BFG RV/6200003/2016

BFGRV/6200003/201620.12.2017

Einreihung von Aprikosenpüreekonzentrat; keine nachträgliche buchmäßige Erfassung wegen Anwendung der Vertrauensschutzregelung des Artikels 220 Absatz 2 Buchstabe b) Unterabsatz 1 ZK

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BFG:2017:RV.6200003.2016

 

Beachte:
Revision eingebracht (Amtsrevision). Beim VwGH anhängig zur Zahl Ra 2018/16/0024. Zurückweisung mit Beschluss vom 10.4.2018.

Entscheidungstext

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter R in den Beschwerdesachen Bf, Adresse1, über die als Beschwerden geltenden Berufungen vom 26.7.2012 und vom 25.9.2012 gegen die Bescheide des Zollamtes Klagenfurt Villach vom 4.7.2012, Zahl: 420000/00000/2012a, und vom 11.9.2012, Zahl: 420000/00000/2012b, betreffend nachträgliche buchmäßige Erfassung gemäß Artikel 220 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (Zollkodex - ZK) und Vorschreibung einer Abgabenerhöhung gemäß § 108 Zollrechts-Durchführungsgesetz (ZollR-DG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt: 

Den Beschwerden wird gemäß § 279 BAO Folge gegeben.

Gemäß Artikel 220 Absatz 2 Buchstabe b) Unterabsatz 1 ZK erfolgt keine nachträgliche buchmäßige Erfassung.

Gegen dieses Erkenntnis ist eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) nicht zulässig.

Entscheidungsgründe

Zwischen 3.3.2010 und 30.11.2011 (jeweils Annahmedatum) meldete ein Speditionsunternehmen in direkter Vertretung des Beschwerdeführers (nachstehend mit "Bf" bezeichnet) beim Zollamt Klagenfurt Villach mit insgesamt zehn Warenanmeldungen Aprikosenpüreekonzentrat aus China unter der Warennummer 2008 5092 20 (Zollsatz: 10,10%) zum Zollverfahren Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr an. Im Rahmen der Abfertigungen fanden in vier Fällen Dokumentenkontrollen statt, die zu keinen abweichenden Feststellungen geführt haben.
Zwecks Überprüfung einer später angenommenen Zollanmeldung hat das Zollamt am 11.5.2012 eine Zollbeschau vorgenommen, dabei ein Muster von Aprikosenpüreekonzentrat gleicher Beschaffenheit entnommen und eine Analyse durch die Technische Untersuchungsanstalt (TUA) des Bundes veranlasst. Diese hat mit ETOS-Untersuchungsbefund 0000/2012 vorgeschlagen, die untersuchte Ware in die Position 2007 9950 90 (Präferenzzollsatz: 20,50% + € 4,20/100kg) einzureihen.
In der Folge hat die Abgabenbehörde die ursprünglichen buchmäßigen Erfassungen in den zehn oa Fällen "berichtig" und mit den Bescheiden vom 4.7.2012, Zahl: 420000/00000/2012a, und vom 11.9.2012, Zahl: 420000/00000/2012b, Differenzbeträge an Zoll sowie eine Abgabenerhöhung gemäß § 108 Abs. 1 ZollR-DG zur Entrichtung vorgeschrieben.

Dagegen brachte der Bf mit Schreiben vom 26.7.2012 und vom 25.9.2012 form- und fristgerecht Berufungen ein. Begründend wird darin ausgeführt, zum Zeitpunkt der erfolgten Abfertigungen wäre die beantragte Zolltarifnummer im Hinblick auf die Erläuterungen zur Kombinierten Nomenklatur (KN) richtig angewendet worden.

