BFH

BFHXI R 36/9521.3.1996

Amtlicher Leitsatz:

1. Die sogenannte Emmott'sche Fristenhemmung setzt voraus, daß die entsprechende Richtlinie nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt worden und die Geltendmachung des Anspruchs unzumutbar erschwert oder versperrt war.

2 Im Hinblick auf das EuGH-Urteil vom 5. Mai 1994 C-38/93 (EuGHE 1994, I-1679, BStBl II 1994, 548), demzufolge bei Geldspielgeräten der Teil der Spieleinsätze, der den an die Spieler ausgezahlten Gewinnen entspricht, nicht zur Bemessungsgrundlage gehört, kommt eine Änderung bereits bestandskräftiger Umsatzsteuer-Bescheide nicht in Betracht.

Normen

77/388 EG R
§ 177 AO

 

Tatbestand:

I.

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Automatenaufsteller. Für die Streitjahre 1990 bis 1992 reichte er beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) gemäß § 18 Abs. 3 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) Umsatzsteuererklärungen ein, die das FA erklärungsgemäß abrechnete. Nach einer Außenprüfung, die zu keiner Änderung führte, übersandte das FA dem Kläger eine Mitteilung gemäß § 202 der Abgabenordnung (AO 1977) und hob mit Bescheid vom 15. Dezember 1993 für die Veranlagungszeiträume 1990 bis 1992 den Vorbehalt der Nachprüfung auf.

Nachdem der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) mit Urteil vom 5. Mai 1994 C-38/93 (EuGHE 1994, I-1679, BStBl II 1994, 548) entschieden hatte, daß entgegen der Rechtsauffassung des Bundesfinanzhofs (BFH) bei Geldspielgeräten der Umsatz nicht nach den von den Spielern eingeworfenen Einsätzen, sondern nach den Nettoeinsätzen abzüglich der gesetzlich vorgeschriebenen Gewinnauszahlungen von 60 % zu bemessen sei, beantragte der Kläger mit Schriftsatz vom 15. Juni 1994 die Neufestsetzung der Umsatzsteuer. Das FA wies den Antrag zurück. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte im wesentlichen aus, daß die sog. "Emmott'sche Fristenhemmung" nur bestehe, wenn ein Mitgliedsstaat in evident sachwidriger Weise eine EG-Richtlinie nicht in nationales Recht umgesetzt habe, jedoch nicht bereits dann, wenn der Grund für die abweichende Beurteilung der Rechtslage nicht in der unvollständigen Richtlinienumsetzung, sondern - wie im Streitfall - in Bewertungsunterschieden bei der Auslegung einzelner Tatbestandsmerkmale liege. Das FG-Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1995, 1088 veröffentlicht.

Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung materiellen Rechts.

1. Die Umsatzsteuer-Bescheide seien nichtig. Nach § 10 UStG sei als Entgelt alles (abzüglich der Umsatzsteuer) anzusehen, was der Leistungsempfänger aufwende, um die Leistung zu erhalten; demgegenüber sei nach Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a, Abs. 3 Buchst. b der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) in die Besteuerungsgrundlage alles einzubeziehen, was den Wert der Gegenleistung bilde, die der Lieferer oder Dienstleistende für diese Umsätze vom Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger oder von einem Dritten erhalte oder erhalten solle. Weiter sei in Abs. 3 festgelegt, daß in die Besteuerungsgrundlage nicht die Rabatte und Rückvergütungen auf den Preis einzubeziehen seien, die dem Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger eingeräumt würden und die er zu dem Zeitpunkt erhalte, zu dem der Umsatz bewirkt werde. Das offenkundige Auseinanderfallen von deutscher Umsetzungsnorm und EG-Richtlinie erfülle durchaus die Voraussetzung des § 125 AO 1977.

