VfGH E2918/2016

VfGHE2918/201627.6.2018

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Abweisung des Antrags auf Berichtigung des Geschlechtseintrags im Zentralen Personenstandsregister

Normen

B-VG Art144 Abs1 / Anlassfall
EMRK Art8
PersonenstandsG 2013 §2 Abs2 Z3, §42

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VFGH:2018:E2918.2016

 

Spruch:

I. Die beschwerdeführende Partei ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der beschwerdeführenden Partei zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Mit Schreiben vom 7. März und 7. Mai 2016 beantragte die offen als "zwischengeschlechtliche" Person lebende beschwerdeführende Partei, deren Geschlechtsmerkmale bereits zum Zeitpunkt der Geburt uneindeutig waren, die sie betreffende Eintragung im Zentralen Personenstandsregister (im Folgenden: ZPR) gemäß §42 Abs1 und 3 des Personenstandsgesetzes 2013 (PStG 2013) dahingehend zu berichtigen, dass ihr – bisher auf "männlich" lautender – Geschlechtseintrag auf "inter", in eventu auf "anders", in eventu auf "X", in eventu auf "unbestimmt", in eventu auf einen mit diesen Begriffen sinngleichen Begriff zu lauten habe. In eventu beantragte sie die ersatzlose Streichung der sie betreffenden Geschlechtsangabe im ZPR.

Der Bürgermeister der Stadt Steyr gab diesem Antrag mit Bescheid vom 17. Mai 2016 keine Folge. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich mit Erkenntnis vom 5. Oktober 2016 als unbegründet ab. Es verneint mit näherer Begründung ein Recht der beschwerdeführenden Partei auf Eintragung einer Geschlechtsbezeichnung in das ZPR, die zum Ausdruck bringt, dass die beschwerdeführende Partei weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen ist.

2. In der dagegen gerichteten, auf Art144 B‑VG gestützten Beschwerde wird mit ausführlicher Begründung die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet, sowohl ein Gesetzesprüfungsverfahren hinsichtlich näher bezeichneter Bestimmungen des PStG 2013 als auch ein Vorabentscheidungsverfahren angeregt und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt. Die beschwerdeführende Partei sei weder männlich noch weiblich, sondern intergeschlechtlich. Sie habe daher beantragt, den derzeitigen Geschlechtseintrag ("männlich") zu berichtigen, weil er falsch sei. Unter anderem gestützt auf Rechtsprechung österreichischer und deutscher Höchstgerichte sowie des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, des Gerichtshofes der Europäischen Union und auf Stellungnahmen von Menschenrechtsorganisationen argumentiert die beschwerdeführende Partei insbesondere, dass ihr verfassungsrechtlich eine selbstbestimmte Geschlechtsidentität zustehe.

3. Die vor dem Landesverwaltungsgericht Oberösterreich belangte Verwaltungsbehörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Äußerung erstattet. Das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich hat die Gerichtsakten vorgelegt und unter Verweis auf die Ausführungen im angefochtenen Erkenntnis von einer Äußerung abgesehen.

Die beschwerdeführende Partei hat eine Gegenäußerung erstattet.

4. Aus Anlass der vorliegenden Beschwerde leitete der Verfassungsgerichtshof gemäß Art140 Abs1 Z1 litb B‑VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §2 Abs2 Z3 des Bundesgesetzes über die Regelung des Personenstandswesens (Personenstandsgesetz 2013 – PStG 2013), BGBl I 16/2013, ein. Mit Erkenntnis vom 15. Juni 2018, G77/2018, sprach er aus, dass diese Regelung nicht als verfassungswidrig aufgehoben wird, weil §2 Abs2 Z3 PStG 2013 einer den Vorgaben des Art8 EMRK in seiner Ausprägung als Recht auf individuelle Geschlechtsidentität Rechnung tragenden Auslegung zugänglich ist.