Die Berufungen hatten nur teilweise Erfolg; mit Berufungsvorentscheidungen vom 12.10.2012, Zahl: 420000/00000/2012c, und vom 6.11.2012, Zahl: 420000/00000/2012d, wurde die Abgabenerhöhung zur Gänze gutgeschrieben. Im Übrigen wurden die Berufungen mit Hinweis auf die Allgemeinen Vorschriften (AV) für die Auslegung der KN und den oa Untersuchungsbefund der TUA als unbegründet abgewiesen.

In den dagegen erhobenen Beschwerden an den unabhängigen Finanzsenat (UFS) macht der Bf im Wesentlichen geltend, die Einreihung des in Rede stehenden Aprikosenpüreekonzentrats in die Warennummer 2007 9950 90 sei erst nach dem 2.6.2012 zulässig, weil zu diesem Zeitpunkt ein irreführender Absatz bei Code 2007 der von der Europäischen Kommission erlassenen Erläuterungen zur KN gestrichen worden sei, der bezüglich Fruchtpürees auf den Code 2008 verwiesen habe. Darüber hinaus begehrt der Bf ein Absehen von der nachträglichen buchmäßigen Erfassung wegen eines Irrtums der Zollbehörden und beantragt abschließend die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

Nach antragsgemäßer Durchführung der mündlichen Verhandlung am 24.10.2013 hat der UFS den Beschwerden unter Hinweis auf die Vertrauensschutzregelung des Artikels 220 Absatz 2 Buchstabe b) Unterabsatz 1 ZK Folge gegeben.
Die betreffenden Berufungsentscheidungen des UFS vom 12.11.2013, GZ. ZRV/0247-Z3K/12, und vom 13.11.2013, GZ. ZRV/0248-Z3K/12, sind vom Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 14.12.2015, 2013/16/0234 bis 0235, wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben worden. Durch die Aufhebung der angefochtenen Bescheide treten die Rechtssachen in die Lage zurück, in der sie sich vor Erlassung der angefochtenen Bescheide befunden haben. 

Die am 31.12.2013 bei dem unabhängigen Finanzsenat als Abgabenbehörde zweiter Instanz anhängigen Berufungen und Devolutionsanträge sind gemäß § 323 Abs. 38 erster Satz BAO vom Bundesfinanzgericht (BFG) als Beschwerden im Sinn des Art. 130 Abs. 1 B-VG zu erledigen.
Die Berufungen vom 26.7.2012 und vom 25.9.2012 gelten somit als Beschwerden, die Beschwerden gegen die oa Berufungsvorentscheidungen als Vorlageanträge.

Auf Antrag des Bf hat das BFG in der Folge umfangreiche ergänzende Ermittlungen durchgeführt und Zeugen einvernommen. Am 3.11.2017 fand über die Beschwerden gemäß § 274 BAO eine mündliche Verhandlung vor dem BFG statt.

 

Über die Beschwerden wurde erwogen:

I. Zur zolltariflichen Einreihung von Aprikosenpüreekonzentrat:

Nach Artikel 12 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl L 1987/256, 1) veröffentlicht die Europäische Kommission jährlich in Form einer Verordnung die vollständige Fassung der KN zusammen mit den Zollsätzen, wie sie sich aus den vom Rat der Europäischen Union oder von der Kommission beschlossenen Maßnahmen ergeben. Diese Verordnung gilt jeweils ab 1. Jänner des Folgejahres.
Die in der vorliegenden Rechtssache anwendbaren Fassungen der KN sind:

Die Überschrift zu Position 2007 lautet in beiden Verordnungen:

"Konfitüren, Fruchtgelees, Marmeladen, Fruchtmuse und Fruchtpasten, durch Kochen hergestellt, auch mit Zusatz von Zucker oder anderen Süßmitteln:"

Die Überschrift zu Position 2008 lautet jeweils:

"Früchte, Nüsse und andere genießbare Pflanzenteile, in anderer Weise zubereitet oder haltbar gemacht, auch mit Zusatz von Zucker, anderen Süßmitteln oder Alkohol, anderweit weder genannt noch inbegriffen:"

