Spruch:
Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK, Art. 5 EMRK - Anwendung von Art.5 EMRK in bewaffneten Konflikten.
Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 2 EMRK und Art. 3 EMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3 oder Abs. 4 EMRK (13:4 Stimmen).
Text
Begründung
Sachverhalt:
Am 20.3.2003 begann eine Koalitionsarmee unter der Führung der USA und unter starker Beteiligung des Vereinigten Königreichs die Invasion des Irak. Bis 5.4.2003 hatten britische Truppen Basra erobert und bis 9.4. erlangten die US-Truppen die Kontrolle über Bagdad. Die Hauptkampfhandlungen wurden am 1.5.2003 für beendet erklärt.
Der Bf. war bis zur Invasion im nationalen Sekretariat der Baath-Partei und als General der Al-Quds-Armee tätig. Er lebte in der Hafenstadt Umm Qasr, etwa 50 Kilometer südlich von Basra Stadt. Nachdem die britische Armee das Gebiet besetzt hatte, begann sie mit der Verhaftung hochrangiger Mitglieder der Baath-Partei. Daher tauchte der Bf. mit seiner Familie unter, wobei er seinen Bruder Tarek Hassan zurückließ, um das Haus der Familie zu bewachen.
Nach Angaben der britischen Regierung begaben sich am Morgen des 23.4.2003 Mitglieder des 1. Bataillons der britischen Armee zum Haus des Bf., um ihn zu verhaften. Er war nicht anwesend, doch trafen die Soldaten auf seinen Bruder, der mit einem Maschinengewehr auf dem Dach des Hauses stand. Er wurde um 6:30 Uhr festgenommen. Im Haus wurden weitere Schusswaffen und einige Dokumente über die Baath-Partei und die Al-Quds-Armee sichergestellt. Der Bruder des Bf. wurde in das etwa 2,5 Kilometer von Umm Qasr entfernte Camp Bucca gebracht.
Dieses ursprünglich von der britischen Armee errichtete Anhaltelager war seit 14.4.2003 eine Einrichtung der USA, in der einige hundert Gefangene festgehalten wurden. Die Briten verwendeten das Lager auch nach der Übergabe an die US-Truppen. Unter anderem betrieben sie einen eigenen Komplex für ihr Joint Forward Interrogation Team (JFIT), in dem die Kontrolle über die Inhaftierung und Befragung aller Gefangenen der britischen Armee oblag. In den übrigen Teilen des Lagers war die US-Armee für die Bewachung der Gefangenen zuständig. Die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz sowie die Einhaltung der Genfer Abkommen lag hinsichtlich der von ihnen gefangen genommenen Personen in der Verantwortung der Briten.
Der Bruder des Bf. wurde bei seiner Ankunft in Camp Bucca als Kriegsgefangener registriert. Aus den dem GH vorgelegten Aufzeichnungen seiner am 23.4. und am 25.4. durchgeführten Befragungen geht hervor, dass er weder als Sicherheitsrisiko eingestuft wurde noch nachrichtendienstlich relevante Informationen von ihm erwartet wurden. Er wurde daher am 25.4. um 20:00 Uhr in die für Zivilisten vorgesehene Abteilung des Lagers gebracht. Nach den vorliegenden Auszügen aus der Datenbank, in der alle Gefangenen verwaltet wurden, wurde am 4.5.2003 die am 2.5. erfolgte Entlassung des Bruders des Bf. vermerkt. Als Entlassungsort war Umm Qasr angegeben.
Nach Angaben des Bf. trat sein Bruder nach seiner angeblichen Entlassung aus dem Camp nicht in Kontakt zu seiner Familie. Am 1.9.2003 erhielt einer seiner Cousins einen Anruf von einem Unbekannten aus Samara, einer Stadt nördlich von Badgad. Dieser teilte ihm mit, dass ein toter Mann gefunden worden wäre, der einen Personalausweis und einen Zettel mit der Nummer des Cousins des Bf. in der Tasche gehabt hätte. Der Bf. identifizierte den Toten als seinen Bruder. Er war mit acht Schüssen in die Brust getötet worden.