II. Rechtslage

Die maßgeblichen Bestimmungen des Bundesgesetzes über die Regelung des Personenstandswesens (Personenstandsgesetz 2013 – PStG 2013), BGBl I 16/2013 idF BGBl I 80/2014, lauten auszugsweise:

"1. HAUPTSTÜCK

ALLGEMEINER TEIL

1. Abschnitt

Allgemeines

Personenstand und Personenstandsfall

§1. (1) Personenstand im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die sich aus den Merkmalen des Familienrechts ergebende Stellung einer Person innerhalb der Rechtsordnung einschließlich ihres Namens.

(2) Personenstandsfälle sind Geburt, Eheschließung, Begründung einer eingetragenen Partnerschaft und Tod.

Personenstandsdaten

§2. (1) Personenstandsdaten einer Person sind:

1. allgemeine Personenstandsdaten (Daten zum Personenkern);

2. besondere Personenstandsdaten sowie

3. sonstige Personenstandsdaten.

(2) Allgemeine Personenstandsdaten sind:

[…]

3. Geschlecht;

[…]

2. HAUPTSTÜCK

PERSONENSTANDSFALL

1. Abschnitt

Geburt

[…]

Inhalt der Eintragung – Geburt

§11. (1) Über die allgemeinen und besonderen Personenstandsdaten des Kindes hinaus sind einzutragen:

[…]

3. HAUPTSTÜCK

EINTRAGUNG DES PERSONENSTANDSFALLES UND PERSONENSTANDSREGISTER

1. Abschnitt

Eintragung des Personenstandsfalles

Pflicht zur Eintragung

§35. (1) Jeder im Inland eingetretene Personenstandsfall sowie Änderungen, Ergänzungen und Berichtigungen des Personenstandes sind einzutragen.

[…]

Grundlage der Eintragung

§36. (1) Eintragungen sind auf Grund von Anzeigen, Anträgen, Erklärungen, Mitteilungen und von Amts wegen vorzunehmen. Diese Dokumente sind bei jener Behörde aufzubewahren, die die Amtshandlung führt.

(2) Vor der Eintragung ist der maßgebliche Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln. Ist dies im Wege des ZPR nicht möglich, sind hiezu Personenstandsur-kunden und andere geeignete Urkunden heranzuziehen. Eintragungen, die nicht auf Grundlage geeigneter Urkunden erfolgen, sind entsprechend zu kennzeichnen.

[…]

Abschluss der Eintragung

§40. (1) Die Eintragung ist ohne unnötigen Aufschub vorzunehmen. Ist eine vollständige Eintragung innerhalb angemessener Frist nicht möglich, ist sie unvollständig durchzuführen.

(2) Die Eintragung ist durch die Freigabe im ZPR abzuschließen.

(3) Die Eintragung zu den allgemeinen und besonderen Personenstandsdaten begründet vollen Beweis im Sinne des §292 Abs1 ZPO, soweit es sich nicht um die Staatsangehörigkeit handelt.

Änderung und Ergänzung

§41. (1) Die Personenstandsbehörde hat eine Eintragung zu ändern, wenn sie nach der Eintragung unrichtig geworden ist.

(2) Die Personenstandsbehörde hat eine unvollständige Eintragung zu ergänzen, sobald der vollständige Sachverhalt ermittelt worden ist.

Berichtigung

§42. (1) Eine Eintragung ist zu berichtigen, wenn sie bereits zur Zeit der Eintragung unrichtig gewesen ist.

(2) Die Berichtigung erfolgt durch jene Personenstandsbehörde, die die unrichtige Eintragung vorgenommen hat.

(3) Die Berichtigung kann auf Antrag oder unter Wahrung des rechtlichen Gehörs von Amts wegen vorgenommen werden.

(4) Offenkundige Schreibfehler kann jede Personenstandsbehörde auch ohne Einbindung des Betroffenen berichtigen.

(5) Jedwede Berichtigung ist dem Betroffenen mitzuteilen."