Nach der AV 1 für die Auslegung der Kombinierten Nomenklatur sind die Überschriften der Abschnitte, Kapitel und Teilkapitel nur Hinweise. Maßgebend für die Einreihung sind der Wortlaut der Positionen und der Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln und - soweit in den Positionen oder in den Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln nichts anderes bestimmt ist - die nachstehenden Allgemeinen Vorschriften.
Nach der AV 6 sind maßgebend für die Einreihung von Waren in die Unterpositionen einer Position der Wortlaut dieser Unterpositionen, die Anmerkungen zu den Unterpositionen und - sinngemäß - die vorstehenden Allgemeinen Vorschriften. Einander vergleichbar sind dabei nur Unterpositionen der gleichen Gliederungsstufe. Soweit nichts anderes bestimmt ist, gelten bei Anwendung dieser Allgemeinen Vorschrift auch die Anmerkungen zu den Abschnitten und Kapiteln.

Ausgehend von diesen AV ist zunächst festzustellen, dass die in Position 2008 erfassten Waren (Früchte, Nüsse und andere genießbare Pflanzenteile) bereits in den vorstehenden Positionen genannt sind. Wesentliches Kriterium für die Einreihung von Zubereitungen in die Position 2008 ist, dass diese in anderer Weise zubereitet oder haltbar gemacht sind als in den vorstehend genannten Positionen des Kapitels 20, und anderweit weder genannt noch inbegriffen sind.
Es handelt sich bei der Position 2008 demnach um eine so genannte Auffangposition.

Wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen den Positionen 2007 und 2008 ist die Art der Herstellung, insbesondere das Kriterium "durch Kochen hergestellt".

Bereits im Jahr 1989 hat der Bundesfinanzhof dem Europäischen Gerichtshof im Zusammenhang mit einem Rechtsstreit über die Tarifierung eines Aprikosenpürees, das einem Konzentrierungsprozess unter Vakuum unterzogen worden war, folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

"1) Ist der Gemeinsame Zolltarif (1984) dahin auszulegen, dass ein durch Siebpressung des Fruchtfleisches gewonnenes, in einem Konzentrierer unter Vakuum für maximal 30 Sekunden auf den Siedepunkt gebrachtes Aprikosenpüree als durch Kochen hergestelltes Fruchtmus der Tarifstelle 2005 C zuzuweisen ist?

2) Bei Verneinung der Frage 1:
Ergibt die zolltarifliche Auslegung, dass Erzeugnisse der vorbezeichneten Art als "Früchte, in anderer Weise zubereitet oder haltbar gemacht", der Tarifstelle 2006 B zuzuweisen sind?

3) Bei Verneinung der Frage 2:
Welcher anderen Tarifnummer ist die Ware zuzuweisen."

Mit Urteil vom 18.04.1991, Nordgetränke, C-324/89, hat der Gerichtshof auf die ihm vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

"1) Der Gemeinsame Zolltarif ist dahin auszulegen, dass ein durch Siebpressung des Fruchtfleisches gewonnenes, in einem Konzentrierer unter Vakuum für maximal 30 Sekunden auf den Siedepunkt gebrachtes Aprikosenpüree nicht als durch Kochen hergestelltes Fruchtmus der Tarifnummer 2005 zuzuweisen ist.

2) Die Auslegung des Gemeinsamen Zolltarifs ergibt, dass die bezeichneten Erzeugnisse als "Früchte, in anderer Weise zubereitet oder haltbar gemacht", der Tarifnummer 2006 zuzuweisen sind."

Auf Grund dieses Urteils wurde in die Erläuterungen zur KN der Europäischen Union bei der Warennummer 2007 ein Absatz 3 mit folgendem Wortlaut einfügt:

"Nicht hierher gehören durch Siebpressung des Fruchtfleisches gewonnene und unter Vakuum auf den Siedepunkt gebrachte Fruchtpürees, deren geschmackliche und chemische Eigenschaften durch die thermische Behandlung nicht geändert worden sind (Position 2008)."

