht beantragte.
6 Nach Vorlage der Beschwerde trug das Bundesfinanzgericht der mitbeteiligten Partei und dem Finanzamt auf (Beschluss vom 28. März 2017), innerhalb von drei Wochen "bekanntzugeben, ob der belangten Behörde die Möglichkeit eingeräumt wurde, sämtliche Arbeitnehmer, denen Zuwendungen von dritter Seite zugute kamen, festzustellen".
7 Die mitbeteiligte Partei gab mit Schriftsatz vom 5. April 2017 bekannt, "dass der belangten Behörde jederzeit Einsicht in die entsprechenden Unterlagen gewährt wurde und daher die Empfänger jedweder Zahlung lückenlos festgestellt werden konnten".
8 Mit dem angefochtenen Erkenntnis hob das Bundesfinanzgericht den Haftungsbescheid vom 9. Jänner 2008 ersatzlos auf. Es stellte fest, dass Arbeitnehmer der mitbeteiligten Partei Zahlungen von dritter Seite erhalten hätten und das Finanzamt davon ausgegangen sei, dass für diese Zahlungen Lohnsteuer einzubehalten und abzuführen gewesen wäre. Die Berechnung der einzubehaltenden Lohnsteuer sei pauschal erfolgt, wobei zwei Gruppen von Arbeitnehmern gebildet worden seien, deren Lohnsteuerbemessungsgrundlagen jeweils gesammelt ermittelt worden seien. Die jeweilige Bemessungsgrundlage sei mit einem Durchschnittssteuersatz von 35 % bzw. 25,9 % versteuert worden. 9 Das Finanzamt habe die Inanspruchnahme der mitbeteiligten Partei zur Haftung für Lohnsteuer auf den Haftungstatbestand des § 82 EStG 1988 gestützt, wonach der Arbeitgeber dem Bund für die Einbehaltung und Abfuhr der vom Arbeitslohn einzubehaltenden Lohnsteuer hafte. Die Frage, wieviel an Lohnsteuer die Mitbeteiligte gemäß § 82 EStG 1988 in Ansehung der strittigen Lohnzahlungen einzubehalten und abzuführen habe, sei der Gegenstand des abgabenbehördlichen Verfahrens, und daher die Sache, über die das Bundesfinanzgericht zu entscheiden habe. Der Verwaltungsgerichtshof halte in ständiger Rechtsprechung fest, dass die Änderungsbefugnis nach "§ 279 Abs. 2 BAO" selbst solche Fehler umfasse, die vom Finanzamt nicht aufgegriffene Sachverhalte beträfen. Entscheidend sei nur, dass das Bundesfinanzgericht den Arbeitgeber für Lohnsteuerschuldigkeiten derselben Arbeitnehmer und für dieselben Zeiträume wie zuvor das Finanzamt heranziehe. 10 Gemäß § 86 Abs. 2 EStG 1988 könne die Nachforderung auf Grund einer Außenprüfung in einem Pauschbetrag erfolgen, wenn sich bei dieser Außenprüfung ergebe, dass die genaue Ermittlung der auf den einzelnen Arbeitnehmer entfallenden Lohnsteuer mit unverhältnismäßigen Schwierigkeiten verbunden sei. Diese Bestimmung eröffne keine Möglichkeit, von der Ermittlung des steuererheblichen Sachverhaltes abzusehen und der Nachforderung etwa einen bloß vermuteten Sachverhalt zugrunde zu legen. Es sei also bei einer Nachforderung gemäß § 86 Abs. 2 EStG 1988 grundsätzlich festzustellen, von welchen Arbeitnehmern welche unrichtig versteuerten Vorteile aus dem Dienstverhältnis bezogen worden seien. Lediglich bei der Berechnung der Lohnsteuer, die auf diese Vorteile entfalle, könne pauschal vorgegangen werden, indem anhand der Merkmale des § 86 Abs. 2 zweiter Satz EStG 1988 eine Durchschnittsbelastung ermittelt werde, die auf die Vorteile der "durch die Nachforderung erfassten Arbeitnehmer" entfalle. Auch im Falle der pauschalen Nachforderung müsse aber grundsätzlich sowohl für den Arbeitgeber als auch für das Verwaltungsgericht ermittelbar sein, was auf den einzelnen Arbeitnehmer entfalle. Eine Ausnahme von diesen Grundsätzen werde nur dann vorliegen, wenn feststehe, dass der Arbeitgeber Arbeitnehmern nicht (ordnungsgemäß) versteuerte Vorteile aus dem Dienstverhältnis gewährt habe, der Arbeitgeber selbst aber der Abgabenbehörde die Möglichkeit nehme, die betreffenden Arbeitnehmer festzustellen (Hinweis auf VwGH 14.10.1992, 90/13/0009; 24.05.1993, 92/15/0037). 