Normen
§ 169 Abs. 1 S. 1 AO 1977
§ 174 Abs. 4 AO 1977
§ 2 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a, b KVStG 1972
Tatbestand:
I.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist eine inländische GmbH & Co. KG, an der in den Jahren 1976 bis 1979 eine GmbH als persönlich haftende Gesellschafterin und die Eheleute E als Kommanditisten beteiligt waren.
Nach § 5 Abs. 1 des Gesellschaftsvertrages der Klägerin sollte die Einlage der Kommanditisten auf einem festen Kapitalkonto geführt werden. Daneben sollte für jeden Gesellschafter ein Darlehenskonto eingerichtet werden. Auf diesen sollte das die Kommanditeinlagen übersteigende Kapital laut Eröffnungsbilanz vom 1. Januar 1966 gutgebracht werden. Außerdem sollten auf dem Darlehenskonto Forderungen der Gesellschafter gegen die Klägerin, entstandene Gewinne, Verluste, Entnahmen und Einlagen verbucht werden. Eine Kündigung der Darlehenskonten war ausgeschlossen. Die Kommanditisten sollten jedoch im Konkurs- oder Vergleichsfall der Klägerin oder der Komplementär-GmbH berechtigt sein, ihre Guthaben auf den Darlehenskonten einzufordern. Die Guthaben sollten verzinst werden.
Zu den Bilanzstichtagen 31. Dezember 1975 bis 31. Dezember 1979 wiesen die Darlehenskonten der Eheleute E folgende Bestände auf:
Ehemann Ehefrau
DM DM
31. Dezember 1975 122 794 173 654
31. Dezember 1976 119 348 79 970
31. Dezember 1977 46 806 302 255
31. Dezember 1978 64 503 ./. 37 254
31. Dezember 1979 182 203 194 635
Abweichend von dem Gesellschaftsvertrag wurden jedoch die Guthaben auf den Darlehenskonten nicht verzinst.
In den Beständen per 31. Dezember 1977 sind Gutschriften in Höhe von 73 200 DM bzw. 57 210 DM enthalten. Die Gutschrift von 73 200 DM betrifft die Zuführung von geerbtem Geld zum Ausgleich vorangegangener Entnahmen durch den Ehemann. Die andere Gutschrift betrifft in Höhe von 56 800 DM den Ausgleich vorangegangener Entnahmen durch die Ehefrau.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) behandelte ursprünglich die auf den Darlehenskonten ausgewiesenen Beträge als individualisierte Gesellschafterforderungen. Entsprechend sah er in dem Verzicht auf Verzinsung der Darlehensforderungen einen gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b des Kapitalverkehrsteuergesetzes (KVStG) 1972 gesellschaftsteuerpflichtigen Vorgang. Der Steuerbescheid vom 11. September 1981 wurde jedoch durch Urteil des Finanzgerichts (FG) Köln vom 11. Dezember 1985 aufgehoben. Das FG ging in seinen Entscheidungsgründen davon aus, daß es sich bei den auf den Darlehenskonten verbuchten Beträgen um gesamthänderisch gebundene Gesellschaftsmittel handelte.
Das FA erließ am 2. April 1986 einen Gesellschaftsteuerbescheid, in dem es unter Hinweis auf das FG-Urteil vom 11. Dezember 1985 die o. g. Gutschriften in Höhe von insgesamt 130 410 DM als Zuschüsse gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a KVStG 1972 der Gesellschaftsteuer unterwarf. Die Klägerin legte erfolglos Einspruch ein. Das FG gab der Klage statt.
Mit seiner vom FG zugelassenen Revision rügt das FA die Verletzung des § 174 Abs. 4 der Abgabenordnung (AO 1977) und des § 2 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a KVStG 1972.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Sie war deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Das FG hat der Klage der Klägerin zu Recht stattgegeben.
1. Das FA erließ am 2. April 1986 einen Gesellschaftsteuerbescheid als Erstbescheid. Der Bescheid betraf Lebensvorgänge, die im Jahre 1977 verwirklicht wurden. Sollten die Lebensvorgänge, was für die Entscheidung über den Streitfall unentschieden bleiben kann, gesellschaftsteuerpflichtig sein, so hätte die Klägerin die Rechtsvorgänge beim FA anmelden müssen (§ 4 der Kapitalverkehrsteuer-Durchführungsverordnung - KVStDV -). Auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des FG, die den erkennenden Senat binden (§ 118 Abs. 2 FGO), wurden die Rechtsvorgänge beim FA nicht angemeldet. Deshalb begann die Festsetzungsfrist erst mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgte, in dem die Steuer entstand (§ 170 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977). Die Gesellschaftsteuer entstand (was hier unterstellt wird) im Kalenderjahr 1977 (§ 38 AO 1977). Deshalb begann die Festsetzungsfrist mit Ablauf des 31. Dezember 1980. Sie betrug vier Jahre (§ 169 Abs. 2 Nr. 2 AO 1977) und lief am 31. Dezember 1984 ab. Die Anfechtung des Bescheides vom 2. April 1986 konnte deshalb keine Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist mehr bewirken (§ 171 Abs. 3 Satz 2 AO 1977).
2. Etwas anderes gilt auch nicht mit Rücksicht auf § 174 Abs. 4 Satz 3 AO 1977. Zwar ist der Ablauf der Festsetzungsfrist nach dieser Vorschrift unbeachtlich. Dies gilt jedoch nur dann, wenn die Voraussetzungen des § 174 Abs. 4 Sätze 1 oder 2 AO 1977 erfüllt sind, d. h. wenn aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhaltes ein Steuerbescheid ergangen ist, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde oder durch das FG aufgehoben oder geändert wird, und aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlaß oder Änderung eines Steuerbescheides die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall nicht erfüllt.
