VfGH E76/2019

VfGHE76/20197.10.2020

Aufhebung der angefochtenen Entscheidung im Anlassfall sowie Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit mangels Entscheidung binnen einer Woche über die Rechtsmäßigkeit des Freiheitsentzuges nach dem VerwaltungsvollstreckungsG mangels Mitwirkung bei der Erlangung eines Ersatzreisedokumentes

Normen

B-VG Art144 Abs1 / Anlassfall
PersFrSchG 1988 Art6 Abs1
VVG §5
VfGG §7 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VFGH:2020:E76.2019

 

Spruch:

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten und weiters im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) verletzt worden, weil die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der gemäß §5 Verwaltungsvollstreckungsgesetz 1991 verhängten Haft nicht binnen einer Woche erging.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) trug dem Beschwerdeführer, einem Staatsangehörigen Nepals, mehrfach mit Bescheid die Mitwirkung bei der Erlangung eines Ersatzreisedokumentes gemäß §46 Abs2a und 2b FPG unter Androhung der Verhängung einer Haftstrafe mit Bescheid auf und verhängte – da der Beschwerdeführer dieser Verpflichtung nicht nachgekommen ist – mit jeweils auf §5 VVG gestützten Bescheiden die angedrohten Haftstrafen (zwischen 14 und 28 Tagen).

Die gegen den Bescheid des BFA vom 2. August 2018, mit dem über den Beschwerdeführer die angedrohte Beugehaft gemäß §5 VVG verhängt wurde, erhobene Beschwerde brachte der seit 13. Juli 2018 in Beugehaft befindliche Beschwerdeführer am 13. August beim BFA per Telefax ein. Beim Bundesverwaltungsgericht langte die vom BFA vorgelegte Beschwerde am 17. August 2018 ein. Mit dem am 23. August 2018 mündlich verkündeten und am 28. November 2018 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem aus der Beugehaft vorgeführten Beschwerdeführer – als unbegründet ab.

2. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B‑VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere auch im Recht auf persönliche Freiheit, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Begründend wird dazu im Wesentlichen ausgeführt, die verhängte Beugehaft sei unverhältnismäßig.

Das BFA hat die Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Äußerung aber abgesehen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichtsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der es den Beschwerdebehauptungen mit näherer Begründung entgegentritt.

3. Aus Anlass der vorliegenden Beschwerde leitete der Verfassungsgerichtshof gemäß Art140 Abs1 Z1 litb B‑VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Wortfolge "oder durch Haft" in §5 Abs1 VVG, BGBl 53/1991 (WV), der Zeichen- und Wortfolgen ", an Haft die Dauer von vier Wochen" in §5 Abs3 VVG, BGBl 53/1991 (WV), idF BGBl I 137/2001 sowie des §6 Abs2 VVG, BGBl 53/1991 (WV). Mit Erkenntnis vom 7. Oktober 2020, G164/2020 ua, hob er die in Prüfung gezogenen Bestimmungen als verfassungswidrig auf.

II. Erwägungen

Die zulässige Beschwerde ist begründet:

1. Gemäß Art140 Abs7 B‑VG wirkt die Aufhebung eines Gesetzes auf den Anlassfall zurück. Es ist daher hinsichtlich des Anlassfalles so vorzugehen, als ob die als verfassungswidrig erkannte Norm bereits zum Zeitpunkt der Verwirklichung des der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichtes zugrunde gelegten Tatbestandes nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte.

Das Bundesverwaltungsgericht hat eine verfassungswidrige Gesetzesbestimmung angewendet. Es ist daher nach Lage des Falles offenkundig, dass ihre Anwendung für die Rechtsstellung des Beschwerdeführers nachteilig war.

Der Beschwerdeführer wurde also durch das angefochtene Erkenntnis wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in seinen Rechten verletzt (zB VfSlg 10.404/1985).