11 Da dem Finanzamt im gegenständlichen Fall unstrittig die Möglichkeit geboten worden sei, sämtliche Arbeitnehmer festzustellen, die Zuwendungen von dritter Seite erhalten haben, hätten diese auch im Haftungsbescheid namentlich unter Angabe der Höhe der zusätzlichen Zahlungen angeführt werden müssen. Abgesehen davon, dass nicht erkennbar sei, welche unverhältnismäßigen Schwierigkeiten einer Berechnung der auf den einzelnen Arbeitnehmer entfallenden Lohnsteuer entgegenstanden seien, würden im angefochtenen Bescheid auch nicht die namentlich bekannten Arbeitnehmer als Abgabenschuldner, für deren Abgabenschuld die mitbeteiligte Partei zur Haftung herangezogen werde, genannt. 12 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dürfe das Verwaltungsgericht in einer Angelegenheit, die überhaupt noch nicht oder in der vom Verwaltungsgericht in Aussicht genommenen rechtlichen Art nicht Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens gewesen sei, nicht einen Sachbescheid im Ergebnis erstmals erlassen. Es dürfe beispielsweise nicht jemanden erstmals in eine Schuldnerposition verweisen. Würde das Verwaltungsgericht diese Befugnis für sich in Anspruch nehmen, würde es in die sachliche Zuständigkeit der Abgabenbehörde eingreifen (Hinweis auf VwGH 29.05.2015, 2012/17/0231; 28.02.2002, 2000/16/0317; 18.09.2007, 2007/16/0089). 13 Damit sei es dem Bundesfinanzgericht aber auch verwehrt, erstmals darüber abzusprechen, "für welche Arbeitnehmer in welcher Höhe" die Mitbeteiligte zur Haftung herangezogen werde. 14 "Da mit dem angefochtenen Bescheid eine Haftungsinanspruchnahme ausschließlich für namentlich bekannte - aber nicht genannte - Arbeitnehmer erfolgte, war dem Verwaltungsgericht mangels Kenntnis der Abgabenschuldner eine meritorische Entscheidung verwehrt. Der angefochtene Bescheid war daher ersatzlos aufzuheben".
15 Eine Revision erklärte das Bundesfinanzgericht für zulässig, "da eine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu der im gegenständlichen Fall zu erörternden Rechtsfrage - ob es dem Verwaltungsgericht verwehrt ist, in seiner Entscheidung erstmals die Abgabenschuldner anzuführen, für deren Abgabenschulden die Beschwerde führende Partei zur Haftung herangezogen wird - fehlt".
16 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die Revision des Finanzamtes.
17 Die mitbeteiligte Partei hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.
18 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
19 Gemäß § 279 Abs. 1 BAO hat das Verwaltungsgericht außer in den Fällen des § 278 BAO immer in der Sache selbst mit Erkenntnis zu entscheiden. Es ist berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung seine Anschauung an die Stelle jener der Abgabenbehörde zu setzen und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern, aufzuheben oder die Bescheidbeschwerde als unbegründet abzuweisen.