III. Erwägungen

Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

1. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist unter anderem dann verfassungswidrig, wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt vor, wenn das Verwaltungsgericht der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).

2. Ein solcher Fehler ist dem Landesverwaltungsgericht Oberösterreich unterlaufen:

2.1. Gemäß Art8 Abs1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens. Art8 EMRK stellt die menschliche Persönlichkeit in ihrer Identität, Individualität und Integrität unter Schutz und ist dabei auch auf den Schutz der unterschiedlichen Ausdrucksformen dieser menschlichen Persönlichkeit gerichtet (VfSlg 19.662/2012, 19.665/2012, 20.100/2016; EGMR 24.10.1993, Fall Guillot, Appl. 22.500/93 [Z21 f.]; 7.2.2002, Fall Mikulić, Appl. 53.176/99 [Z53 f.]; 11.7.2002 [GK], Fall Goodwin, Appl. 28.957/95 [Z90]; 12.6.2003, Fall Van Kück, Appl. 35.968/97 [Z69]). In den von Art8 EMRK geschützten persönlichen Bereich fällt auch die geschlechtliche Identität und Selbstbestimmung (siehe EGMR 6.4.2017, Fall A.P., Garçon und Nicot, Appl. 79.885/12, 52.471/13 und 52.596/13 [Z92 f. mwN]). Die geschlechtliche Identität bezieht sich dabei auf einen besonders sensiblen Bereich des Privatlebens einer Person (vgl. EGMR, Fall Van Kück, Z72).

2.2. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 15. Juni 2018, G77/2018, festgehalten hat, umfasst das Recht auf Privatleben in seiner Ausprägung als Recht auf eine selbstbestimmte Geschlechtsidentität auch, dass Personen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung gegenüber männlich oder weiblich berechtigt sind, eine alternative Geschlechtsidentität nach außen zu kommunizieren. Ausgehend davon hat der Verfassungsgerichtshof in diesem Erkenntnis §2 Abs2 Z3 PStG 2013 dahin ausgelegt, dass der Begriff "Geschlecht" nicht allein die traditionellen Geschlechtskategorien (männlich und weiblich) meint. Vielmehr ist der Geschlechtsbegriff dahingehend zu verstehen und auch verfassungskonform abgrenzbar, dass er – mangels anderweitiger Festlegung – diejenigen unterschiedlichen Bezeichnungsmöglichkeiten miteinschließt, die sich zur Benennung des in Rede stehenden Phänomens der Geschlechtsvariationen entwickelt haben (vgl. dazu die Stellungnahme der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt, Intersexualität und Transidentität, 28.11.2017, 36 und 53, abrufbar unter: https://www.bundeskanzleramt.gv.at/publikationen-bioethik ; vgl. auch BVerfG 10.10.2017, 1 BvR 2019/16, Rz 65).

2.3. Dies verkennt das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich, wenn es die von der beschwerdeführenden Partei begehrte Berichtigung ihres Geschlechtseintrags, obgleich sich die beantragte Geschlechtsangabe im Rahmen der zulässigen Bezeichnungen bewegt, deshalb verweigert, weil es dem PStG 2013 entgegen dem Recht auf selbstbestimmte Geschlechtsidentität nach Art8 Abs1 EMRK einen restriktiven Geschlechtsbegriff unterstellt, der allein auf eine binäre Geschlechtskategorisierung abstellt und es Personen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung gegenüber männlich oder weiblich, die sich, wie die beschwerdeführende Partei, auch nicht dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugehörig fühlen, verwehrt, ihre (alternative) Geschlechtsidentität zum Ausdruck zu bringen.

2.4. Das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich hat damit §2 Abs2 Z3 PStG 2013 einen mit Art8 Abs2 EMRK nicht zu vereinbarenden Inhalt unterstellt.

IV. Ergebnis

1. Die beschwerdeführende Partei ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Privat- und Familienleben gemäß Art8 EMRK verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil die beschwerdeführende Partei Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

Stichworte