2. Selbst wenn die Bescheide nicht nichtig wären, seien sie aber zu ändern. In Betracht komme § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977. Zwar qualifiziere der BFH Urteile nicht als rückwirkende Ereignisse. Diese Auffassung könne jedoch nicht ohne weiteres auf ein Urteil des EuGH übertragen werden. Das Urteil des EuGH entfalte Bindungswirkung; ansonsten würde der Zweck des Art. 177 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV), nämlich die Einheitlichkeit der Auslegung und der Anwendung des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen, vereitelt.

3. Darüber hinaus rechtfertige sich im Streitfall die Durchbrechung der Bestandskraft der Steuerbescheide durch die sog. Emmott'sche Fristenhemmung (EuGH-Urteil vom 25. Juli 1991 Rs. C-208/90, EuGHE 1991, I-4269, 4292), nach der sich ein Mitgliedstaat solange nicht auf den Ablauf nationaler Klagefristen berufen könne, wie er die Bestimmungen einer EG-Richtlinie nicht ordnungsgemäß in seine nationale Rechtsordnung umgesetzt habe. Die Emmott'sche Fristenhemmung sei auch auf Rechtsbehelfsfristen anzuwenden. Der vom FG vorgenommenen Differenzierung zwischen Nichtumsetzung und Falschumsetzung könne nicht gefolgt werden. Diese Differenzierung sei schon deshalb abzulehnen, weil sie dem Mitgliedstaat gestatte, sich auf seine angeblich fehlende Kenntnis von den konkreten Regelungszielen der nicht ordnungsgemäß umgesetzten EG-Richtlinie zu berufen. Angesichts der Unterschiede zwischen Richtlinie und deutscher Norm sei im Streitfall bereits von einer Nichtumsetzung der Richtlinie zu sprechen. In jedem Fall würde eine Beschränkung der Fristenhemmung dem der Sanktion zugrundeliegenden Rechtsgedanken, nämlich der Wahrung und Förderung der Einheitlichkeit des Rechts und der Rechtsanwendung europäischen Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten entgegenstehen.

Es sei fraglich, ob Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a Richtlinie 77/388/EWG überhaupt in das deutsche Recht umgesetzt worden sei. Der Wortlaut des § 10 Abs. 1 UStG sei gegenüber der Vorgängervorschrift (§ 10 Abs. 1 UStG 1973) nicht geändert worden. Auch sei fraglich, ob die Umsetzung einer EG-Richtlinie durch Verwaltungsvorschriften zulässig sei. Selbst wenn das der Fall wäre, seien die Verwaltungsvorschriften unverändert geblieben. Die fehlerhafte Umsetzung habe zur Folge, daß sich die Finanzverwaltung nicht auf die eingetretene Bestandskraft von Steuerfestsetzungen berufen könne. Die Grundsätze aus dem Emmott-Urteil seien entsprechend anzuwenden. Die Anlaufhemmung erstrecke sich nicht nur auf Klagefristen, sondern auch auf Rechtsbehelfsfristen sowie Festsetzungsverjährungsfristen. In den Fällen fehlerhafter Umsetzung von EG-Richtlinien sei der materiellen Rechtsrichtigkeit der Vorrang gegenüber der formellen Rechtssicherheit einzuräumen.

In dem Urteil vom 6. Juli 1995 C-62/93 "BP Soupergaz" (Internationales Steuerrecht - IStR - 1995, 385) nehme der EuGH, insbesondere in den Teilziffern 37 bis 42 zu der Rückwirkung europäischer Richtlinien auf im Widerspruch hierzu stehende nationale Rechtsvorschriften Stellung und stütze die dargelegte Rechtsauffassung.

Die Rechtsbehelfsfrist beginne erst mit der Veröffentlichung des am 26. Juli 1994 veröffentlichten Schreibens des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 5. Juli 1994 (BStBl I 1994, 465) zu laufen und ende - mangels Rechtsbehelfsbelehrung - erst binnen Jahresfrist am 26. Juli 1995, so daß die angefochtenen Bescheide antragsgemäß zu ändern seien. Im Hinblick auf dieses Schreiben werde vorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.