Die Erläuterungen sind - mit Ausnahme der rechtlich unmittelbar verbindlichen EWG-Verordnungen (zB Einzelentscheidungen der Europäischen Gemeinschaften) - Verwaltungsanweisungen für die Zollverwaltung. Sie sind ein wichtiges Hilfsmittel, um eine einheitliche Anwendung der Nomenklatur durch die Zollbehörden der Mitgliedstaaten der EU zu gewährleisten und sind deshalb als Erkenntnismittel für die einheitliche Auslegung des Zolltarifs anzusehen.
In der Praxis sind die vom BMF herausgegebenen Erläuterungen zur KN als Teil des Elektronischen Zolltarifs für die ihm unterstellten Zollbehörden bindend, da es sich dabei um eine Dienstanweisung handelt (vgl Witte/Alexander, Zollkodex6 Art 20 Rz 28).

Zum 1.1.2002 wurde die Anmerkung 5 zu Kapitel 20 eingeführt, die lautet:

"Für die Anwendung der Position 2007 bedeutet der Begriff ,durch Kochen hergestellt', dass die Viskosität des Erzeugnisses durch Verringern des Wassergehalts mittels Hitzebehandlung unter atmosphärischem oder vermindertem Druck oder mittels anderer Verfahren erhöht wurde."

In der (eindeutiger formulierten) englischen Sprachfassung lautet die betreffende Kapitelanmerkung:

"For the purposes of heading 2007, the expression 'obtained by cooking' means obtained by heat treatment at atmospheric pressure or under reduced pressure to increase the viscosity of a product through reduction of water content or other means."

Im Unterschied zum Urteil des EuGH, in dem noch darauf abgestellt wird, dass "der Begriff des Kochens nämlich solchen Wärmebehandlungen vorzubehalten ist, die eine Umwandlung der geschmacklichen und chemischen Eigenschaften des Erzeugnisses bewirken", ist maßgebliches Kriterium nun also die (physikalische) Viskositätserhöhung.
Demnach gehören auch nicht gekochte, sondern lediglich erhitzte Fruchterzeugnisse in die Position 2007, wenn sie thermisch behandelt werden und dies zu einer Erhöhung der Viskosität führt, auch wenn die Reduktion des Wassergehalts nicht der eigentliche Zweck der Hitzebehandlung ist, sondern die Behandlung zum Beispiel nur dazu dient, die Erzeugnisse besser transportieren zu können. 

Das Bundesverwaltungsgericht in der Schweiz, das sich in einem Rechtsstreit zwischen der Oberzolldirektion (OZD) in Bern und einem Importeur von Apfelmus mit der Auslegung der Anmerkung 5 zu Kapitel 20 zu befassen hatte, führt dazu in seinem Urteil A-642/2008 vom 03.03.2010 erläuternd aus:

"Im vorliegend zu beurteilenden Fall hat das eingeführte, streitbetroffene Apfelmus, das im Rahmen seiner Herstellung in einer "Dampfschnecke" gar gekocht worden war, unbestrittenermaßen die gesetzlich geforderte thermische Behandlung im Sinn der Kapitelanmerkung 5 zur Tarifnummer 2007 erfahren. Neben dieser ersten erweist sich vorliegend auch die zweite - gemäß der besagten Kapitelanmerkung erforderliche - Voraussetzung, d.h. die Erhöhung der Viskosität des Fruchterzeugnisses, als erfüllt. Dies zumal die Vorinstanz sowohl im angefochtenen Entscheid wie auch in ihrer ergänzenden Stellungnahme offenbar verkannte, dass zum einen die Viskosität namentlich von Apfelmus u.a. (d.h. nicht nur durch Reduzierung des Wassergehalts, sondern) auch mittels Zuckerzusatz erhöht werden kann. Zum anderen ändert der Zuckerzusatz nichts an der grundsätzlichen Einreihung von Fruchtmus unter die Tarifnummer 2007. Infolgedessen durfte der durch die SCTK [Sektion Chemisch-technische Kontrolle] festgestellte Brix-Wert von 17,3° des untersuchten Apfelmuses nicht (zunächst) um den Zuckergehalt von 5 % reduziert werden, um danach eine allfällige Veränderung bzw. Erhöhung der Viskosität zu bestimmen. Ohne diese vorgenommene Reduzierung des Zuckeranteils hat sich die Viskosität des eingeführten, hier zu beurteilenden Apfelmuses im Vergleich zum entsprechenden Durchschnittswert von rohen, unverarbeiteten Äpfeln (gemäß OZD ca. 12-14° Brix) um rund 31 % und damit nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts "deutlich" erhöht."

