Normen
61996CJ0262 Sürül VORAB;
62002CJ0373 Sakir Öztürk VORAB;
ARB3/80 Art2;
ARB3/80 Art3 Abs1;
FamLAG 1967 §2 Abs8;
FamLAG 1967 §3 Abs1;
61996CJ0262 Sürül VORAB;
62002CJ0373 Sakir Öztürk VORAB;
ARB3/80 Art2;
ARB3/80 Art3 Abs1;
FamLAG 1967 §2 Abs8;
FamLAG 1967 §3 Abs1;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird, soweit er die Familienbeihilfe für den am 9. Juni 1986 geborenen Sohn der Mitbeteiligten B betrifft, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben; im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
Begründung
Der Ehemann der Mitbeteiligten, ein türkischer Staatsangehöriger, war im Jahr 2002 nach Österreich eingereist, ist seither an der türkischen Botschaft in Wien beschäftigt und verfügte für den Streitzeitraum über einen vom (damaligen) Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten ausgestellten Ausweis als Mitglied des dienstlichen Hauspersonals bei der türkischen Botschaft in Österreich.
Im Jahr 2005 reisten die Mitbeteiligte und zwei ihrer Kinder (der am 11. Juni 1999 geborene Sohn Bu und der am 24. Jänner 1991 geborene Sohn Ba) nach Österreich ein. Im Jahr 2006 folgte der am 9. Juni 1986 geborene Sohn B. Die Familie der Mitbeteiligten, sämtliche türkische Staatsangehörige, wohnt seither in W. Die Mitbeteiligte und ihre Söhne verfügen über vom (damaligen) Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten ausgestellte Ausweise als Familienangehörige des Ehemannes der Beschwerdeführerin.
Die Mitbeteiligte war im Streitzeitraum seit 10. Oktober 2007 bei der T. GesmbH in W beschäftigt.
Die Mitbeteiligte beantragte die Gewährung der Familienbeihilfe für ihre drei Söhne ab Oktober 2007. Ihr Sohn Bu besuche die Volksschule in Wien, ihr Sohn Ba die Berufsschule und ihr Sohn B die Universität Wien.
Auf Vorhalt des Finanzamtes legte die Mitbeteiligte den Lehrvertrag des Lehrherrn mit ihrem Sohn Ba vor, wonach dieser ab 16. Oktober 2007 für drei Jahre im Lehrberuf Glaser ausgebildet werde.
Mit Bescheid vom 21. Jänner 2008 wies das Finanzamt den Antrag der Beschwerdeführerin mit der Begründung ab, Mitglieder des dienstlichen Hauspersonals einer Mission hätten nach dem Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen (BGBl. Nr. 66/1966) keinen Anspruch auf Familienbeihilfe, sofern sie weder österreichische Staatsbürger noch in Österreich ständig ansässig seien oder auf sie die Verordnungen (EWG) Nr. 1408/71 und 574/72 vorrangig anzuwenden seien.
Eine dagegen erhobene Berufung, in welcher die Mitbeteiligte auf ihre Beschäftigung in Österreich hinwies, wies das Finanzamt mit Berufungsvorentscheidung vom 16. Mai 2008 ab.
Dagegen erhob die Mitbeteiligte einen Vorlageantrag.
Mit dem angefochtenen Bescheid hob die belangte Behörde den vor ihr bekämpften Bescheid des Finanzamtes vom 21. Jänner 2008 ersatzlos auf. Das zwischen der Republik Österreich und der türkischen Republik beschlossene Übereinkommen über soziale Sicherheit vom 2. Dezember 1982, BGBl. Nr. 91/1985, gehe den allgemeineren Bestimmungen des Wiener Übereinkommens über die diplomatischen Beziehungen vom 18. April 1961, BGBl. Nr. 66/1966, vor. Auf Grund der vom Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten ausgestellten Ausweise (Legitimationen) für die Mitbeteiligte und ihre Söhne, die sie in Verbindung mit einem gültigen Reisepass zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigten, bestehe für die belangte Behörde kein Grund, am Vorliegen der Voraussetzung des § 3 Abs. 1 FLAG zu zweifeln. Da die Mitbeteiligte ab Oktober 2007 nichtselbständig beschäftigt gewesen sei, wie sich aus den Meldungen der Mitbeteiligten bei der Sozialversicherung ergebe, sei der bekämpfte Bescheid des Finanzamtes als rechtswidrig aufzuheben.
Dagegen richtet sich die nach § 292 BAO erhobene Beschwerde des Finanzamtes. Das Finanzamt weist darauf hin, dass das von der belangten Behörde herangezogene Abkommen zwischen der Republik Österreich und der türkischen Republik über soziale Sicherheit vom 2. Dezember 1982, BGBl. Nr. 91/1985, gekündigt worden sei. Schon deshalb könne ein Anspruch auf Familienbeihilfe nicht auf dieses Abkommen gestützt werden. Für den Streitzeitraum Oktober 2007 bis Februar 2008 sei ein Anspruch daher nicht gegeben.