Da die Entscheidung, inwieweit die Grundsätze des Emmott-Urteils auch auf Fallkonstellationen wie die des Streitfalls anzuwenden seien, letztendlich eine Entscheidung über die Auslegung des EG-Rechts sei, werde angeregt, die Sache dem EuGH vorzulegen.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die in den angefochtenen Steuerbescheiden festgesetzte Umsatzsteuer um insgesamt ... DM herabzusetzen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen, und trägt im wesentlichen vor:

1. Ein schwerwiegender Fehler i. S. des § 125 AO 1977 sei nicht gegeben; auch könnten die Bescheide nicht nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 geändert werden. Bereits in dem Urteil vom 10. Juli 1980 Rs. 826/79 (EuGHE 1980, 2559, 2573) habe der EuGH festgestellt, daß dann, wenn eine gemeinschaftsrechtliche Bestimmung die Erhebung einzelstaatlicher Abgaben oder Gebühren verbiete, der Schutz der Rechte, die sich aus der unmittelbaren Wirkung dieses Verbots für die einzelnen ergäben, nicht unbedingt eine einheitliche, allen Mitgliedstaaten gemeinsame Regelung der formellen und materiellen Voraussetzungen verlange, von deren Erfüllung die Anfechtung oder die Zurückerlangung dieser staatlichen Abgaben abhängig sei. Mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung auf dem Gebiet der Anfechtung sei es Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung des jeweiligen Mitgliedsstaats, die Bestimmung der zuständigen Gerichte und die Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens vorzunehmen, das den Schutz der den einzelnen aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten solle.

2. Die Entscheidung in der Sache Emmott enthalte keinen Hinweis darauf, daß neben Klagefristen auch Rechtsbehelfsfristen im Verwaltungsverfahren gehemmt sein sollten. Weiterhin sei das die Emmott-Entscheidung tragende Argument der fehlenden Möglichkeit des Bürgers, von seinen Rechten Kenntnis zu erlangen, im vorliegenden Fall nicht gegeben. Die Richtlinie 77/388/EWG sei dem Kläger jederzeit zugänglich gewesen. Da es ihm jederzeit möglich gewesen sei, sich unmittelbar auf die ihn begünstigende Richtlinie 77/388/EWG zu berufen, bedürfe er zur Durchsetzung seines Rechts keiner Emmott'schen Fristenhemmung. Letztlich entscheidend dürfte aber sein, daß der deutsche Gesetzgeber bezüglich der Umsetzung der Richtlinie 77/388/EWG - anders als im Emmott-Fall - seiner Umsetzungspflicht nachgekommen sei. Da der EuGH in seiner Entscheidung vom 27. Oktober 1993 Rs. C-338/91 (EuGHE 1993, I-5475) nochmals klargestellt habe, daß ein Zurücktreten der Bestandskraft von Verwaltungsakten nur in Betracht komme, wenn ein Mitgliedstaat mit der ordnungsgemäßen Umsetzung von Gemeinschaftsrecht in seine Rechtsordnung säumig gewesen sei, bedürfe es bei dieser eindeutigen Rechtsprechung keiner nochmaligen Vorlage nach Art. 177 EGV.

3. Die Leitsätze 3 und 4 der Entscheidung in IStR 1995, 385 - BP Soupergaz - dürften nicht mit dem Vorbringen des Klägers in Einklang zu bringen sein. Für die Maßgeblichkeit der innerstaatlichen Verfahrensordnung könne gleichermaßen auf den Leitsatz 4 der Entscheidung Bezug genommen werden.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