Die genannte Erläuterung zu Position 2007, die im Hinblick auf die zitierte Kapitelanmerkung seit Jänner 2002 nur noch eingeschränkt gültig war, blieb trotzdem weiter unverändert in Kraft und finden sich noch in der Ausgabe der Erläuterungen zur KN vom Mai 2011 (ABl C 137 vom 6.5.2011, S. 85). Erst im Juni 2012 wurden die Erläuterungen zu Position 2007 geändert und der dritte Absatz gestrichen (Mitteilung der Europäische Kommission im ABl C 156 vom 2.6.2012, S. 13).

Sofern Erläuterungen im Widerspruch zum Wortlaut einer Position stehen, sind sie nach ständiger Rechtsprechung des EuGH nicht zu berücksichtigen (EuGH 22.11.2012, verb Rsn C-320/11, C-330/11, C-382/11 und C-383/11, Digitalnet/Tsifro-va/M SAT CABLE, Slg 2012, 00000, Rn 45); sie tragen zwar erheblich zur Auslegung der einzelnen Positionen bei, ohne jedoch rechtsverbindlich zu sein (Rs wie oben, Rn 33; siehe auch Witte/Alexander, Zollkodex 6 Art 20 Rz 30 und 32).

II. Zum Vorliegen eines Irrtums der Zollbehörden:

Artikel 220 ZK idmF lautet auszugsweise:

"(1) Ist der einer Zollschuld entsprechende Abgabenbetrag nicht nach den Artikeln 218 und 219 buchmäßig erfasst oder mit einem geringeren als dem gesetzlich geschuldeten Betrag buchmäßig erfasst worden, so hat die buchmäßige Erfassung des zu erhebenden Betrags oder des nachzuerhebenden Restbetrags innerhalb von zwei Tagen nach dem Tag zu erfolgen, an dem die Zollbehörden diesen Umstand feststellen und in der Lage sind, den gesetzlich geschuldeten Betrag zu berechnen sowie den Zollschuldner zu bestimmen (nachträgliche buchmäßige Erfassung). Diese Frist kann nach Artikel 219 verlängert werden.

(2) Außer in den Fällen gemäß Artikel 217 Absatz 1 Unterabsätze 2 und 3 erfolgt keine nachträgliche buchmäßige Erfassung, wenn

[...]

b) der gesetzlich geschuldete Abgabenbetrag aufgrund eines Irrtums der Zollbehörden nicht buchmäßig erfasst worden ist, sofern dieser Irrtum vom Zollschuldner vernünftigerweise nicht erkannt werden konnte und dieser gutgläubig gehandelt und alle geltenden Vorschriften über die Zollanmeldung eingehalten hat.

[...]"