Der Bf. wandte sich im Juli 2007 an den High Court in Großbritannien. Er beantragte eine Entschädigung und die Anordnung einer Untersuchung des Schicksals seines Bruders nach dessen Festnahme durch britische Soldaten. Der Antrag wurde am 25.2.2009 mit der Begründung abgewiesen, der Bruder des Bf. habe sich nicht in der Hoheitsgewalt des Vereinigten Königreichs befunden. Von einem Rechtsmittel wurde dem Bf. abgeraten, da dieses keine Aussicht auf Erfolg hätte.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet Verletzungen von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) und Art. 5 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit). Sein Bruder sei von britischen Truppen im Irak festgenommen und in weiterer Folge unter ungeklärten Umständen tot aufgefunden worden.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 und Art. 3 EMRK
(59) Der Bf. bringt vor, die Umstände des Todes von Tarek Hassan würden prima facie für eine Verletzung von Art. 2 und Art. 3 EMRK sprechen und eine Verpflichtung der Regierung begründen, eine effektive Untersuchung durchzuführen. [...]
(63) Im vorliegenden Fall [...] gibt es keine Hinweise, die darauf hindeuten, dass Tarek Hassan während seiner Anhaltung misshandelt wurde, und so eine Verpflichtung des Staates nach Art. 3 EMRK begründen könnten, eine effektive Untersuchung durchzuführen. Auch liegen keine Beweise dafür vor, dass Behörden des Vereinigten Königreichs in irgendeiner Weise direkt oder indirekt für seinen Tod verantwortlich gewesen wären, der sich etwa vier Monate nach seiner Entlassung aus Camp Bucca in einem entfernten Teil des Landes ereignete, der nicht von britischen Truppen kontrolliert wurde. Angesichts des Fehlens jeglicher Hinweise auf eine Beteiligung von Organen des Vereinigten Königreichs an dem Tod oder darauf, dass sich dieser in einem vom Vereinigten Königreich kontrollierten Gebiet ereignet hat, kann sich aus Art. 2 EMRK keine Verpflichtung zur Untersuchung ergeben.
(64) Der GH erachtet die Beschwerde unter Art. 2 und Art. 3 EMRK als offensichtlich unbegründet und erklärt sie daher für unzulässig (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 EMRK
(65) Der Bf. behauptet, dass die Festnahme seines Bruders durch britische Soldaten und seine Anhaltung in Camp Bucca gegen Art. 5 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 4 EMRK verstoßen habe. [...] Die Regierung leugnet, dass Tarek Hassan in der relevanten Zeit je in die Hoheitsgewalt des Vereinigten Königreichs gefallen ist. Alternativ bringt sie vor, seine im Zuge eines internationalen bewaffneten Konflikts erfolgte Festnahme und Anhaltung habe keine Verletzung von Art. 5 EMRK begründet.
Hoheitsgewalt
(66) Der Bf. bringt vor, sein Bruder hätte sich während der fraglichen Zeit stets iSv. Art. 1 EMRK in der Hoheitsgewalt des Vereinigten Königreichs befunden. [...]
(74) Der GH erinnert daran, dass er in Al-Skeini/GB die Grundsätze zur außerhalb des Territoriums der Vertragsstaaten ausgeübten Hoheitsgewalt iSv. Art. 1 EMRK zusammengefasst hat. [...]