1. Die Bescheide vom 15. Dezember 1993 sind nicht nichtig. Gemäß § 125 Abs. 1 AO 1977 ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Nach § 125 Abs. 2 AO 1977 ist ein Verwaltungsakt z. B. nichtig, der die erlassende Finanzbehörde nicht erkennen läßt, den aus tatsächlichen Gründen niemand befolgen kann, der die Begehung einer rechtswidrigen Tat verlangt oder der gegen die guten Sitten verstößt. Im Streitfall sind weder diese besonderen Tatbestände des Abs. 2 noch ist der allgemeine Tatbestand des Abs. 1 erfüllt. Der Bescheid ist zwar rechtswidrig; er entsprach aber zum Zeitpunkt seines Ergehens der nationalen Rechtsprechung (BFH-Urteil vom 29. Januar 1987 V R 53/76, BFHE 149, 295, BStBl II 1987, 516). Ein solcher Bescheid, dessen Rechtswidrigkeit allein auf der unterschiedlichen Auslegung einer Rechtsnorm beruht, ist nicht nichtig.

2. Die Bescheide vom 15. Dezember 1993 sind nicht zu ändern. Die Voraussetzungen einer Änderungsnorm, insbesondere die des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 liegen nicht vor. Nach dieser Vorschrift ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat. Solch ein Ereignis ist z. B. der Eintritt einer auflösenden Bedingung oder die Anfechtung eines Rechtsgeschäfts. Kein rückwirkendes Ereignis ist hingegen die Änderung der Rechtsprechung (so auch Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., Stand April 1994, § 175 AO 1977 Anm. 20); das gilt auch für Urteile des EuGH. Urteile wirken nur inter partes; sie wirken sich nicht auf bereits bestandskräftige Verwaltungsakte aus. Diese Beurteilung wird durch die Regelung des § 176 AO 1977 bestätigt. Nach dieser Regelung darf eine Änderung der Rechtsprechung in bestimmten Fällen nicht im Wege der Saldierung nachteilig zuungunsten des einzelnen Steuerpflichtigen berücksichtigt werden. Wäre die Änderung der Rechtsprechung ein rückwirkendes Ereignis, wäre diese Regelung nicht erforderlich.

3. Schließlich kann dem Kläger im Hinblick auf das EuGH-Urteil in EuGHE 1991, I-4269, 4292 (Emmott) die Bestandskraft der Bescheide entgegengehalten werden, so daß auch eine Änderung gemäß § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977 nicht in Betracht kommt.

a) Nach dieser Entscheidung ist es den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaates so lange untersagt, sich im Rahmen einer Klage, die ein Bürger vor den nationalen Gerichten zum Schutz der Rechte erhebt, die ihm durch Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit unmittelbar verliehen sind, auf nationale Verfahrensvorschriften über Klagefristen zu berufen, als dieser Mitgliedstaat die Richtlinie nicht ordnungsgemäß in seine interne Rechtsordnung umgesetzt hat. Die Anspruchstellerin war in einem sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren zunächst von den irischen Verwaltungsbehörden damit hingehalten worden, die Behörden könnten ihrem Anspruch vor einer Änderung der irischen Gesetze nicht stattgeben, so daß sie sich gedulden müsse. Nach der Anpassung der irischen Gesetze an die europarechtlichen Vorgaben berief sich die Verwaltung dann darauf, daß der Anspruch verjährt sei und nicht mehr gerichtlich geltend gemacht werden könne. Die Entscheidung des EuGH beruht damit im wesentlichen auf zwei Gründen, nämlich dem Umstand, daß die entsprechende Richtlinie nicht (ordnungsgemäß) in nationales Recht umgesetzt worden war, und dem Umstand, daß der Antragstellerin nach Umsetzung der Weg zum Gericht versperrt war.