Unter einem bestimmten Sachverhalt i. S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 ist der einzelne Lebensvorgang zu verstehen, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft (vgl. Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 6. Dezember 1979 IV B 56/79, BFHE 130, 1, BStBl II 1980, 314; BFH-Urteile vom 9. Mai 1984 II R 108/83, BFHE 141, 118, BStBl II 1984, 593; vom 13. Dezember 1984 V R 47/80, BFHE 143, 9, BStBl II 1985, 282; vom 24. November 1987 IX R 158/83, BFHE 152, 203, BStBl II 1988, 404; vom 6. März 1990 VIII R 28/84, BFHE 160, 140, BStBl II 1990, 558; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 174 AO 1977 RdNr. 2; Förster in Koch, Abgabenordnung, 3. Aufl., § 174 Anm. 3/1; Woerner/Grube, Die Aufhebung und Änderung von Steuerverwaltungsakten, 8. Aufl., S. 109; Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 4. Aufl., § 174 RdNr. 3). Bezogen auf die Gesellschaftsteuer als eine Rechtsverkehrsteuer ist deshalb Sachverhalt, an den das KVStG 1972 steuerliche Folgen knüpft, jede einzelne Form der Eigenkapitalzuführung durch die Gesellschafter an die inländische Kapitalgesellschaft in tatsächlicher Hinsicht. So gesehen lag dem Steuerbescheid vom 11. September 1981 der (angebliche) Verzicht der Kommanditisten der Klägerin auf ihnen zustehende Zinsen (Leistung i. S. des § 2 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b KVStG 1972) als Sachverhalt zugrunde. Selbst wenn man unterstellt, daß das FA diesen Sachverhalt irrig beurteilte, so beruht der Bescheid vom 2. April 1986 nicht auf der richtigen Folgerung i. S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977, die aus diesem Sachverhalt nachträglich gezogen wurde. Die richtige Folgerung des FA betrifft vielmehr einen anderen Sachverhalt, nämlich den eines Zuschusses i. S. des § 2 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a KVStG 1972 in tatsächlicher Hinsicht. Der Forderungsverzicht i. S. des § 2 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b KVStG 1972 und der Zuschuß i. S. des § 2 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a KVStG 1972 sind zwei verschiedene Sachverhalte, weil es sich in tatsächlicher Hinsicht um zwei verschiedene Formen der Eigenkapitalzuführung handelt, die sich tatbestandsmäßig nicht überschneiden.
3. Die Beurteilung der sog. Darlehenskonten der Kommanditisten als gesamthänderisch gebundene Gesellschaftsmittel bzw. als individualisierte Gesellschafterforderungen ist zwar Teil beider Sachverhalte. Deshalb löst die irrige Beurteilung des Forderungsverzichts i. S. des § 2 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b KVStG 1972 jedoch noch nicht die Annahme eines Zuschusses i. S. des § 2 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a KVStG 1972 aus. Letztere Folgerung kann erst gezogen werden, wenn der irrig beurteilte Sachverhalt um die Tatsache ergänzt wird, daß die Gesellschafter im Jahre 1977 freiwillige Zahlungen leisteten. § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 erlaubt jedoch eine solche Sachverhaltsergänzung nicht. Die Vorschrift findet nur Anwendung, wenn aus dem Sachverhalt, der der irrigen Beurteilung zugrunde lag, andere steuerliche Folgerungen gezogen werden können und müssen. Der irrigen Beurteilung unterlag aber nur der (angeblich) in den Jahren 1976 bis 1979 ausgesprochene Forderungsverzicht der Kommanditisten. Daraus ergibt sich nicht der (angeblich) im Jahr 1977 geleistete Zuschuß.
4. Die Ausführungen des FA zum Zusammentreffen von Haupt-, Neben- und Ersatztatbeständen der Gesellschaftsteuer liegen neben der Sache. Die angeschnittene Problematik betrifft das Verhältnis verschiedener Besteuerungstatbestände des KVStG 1972 zueinander. Darum geht es im Streitfall nicht. Im Streitfall ist nur der Sachverhaltsbegriff i. S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 zu bestimmen. Es kommt hinzu, daß im Streitfall nur zwei sog. Nebentatbestände i. S. des § 2 Abs. 1 Nr. 4 KVStG 1972 voneinander abzugrenzen sind. Diese Nebentatbestände mögen in rechtlicher Hinsicht miteinander vergleichbar sein. Ihnen liegt deshalb jedoch in tatsächlicher Hinsicht kein einheitlicher Sachverhalt zugrunde.
5. Der Senat folgt auch nicht der Auffassung des FA, § 174 Abs. 4 AO 1977 müsse im Interesse der materiellen Gerechtigkeit extensiv und ggf. analog ausgelegt werden. Dem steht der in § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 aufgestellte Grundsatz entgegen. Danach ist eine Steuerfestsetzung nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Die Unbeachtlichkeit des Ablaufs der Festsetzungsfrist gemäß § 174 Abs. 4 Satz 3 AO 1977 ist gegenüber dem Grundsatz des § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 die Ausnahme. Sie kann nur unter den Voraussetzungen eingreifen, die in der Vorschrift ausdrücklich genannt sind.