Der VwGH judiziert zu den Voraussetzungen für das Vorliegen einer Abstandnahme von der nachträglichen buchmäßigen Erfassung nach Art 220 ZK in ständiger Rechtsprechung Folgendes (VwGH 17.05.2001, 2000/16/0590):

"Nach Artikel 220 Abs 2 lit b ZK haben die zuständigen Zollbehörden von einer Nacherhebung von Eingangsabgaben abzusehen, wenn drei Voraussetzungen nebeneinander erfüllt sind. Die ursprüngliche Nichterhebung der Abgaben muss auf einen Irrtum der zuständigen Behörden zurückzuführen sein, der Abgabenschuldner muss gutgläubig gehandelt haben, das heißt bei vernünftiger Betrachtungsweise außerstande gewesen sein, den Irrtum der zuständigen Behörden zu erkennen, und er muss alle geltenden Bestimmungen betreffend die Zollerklärung beachtet haben. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, hat der Abgabenschuldner einen Anspruch darauf, dass von einer Nacherhebung abgesehen wird. Dagegen ist der Antrag auf Absehen von einer Nacherhebung bereits dann nicht begründet, wenn eine der drei Voraussetzungen fehlt (Hinweis Urteil des EuGH vom 4. Mai 1993, Rs C-292/91, Weis, Slg 1993, I-2219)."

Der EuGH hat seine ständige Rechtsprechung zu der in Rede stehenden Norm, wonach die drei oben genannten Voraussetzungen kumulativ vorliegen müssen, in seinem Urteil im Fall Agrover Srl (Rs C-173/06 vom 18. Oktober 2007) bestätigt.

Obwohl Fruchtpüreekonzentrate, die im Hinblick auf Anmerkung 5 zu Kapitel 20 als "durch Kochen hergestellt" gelten, seit Jänner 2002 in die Position 2007 einzureihen sind, wurden diese Zubereitungen in der Praxis international weiterhin als Erzeugnisse der Position 2008 behandelt. Dies ergibt sich aus einer Unzahl von Unterlagen und Dokumenten, die hier nur exemplarisch und auszugsweise Erwähnung finden können:

Aus der Aktenlage ergibt sich nach Ansicht des BFG zweifelsfrei, dass bis zur Änderung der Erläuterungen zur KN im Juni 2012 und fallweise auch darüber hinaus sowohl von Herstellern und Importeuren als auch von Zollbehörden der EU die Ansicht vertreten worden ist, dass Fruchtpüreekonzentrat der verfahrensgegenständlichen Qualität in die Position 2008 einzureihen ist. Lieferanten und Mitbewerber des Bf haben noch Anfang 2012 auf Nachfrage bestätigt, dass Aprikosenpüreekonzentrat 30°Brix von ihnen unter der KN-Position 2008 geführt wird.
Der Abfertigungspraxis im Königreich der Niederlande kommt dabei insofern besondere Bedeutung zu, als sich dort mit Rotterdam der größte Hafen Europas befindet und ein Großteil der aus China, Südamerika und Afrika  stammenden Fruchtzubereitungen auf dem Seeweg in die EU verbracht wird.

Der zuständige Sachbearbeiter der TUA, Y, hat anlässlich seiner Einvernahme als Zeuge ausgesagt, dass die Anmerkung 5 zu Kapitel 20 seiner Ansicht nach ungenau ist und von ihm selbst im Laufe der Zeit unterschiedlich interpretiert wurde. Dementsprechend hat auch die TUA in der Vergangenheit vorgeschlagen, thermisch behandeltes Fruchtpüreekonzentrat mit einer erhöhten Viskosität in die Position 2008 einzureihen (siehe die oa ETOS Geschäftsfälle, die alle Abfertigungen im örtlichen Zuständigkeitsbereich der belangten Behörde betreffen), obwohl die Kriterien, auf welche die Anmerkung 5 zu Kapitel 20 abstellt, nach Ansicht des BFG erfüllt waren. Die Abfertigungszollstellen haben sich damals den Vorschlägen angeschlossen und die Position 2008 in Kenntnis der Zubereitungsart und der Zusammensetzung für zutreffend befunden (siehe auch Ergebnisse der Betriebsprüfung bei der GmbH und Zeugenaussage des Geschäftsführers X).
Dass alle zitierten Geschäftsfälle konzentriertes Aprikosenpüree betreffen, ergibt sich aus den Angaben zum Zuckergehalt (mehr als 13 GHT).