Ergänzt wird diese Entscheidung durch das Urteil in IStR 1995, 385 - BP Soupergaz -. Danach kann ein Steuerpflichtiger mit Rückwirkung auf den Tag des Inkrafttretens der im Widerspruch zur Richtlinie 77/388/EWG stehenden nationalen Rechtsvorschriften die Erstattung der ohne Rechtsgrund gezahlten Mehrwertsteuer nach den in der innerstaatlichen Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats festgelegten Verfahrensmodalitäten verlangen, sofern diese Modalitäten nicht ungünstiger sind als für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen, und nicht so ausgestaltet sind, daß sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen. Von den gleichen Grundsätzen geht der EuGH in der Entscheidung vom 14. Dezember 1995 Rs. C-312/93 - Peterbroeck, van Campenhout e. Cie SCC/Belgischer Staat - (IStR 1996, 94) aus, in der es u. a. heißt: Für die Gewährleistung des Rechtsschutzes, der sich für die einzelnen aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts ergibt, sind die nationalen Gerichte zuständig. Die Bestimmung der zuständigen Gerichte und die Ausgestaltung des nationalen Verfahrens, die den Schutz der Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, sind mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung auf diesem Gebiet Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten. Jedoch dürfen diese Verfahren nicht ungünstiger gestaltet werden als bei entsprechenden Klagen, die nur innerstaatliches Recht betreffen, und sie dürfen die Ausübung der durch die Gemeinschaftsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren.

b) Im Streitfall sind die Voraussetzungen, an die der EuGH die sog. Emmott'sche Fristenhemmung knüpft, nicht gegeben. Auf der Grundlage der angeführten EuGH-Entscheidungen (vgl. dazu auch Rainer, IStR 1995, 388) ist zu unterscheiden zwischen der Nichtumsetzung einer Steuerrichtlinie und einer richtlinienwidrigen Auslegung und Anwendung umgesetzter Richtlinien durch Behörden und Gerichte (so auch Reiß, Steuer und Wirtschaft - StuW - 1994, 323, 330). Im Fall der nicht ordnungsgemäßen Umsetzung einer Richtlinie, wie im Fall Emmott, kommt - unter bestimmten Voraussetzungen - als Sanktion eine Fristenhemmung in Betracht. Im Fall einer richtlinienwidrigen Auslegung und Anwendung umgesetzter Vorschriften durch Behörden und Gerichte ist hingegen (wie im Fall BP Soupergaz) eine mögliche Erstattung zu Unrecht entrichteter Steuern - wiederum unter weiteren Voraussetzungen - nach den nationalen Verfahrensbestimmungen zu beurteilen. Zu diesen Verfahrensbestimmungen gehören auch die Regeln über die Änderung von Steuerbescheiden und die Regeln über die Bestandskraft.

Der deutsche Gesetzgeber hat Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 Buchst. b Richtlinie 77/388/EWG in § 10 Abs. 1 UStG 1980 umgesetzt. Entgegen der Auffassung des Klägers ist unbeachtlich, daß eine vergleichbare Regelung bereits im UStG 1973 enthalten war. Entscheidend ist allein die objektive Übereinstimmung von Richtlinie und nationalem Gesetz. Mit dem Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar war nach dem EuGH-Urteil in EuGHE 1994, I-1679, BStBl II 1994, 548 im Ergebnis allein die Auslegung und Anwendung des § 10 Abs. 1 UStG durch die Rechtsprechung (vgl. BFH-Urteil in BFHE 149, 295, BStBl II 1987, 516) und die Verwaltung (BMF-Schreiben in BStBl I 1991, 538).

Dem Kläger war der Weg zum Gericht nicht versperrt; er hatte die Möglichkeit, die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des § 10 Abs. 1 UStG 1980/1991 vor den Verwaltungsbehörden und den Gerichten nach den nationalen Verfahrensbestimmungen geltend zu machen.

4. Eine Vorlage an den EuGH gemäß Art. 177 EGV ist nicht geboten; die Voraussetzungen, unter denen eine Fristenhemmung in Betracht kommt, sind zweifelsfrei geklärt (vgl. Borchardt in Lenz, Kommentar zum EGV, 1994, Art. 177 Rz. 29ff.).

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