Darüber hinaus habe es die belangte Behörde unterlassen, Erhebungen hinsichtlich des Sohnes B anzustellen, ob die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 lit. b FLAG erfüllt seien.
Weiters habe es die belangte Behörde unterlassen, hinsichtlich der Söhne der Mitbeteiligten B und Ba Erhebungen dahingehend anzustellen, ob sie den Mittelpunkt der Lebensinteressen im Sinne des § 2 Abs. 8 FLAG in Österreich hätten.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Gemäß § 2 Abs. 1 lit. a und b des Familienlastenausgleichsgesetzes - FLAG in der im Beschwerdefall noch maßgebenden Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 23/1999 hatten Personen, die im Bundesgebiet einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, Anspruch auf Familienbeihilfe einerseits für minderjährige Kinder und andererseits für volljährige Kinder, die das 26. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten und die für einen Beruf ausgebildet oder in einem erlernten Beruf in einer Fachschule fortgebildet wurden, wenn ihnen durch den Schulbesuch die Ausübung ihres Berufes nicht möglich war. Bei volljährigen Kindern, die eine in § 3 des Studienförderungsgesetzes 1992, BGBl. Nr. 305, genannte Einrichtung besuchten, war eine Berufsausbildung nur dann anzunehmen, wenn sie die vorgesehene Studienzeit pro Studienabschnitt um nicht mehr als ein Semester oder die vorgesehene Ausbildungszeit um nicht mehr als ein Ausbildungsjahr überschritten. Die Aufnahme als ordentlicher Hörer galt als Anspruchsvoraussetzung für das erste Studienjahr. Anspruch ab dem zweiten Studienjahr bestand nur dann, wenn für ein vorhergehendes Studienjahr die Ablegung einer Teilprüfung der ersten Diplomprüfung oder des ersten Rigorosums oder von Prüfungen aus Pflicht- und Wahlfächern des betriebenen Studiums im Gesamtumfang von acht Semesterwochenstunden nachgewiesen wurde.
Gemäß § 2 Abs. 8 FLAG haben Personen nur dann Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn sie den Mittelpunkt der Lebensinteressen im Bundesgebiet haben. Eine Person hat den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen in dem Staat, zu dem sie die engeren persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen hat.
Zur Frage des Mittelpunktes der Lebensinteressen im Sinn des § 2 Abs. 8 FLAG kommt es nach der hg. Rechtsprechung nicht darauf an, ob der Aufenthalt im Bundesgebiet ein ständiger ist (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 27. Jänner 2010, Zl. 2009/16/0124, mwN).
Bei verheirateten Personen, die einen gemeinsamen Haushalt führen, besteht die stärkste persönliche Beziehung in der Regel zu dem Ort, an dem sie mit ihrer Familie leben. Der Mittelpunkt der Lebensinteressen könnte auch dann in Österreich liegen, wenn die Absicht bestünde, Österreich nach einer gewissen Zeit wieder zu verlassen. Ein Zuzug für immer ist nicht erforderlich. Diese Annahme setzt allerdings im Regelfall die Führung eines gemeinsamen Haushaltes sowie das Fehlen ausschlaggebender und stärkerer Bindung zu einem anderen Ort, etwa aus beruflichen oder gesellschaftlichen Gründen, voraus (vgl. das hg. Erkenntnis vom 24. Juni 2010, Zl. 2009/16/0125, mwN).
Soweit das beschwerdeführende Finanzamt Feststellungen der belangten Behörde vermisst, welche die Beurteilung des Mittelpunktes der Lebensinteressen zweier Söhne der Mitbeteiligten erlaubten, geht diese Rüge schon deshalb ins Leere, weil § 2 Abs. 8 FLAG die Voraussetzung des Mittelpunktes der Lebensinteressen nur für die anspruchsberechtigte Person (im Beschwerdefall die Mitbeteiligte), nicht auch für deren Kind fordert.
Dass die belangte Behörde angesichts des mehrjährigen Aufenthaltes der Mitbeteiligten mit ihrer Familie in Österreich und der unselbständigen Erwerbstätigkeit der Mitbeteiligten und ihres Ehemannes in Österreich, in Verbindung mit dem Schulbesuch der Kinder der Mitbeteiligten in Österreich den Mittelpunkt der Lebensinteressen der Mitbeteiligten nicht in Österreich hätte annehmen dürfen, sondern eine ausschlaggebende und stärkere Bindung zu einem anderen Ort, etwa aus beruflichen oder gesellschaftlichen Gründen, bestanden hätte, zeigt das beschwerdeführende Finanzamt nicht auf.
Gemäß § 3 Abs. 1 FLAG haben Personen, die nicht österreichische Staatsbürger sind, nur dann Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn sie sich nach §§ 8 und 9 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005, rechtmäßig in Österreich aufhalten.