20 Die Änderungsbefugnis des Verwaltungsgerichtes, die auch die Berechtigung einschließt, den Bescheid der Abgabenbehörde zu Ungunsten der beschwerdeführenden Partei abzuändern (sogenannte "Verböserung"), ist durch die "Sache" begrenzt. Die Sache ist die Angelegenheit, die den Inhalt des Spruches erster Instanz gebildet hat (vgl. die bei Ritz, BAO6, § 279 Tz 10 und 11, angeführte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes).
21 Bei einem Bescheid, mit dem eine persönliche Haftung ausgesprochen wird, wird die Identität der Sache, über die abgesprochen wurde, durch den Tatbestand begrenzt, der für die geltend gemachte Haftung maßgebend ist (vgl. z.B. VwGH 21.4.2016, 2013/15/0290; 24.5.2012, 2009/15/0182, VwSlg. 8725/F; 9.2.2005, 2004/13/0126, VwSlg. 8004/F; 10.4.1997, 94/15/0218). 22 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. z.B. VwGH 24.5.1993, 92/15/0037, mwN) ist auch bei einer Nachforderung gemäß § 86 Abs. 2 EStG 1988 grundsätzlich festzustellen, welche Arbeitnehmer welche unrichtig versteuerten Vorteile aus dem Dienstverhältnis bezogen haben. Lediglich bei der Berechnung der Lohnsteuer, die auf diese Vorteile entfällt, kann pauschal vorgegangen werden, indem anhand der Merkmale des § 86 Abs. 2 zweiter Satz EStG 1988 eine Durchschnittsbelastung ermittelt wird, die auf die Vorteile der "durch die Nachforderung erfassten Arbeitnehmer" entfällt. Auch im Falle der pauschalen Nachforderung muss aber grundsätzlich für den Arbeitgeber ermittelbar sein, was auf den einzelnen Arbeitnehmer entfällt. 23 Im Revisionsfall hat das Finanzamt die Inanspruchnahme der mitbeteiligten Partei zur Haftung für Lohnsteuer auf den Haftungstatbestand des § 82 EStG 1988 gestützt, wonach der Arbeitgeber dem Bund für die Einbehaltung und Abfuhr der vom Arbeitslohn einzubehaltenden Lohnsteuer haftet. Die Frage, wieviel an Lohnsteuer die mitbeteiligte Partei gemäß § 82 EStG 1988 in Ansehung der strittigen Lohnzahlungen in dem vom Haftungsbescheid umfassten Zeitraum einzubehalten und abzuführen hatte, war bereits Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens und daher "die Sache", über die das Bundesfinanzgericht zu entscheiden hatte. Dass die Namen der Arbeitnehmer, welche die strittigen Lohnzahlungen erhalten haben, und die auf diese Zahlungen jeweils entfallende Lohnsteuer im Bescheid des Finanzamtes vom 9. Jänner 2008 nicht angeführt werden, steht einer meritorischen Entscheidung des Bundesfinanzgerichts über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nicht entgegen, zumal selbst im angefochtenen Erkenntnis außer Streit gestellt wird, dass eine Haftungsinanspruchnahme "ausschließlich für namentlich bekannte" Arbeitnehmer erfolgte.
24 Dass für die mitbeteiligte Partei im Hinblick auf die gemäß § 86 Abs. 2 EStG 1988 pauschale Nachforderung nicht nachvollziehbar gewesen sei, welcher Haftungsbetrag auf die einzelnen namentlich bekannten Arbeitnehmer entfalle, wurde von der mitbeteiligten Partei (anders als im Erkenntnis VwGH 24.5.1993, 92/15/0037) auch nicht behauptet (vgl. idS VwGH 16.11.1993, 93/14/0139). Die mitbeteiligte Partei schlug in ihrer Ergänzung zur Berufung vom 4. April 2011 vielmehr selbst die pauschale Besteuerung einer - wenn auch niedrigeren, aber offenbar ebenfalls auf die betroffenen Arbeitnehmer abgestellten - Bemessungsgrundlage von 105.780,63 EUR vor.
25 Das angefochtene Erkenntnis erweist sich daher als mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.
Wien, am 12. Juni 2019
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