Die Einreihung von Aprikosenpüreekonzentrat in die Position 2008 war auch im örtlichen Zuständigkeitsbereich der belangten Behörde langjährige Verwaltungspraxis.
So wurden laut Aktenlage im Jahr 2005 alle Sendungen dieser Ware für die GmbH unter Position 2008 angemeldet und diese Einreihung anlässlich der Betriebsprüfung im Jahr 2008 für richtig befunden. Diese Prüfungsergebnis ist aus heutiger Sicht unrichtig, weshalb darin ein Irrtum liegt. Auch bei anderen Abfertigungen im Jahr 2005 und 2007 wurde die Einreihung in diese Position nach Analyse einer Warenprobe durch die TUA amtlich festgestellt (siehe oben). Für den Bf sind in den Jahren 2010 und 2011 zehn gleichartige Abfertigungen antragsgemäß durchgeführt worden, wobei die Einreihung in die Position 2008 trotz Prüfung der Unterlagen zwecks Überprüfung der vom Zollamt angenommenen Anmeldungen in vier Fällen nicht beanstandet worden ist.
Selbst wenn gar kein eigentliches zollbehördliches Handeln vorliegen würde, kann eine langjährige unrichtige Abfertigungspraxis einen Irrtum begründen. Im Hinblick auf die allgemeine Verjährung kann dabei als "langjährig" ein Zeitraum von mehr als drei Jahren angenommen werden.
Auch eine falsche Rechtsanwendung stellt nach der Rechtsprechung einen erheblichen Irrtum dar (siehe Witte/Alexander, Zollkodex6 Art. 220 Rz. 15).

Somit stellt sich in weiterer Folge die Frage, ob der Abgabenschuldner gutgläubig gehandelt hat; das heißt er muss bei vernünftiger Betrachtungsweise außerstande gewesen sein, den Irrtum der zuständigen Behörden zu erkennen (VwGH vom 17.05.2001, 2000/16/0590).
Laut Aktenlage ist dieses Kriterium verfahrensgegenständlich erfüllt, weil dem Bf die langjährige Verwaltungspraxis der Zollbehörden bekannt war und er sich darauf eingestellt hat. Vor Aufnahme regelmäßiger Importe nach Österreich im Jahr 2009 hat er nachweislich bei der Wirtschaftskammer Wien, Abteilung für Außenwirtschaft, Erkundigungen bezüglich der tarifarischen Einreihung der in Rede stehenden Ware eingeholt und das Aprikosenpüreekonzentrat danach in gutem Glauben der Position 2008 5092 20 zugeordnet. Den vorliegenden Unterlagen ist zu entnehmen, dass der Bf in der Folge bei Zollämtern in Österreich und anderen Mitgliedstaaten der EU gleichlautende Anmeldungen abgegeben hat und es dabei vor dem Jahr 2012 zu keinen Beanstandungen bezüglich der Einreihung gekommen ist.
Am 1.12.2011 beantragt der Bf in Österreich erstmalig die Erteilung einer verbindlichen Zolltarifauskunft für Aprikosenpüreekonzentrat (30°Bx). Im Hinblick auf die oa Information des Fachverbandes der Lebensmittelindustrie vom April 2012 über den Stand der Diskussionen in Brüssel wird dieser Antrag am 12.4.2012 nach Rücksprache mit der TUA  zurückgezogen.
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass ein Zollbeteiligter, der von der abstrakten Möglichkeit, eine vZTA einzuholen, nicht Gebrauch macht, nicht automatisch sorgfaltswidrig handelt (EuGH vom 1.4.1993, C-250/91, Rz 25).