2. Zudem wurde der Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) verletzt:

2.1. Das durch Art1 ff. des Bundesverfassungsgesetzes über den Schutz der persönlichen Freiheit (im Folgenden: PersFrSchG) und durch Art5 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) ist ua dann verletzt, wenn die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Freiheitsentzuges entgegen dem verfassungsgesetzlich festgelegten Erfordernis des Art6 Abs1 letzter Satz PersFrSchG nicht binnen einer Woche ergangen ist (vgl zB VfSlg 19.968/2015, 20.119/2016; VfGH 8.6.2020, E3843/2019). Die Verpflichtung, innerhalb einer Woche zu entscheiden, folgt dabei unmittelbar aus Art6 Abs1 PersFrSchG (vgl VfSlg 19.968/2015).

Die gemäß Art6 Abs1 letzter Satz PersFrSchG gebotene Frist von einer Woche ist grundsätzlich ab dem Einlangen einer Beschwerde bei der zuständigen Behörde zu berechnen (vgl VfSlg 18.081/2007 mH auf Kopetzki, Art6 PersFrG, in: Korinek/Holoubek et al [Hrsg.], Bundesverfassungsrecht, 3. Lfg. 2000, Rz 46 ff. sowie insb. Rz 50, wonach der Fristenlauf im Falle eines antragsbedürftigen Verfahrens mit der Antragstellung bzw mit dem Einlangen des Antrages bei der zuständigen Behörde beginnt). Der Verfassungsgerichtshof hat in einschlägigen Zusammenhängen wiederholt darauf hingewiesen, dass der Verfassungsgesetzgeber unabhängig von behördeninternen Vorgängen eine einwöchige Frist als Obergrenze festgelegt hat (vgl VfSlg 18.081/2007, 18.964/2009). Dass gegebenenfalls Bestimmungen über die Vorlage der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht fehlen bzw das BFA nach den allgemeinen Bestimmungen über die Bescheidbeschwerde gemäß §14 VwGVG dazu ermächtigt wäre, innerhalb von zwei Monaten eine Beschwerdevorentscheidung zu treffen, ändert daran nichts (VfSlg 19.968/2015).

2.2. Art6 Abs1 letzter Satz PersFrSchG verlangt also auch im Rahmen eines Verfahrens über die Beschwerde gegen einen auf §5 VVG gestützten Bescheid – im Falle der Anhaltung des Beschwerdeführers – eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Freiheitsentzuges innerhalb einer Woche. Dieser Verpflichtung ist das Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht nachgekommen:

Gemäß §12 VwGVG sind Schriftsätze – außer in Rechtssachen gemäß Art130 Abs1 Z2 B‑VG – bis zur Vorlage der Beschwerde an das Verwaltungsgericht bei der belangten Behörde einzubringen. Dies gilt daher auch für die Bescheidbeschwerde. Abweichende Bestimmungen hinsichtlich der Einbringung von Bescheidbeschwerden gegen auf §5 VVG gestützte Vollstreckungsverfügungen bestehen nicht.

Wie sich aus dem angefochtenen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes und dem vorgelegten Verwaltungs- sowie Gerichtsakt ergibt, wurde im vorliegenden Fall die Beschwerde am 13. August 2018 per Telefax beim BFA eingebracht. Die vom BFA übermittelte Beschwerdevorlage langte am 17. August 2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Die Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht richtet sich im vorliegenden Fall gegen die bescheidmäßige Verhängung der Beugehaft durch das BFA, die Beschwerde war folglich gemäß §12 VwGVG beim BFA einzubringen. Damit begann die einwöchige Entscheidungsfrist des Art6 Abs1 letzter Satz PersFrSchG im vorliegenden Fall mit dem Einlangen der Beschwerde beim BFA, sohin am 13. August 2018, zu laufen, ist das BFA doch aus den genannten Gründen die aus Sicht des Art6 Abs1 letzter Satz PersFrSchG für die Beschwerdeeinbringung und damit den Beginn der Entscheidungsfrist maßgebliche Behörde. Das Bundesverwaltungsgericht verkündete das Erkenntnis mündlich jedoch erst am 23. August 2018 und damit – da sich der Beschwerdeführer weiterhin in Beugehaft befand – nicht in der verfassungsgesetzlich vorgegebenen einwöchigen Frist.

2.3. Der Beschwerdeführer wurde daher, weil die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes über die Rechtmäßigkeit der Anordnung des Freiheitsentzuges nicht binnen einer Woche erging, auch im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) verletzt.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in seinen Rechten und weiters im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

Stichworte