Dass der Mitbeteiligten für den Streitzeitraum kein Aufenthaltstitel nach § 8 NAG erteilt worden war und sie die Berechtigung ihres Aufenthaltes in Österreich auch nicht auf § 9 NAG stützen konnte, ist unbestritten. Die belangte Behörde gründet den Anspruch auf Familienbeihilfe jedoch auf das Abkommen zwischen der Republik Österreich und der türkischen Republik über soziale Sicherheit vom 2. Dezember 1982, BGBl. Nr. 91/1985.
Zu Recht trägt das beschwerdeführende Finanzamt vor, dass dieses Abkommen vom Bundespräsidenten im Namen der Republik Österreich zum 30. September 1996 für gekündigt erklärt wurde (BGBl. Nr. 349/1996).
Art. 39 des Protokolls vom 23. November 1970 zum Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der (damaligen) Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei vom 12. September 1963 (im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963, ABlEG 1964, Nr. 217) lautet:
"Art. 39 (1) Der Assoziationsrat erlässt vor dem Ende des ersten Jahres nach Inkrafttreten dieses Protokolls Bestimmungen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer türkischer Staatsangehörigkeit, die von einem Mitgliedstaat in einen anderen zu- oder abwandern, sowie für deren in der Gemeinschaft wohnende Familien.
(2) Diese Bestimmungen müssen ...
(3) Die genannten Bestimmungen müssen die Zahlung der Familienzulagen für den Fall sicherstellen, dass die Familie des Arbeitnehmers in der Gemeinschaft wohnhaft ist.
..."
Gestützt auf Art. 39 des Protokolls erließ der durch das Abkommen geschaffene Assoziationsrat am 19. September 1980 den Beschluss Nr. 3/80 (im Folgenden: ARB 3/80). Nach Art. 1 ARB 3/80 hat für die Anwendung dieses Beschlusses der Ausdruck Familienbeihilfen die Bedeutung, wie er in Art. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates definiert ist. Weiters bezeichnet der Ausdruck "Arbeitnehmer" u.a. jede Person, die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist.
Der ARB 3/80 gilt nach seinem Art. 2 für Arbeitnehmer, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, und die türkische Staatsangehörige sind, und für die Familienangehörigen dieser Arbeitnehmer, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen.
Art. 3 Abs. 1 ARB 3/80 lautet:
"Art. 3 Die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die dieser Beschluss gilt, haben die gleichen Rechte und Pflichten auf Grund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staats, soweit dieser Beschluss nichts anderes bestimmt."
Art. 4 Abs. 1 ARB 3/80 lautet:
"(1) Dieser Beschluss gilt für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die folgende Leistungsarten betreffen:
...
h) Familienleistungen."
Dem Art. 3 Abs. 1 ARB 3/80 kommt unmittelbare Wirkung in den Mitgliedstaaten zu, er ist somit unmittelbar anwendbar (vgl. mit näherer Begründung das Urteil des EuGH vom 4. Mai 1999 in der Rs. C-262/96 (Sema Sürül), und das Urteil des EuGH vom 29. April 2004 in der Rs. C-373/02 (Sakir Öztürk)).
Für den persönlichen Anwendungsbereich des ARB 3/80 ist es ohne Belang, ob der türkische Staatsangehörige als Wanderarbeitnehmer nach Österreich eingereist ist oder aus anderen Gründen (vgl. etwa zu einem Asylwerber das Urteil des OGH vom 4. Mai 2010, 10 ObS 168/09t).
Für den Verwaltungsgerichtshof ist es daher nicht zweifelhaft, dass die Mitbeteiligte, welche türkische Staatsangehörige ist und im Streitzeitraum in Österreich auf Grund ihrer nichtselbständigen Beschäftigung in der Sozialversicherung zumindest gegen ein Risiko pflichtversichert war, in den Anwendungsbereich des ARB 3/80 fällt (vgl. dazu auch das Urteil des OGH vom 17. März 2009, 10 Ob 14/09w).
Auf Grund der Gleichstellung mit österreichischen Staatsangehörigen durch den insoweit § 3 Abs. 1 FLAG verdrängenden Art. 3 Abs. 1 ARB 3/80 war der Anspruch der Mitbeteiligten auf Familienbeihilfe sohin dahingehend zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 lit. a oder b FLAG erfüllt waren.
Die beiden Söhne der Mitbeteiligten Bu und Ba waren im Streitzeitraum noch minderjährig und erfüllten daher die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 lit. a FLAG.
Die Beschwerde war daher, soweit sie die beiden Söhne der Mitbeteiligten Bu und Ba betrifft, gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.
Soweit allerdings der im Streitzeitraum volljährige Sohn der Mitbeteiligten B betroffen ist, rügt das beschwerdeführende Finanzamt zu Recht, dass die belangte Behörde keine Feststellungen getroffen hat, ob die in § 2 Abs. 1 lit. b FLAG normierten Voraussetzungen für ein Kind, das - wie dieser Sohn der Mitbeteiligten etwa - die Universität Wien besucht, erfüllt wären.
Der angefochtene Bescheid war daher, soweit er den Sohn der Mitbeteiligten B betrifft, gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Wien, am 22. Dezember 2011
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