Die Gesamtumstände des Falles sprechen auch dafür, dass der Bf den Irrtum der Zollbehörden nicht erkennen konnte. Zum einen hat er sich nach Kräften bemüht, die regelmäßig importierte Ware richtig einzureihen. Zum anderen war die Feststellung der tatsächlichen Rechtslage in Anbetracht der Komplexität der Vorschriften und nicht zuletzt wegen des nur noch eingeschränkt gültigen Absatzes 3 zu Position 2007 in den Erläuterungen zur KN, aber auch - wie sich im Rahmen der Ermittlungen herausgestellt hat - auf Grund der unklaren deutschen Sprachfassung von Anmerkung 5 zu Kapitel 20 selbst für Spezialisten unklar (siehe Zeugeneinvernahme Y).
Das BFG verkennt dabei nicht, dass nach ständiger Rechtsprechung des EuGH einzig der Text in der KN rechtsverbindlich ist. Aber der dermaßen klar formulierte Hinweis in Absatz 3 zu Code 2007 der Erläuterungen, wonach nach dem üblichen Verfahren produzierte Fruchtpürees zur Position 2008 gehören, war geeignet, selbst Experten und Behörden in die Irre zu führen (siehe dazu insbesondere die oa Ausführungen der niederländischen Zollverwaltung und die Diskussion zwischen den Generaldirektionen AGRI und TAXUD) und die Erkennbarkeit des Irrtums der Zollbehörden maßgeblich zu erschweren. Gegen die Erkennbarkeit spricht auch die dargelegte internationale Verwaltungspraxis, von deren Rechtmäßigkeit der Bf ausgehen durfte.
Dass der Bf sonstige, die Zollanmeldung betreffende Vorschriften missachtet hätte, geht aus dem Verwaltungsakt nicht hervor.

Die "Berichtigung" der buchmäßigen Erfassung gemäß Artikel 220 Absatz 1 ZK durch die Abgabenbehörde erfolgte verfahrensgegenständlich dem Grunde nach zu Recht, der Nachforderung steht jedoch aus den genannten Gründen die Vertrauensschutzregelung des Artikels 220 Absatz 2 Buchstabe b) Unterabsatz 1 entgegen. Wenn keine Zollschuld gemäß Artikel 220 ZK nachzuerheben ist, ist in den verfahrensgegenständlichen Fällen auch keine Abgabenerhöhung gemäß § 108 Abs. 1 ZollR-DG zu entrichten. Den Beschwerden war daher Folge zu geben und wie im Spruch ausgeführt zu entscheiden.

Zulässigkeit einer Revision

Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts­hofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Diese Voraussetzungen liegen im Hinblick auf die vorstehend zitierte Rechtsprechung des VwGH und EuGH nicht vor. Zur Aufhebung der Bescheide des UFS durch den VwGH ist festzuhalten, dass sich die Aktenlage auf Grund der ergänzenden Ermittlungen des BFG maßgeblich geändert hat.

 

 

Salzburg-Aigen, am 20. Dezember 2017

 

Zusatzinformationen

Materie:

Zoll

betroffene Normen:

§ 108 Abs. 1 ZollR-DG, Zollrechts-Durchführungsgesetz, BGBl. Nr. 659/1994
Art. 220 ZK, VO 2913/92 , ABl. Nr. L 302 vom 19.10.1992 S. 1
Art. 220 Abs. 2 Buchstabe b Unterabsatz 1 ZK, VO 2913/92 , ABl. Nr. L 302 vom 19.10.1992 S. 1

Schlagworte:

Fruchtpüree, Kochen, Vertrauensschutz

Verweise:

UFS, ZRV/0247-Z3K/12
UFS, ZRV/0248-Z3K/12
VwGH 17.05.2001, 2000/16/0590
EuGH 04.05.1993, C-292/91
EuGH 01.04.1993, C-250/91
VwGH 14.12.2015, 2013/16/0234
EuGH 18.04.1991, C-324/89
EuGH 22.11.2012, C-320/11
EuGH 18.10.2007, C-173/06

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