(75) In Al-Skeini stellte der GH fest, dass die Angehörigen der Bf. in die Hoheitsgewalt des Vereinigten Königreichs fielen, weil dieses in der Zeit zwischen 1.5.2003 und 28.6.2004 die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Sicherheit im Südosten des Irak innehatte und die Verwandten der Bf. im Zuge von Sicherheitsoperationen der britischen Truppen getötet worden waren. Angesichts dieser Feststellungen war es nicht notwendig zu entscheiden, ob sich die Hoheitsgewalt auch aus der effektiven militärischen Kontrolle [...] ergab. Die Feststellungen in Al-Skeini umfassten jedenfalls auch Material, das darauf hindeutet, dass das Vereinigte Königreich weit von einer effektiven Kontrolle des von ihm besetzten südöstlichen Gebiets entfernt war [...]. Der vorliegende Fall betrifft eine frühere Periode, bevor das Vereinigte Königreich und seine Koalitionspartner die aktive Kampfphase für beendet und das Gebiet für besetzt erklärt hatten und bevor das Vereinigte Königreich die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Sicherheit im Südosten des Landes übernommen hatte. Allerdings erachtet der GH es, wie in Al-Skeini, nicht für notwendig zu entscheiden, ob das Vereinigte Königreich zur fraglichen Zeit die effektive Kontrolle über das Gebiet hatte, weil er der Ansicht ist, dass es aus einem anderen Grund Hoheitsgewalt über Tarek Hassan ausübte.
(76) Nach seiner Festnahme durch britische Soldaten am frühen Morgen des 23.4.2003 bis zur Einlieferung in Camp Bucca am Nachmittag war Tarek Hassan in der physischen Gewalt der Soldaten des Vereinigten Königreichs und fiel daher gemäß den in Al-Skeini dargelegten Grundsätzen in dessen Hoheitsgewalt. Die Regierung anerkannte, dass die Festnahme eines Individuums durch extraterritorial handelnde Staatsorgane ein Grund für extraterritoriale Hoheitsgewalt sein kann [...]. Sie brachte jedoch vor, dass diese Grundlage der Hoheitsgewalt nicht in der durch aktive Kampfhandlungen geprägten Phase eines internationalen bewaffneten Konflikts angewendet werden dürfe, wo die Staatsorgane des Konventionsstaats in einem Gebiet tätig sind, dessen Besatzungsmacht sie nicht sind, und wo das Handeln des Staates stattdessen den Anforderungen des humanitären Völkerrechts entsprechen muss.
(77) Der GH ist von diesem Argument nicht überzeugt. Auch Al-Skeini betraf eine Zeit, in der das humanitäre Völkerrecht anwendbar war [...]. Dennoch stellte der GH fest, dass das Vereinigte Königreich Hoheitsgewalt nach Art. 1 EMRK über die Angehörigen der Bf. ausübte. Dieses Argument zu akzeptieren wäre zudem unvereinbar mit der Rechtsprechung des IGH, wonach völkerrechtlicher Menschenrechtsschutz und humanitäres Völkerrecht parallel anwendbar sein können. Wie der GH bei vielen Gelegenheiten festgestellt hat, kann die Konvention nicht in einem Vakuum, sondern sollte so weit wie möglich in Übereinstimmung mit anderen Regeln des Völkerrechts ausgelegt werden. Dies gilt gleichermaßen für Art. 1 wie für die anderen Artikel der EMRK.
(78) Hinsichtlich der Zeit nach der Einlieferung Tarek Hassans in Camp Bucca bringt die Regierung ein weiteres Argument vor, das die Hoheitsgewalt ausschließen soll, nämlich dass seine Aufnahme im Lager einen Übergang der Obhut vom Vereinigten Königreich an die USA bedeutet hätte. Der GH [...] ist jedoch der Ansicht, dass Tarek Hassan aufgrund der in Camp Bucca geltenden Vereinbarungen weiterhin unter die Befehlsgewalt und Kontrolle der britischen Truppen fiel. Er wurde als Gefangener des Vereinigten Königreichs im Camp aufgenommen. Kurz nach seiner Ankunft wurde er in den JFIT-Komplex gebracht, der ausschließlich von Truppen des Vereinigten Königreichs kontrolliert wurde. Gemäß der Vereinbarung, die die Verantwortlichkeiten des Vereinigten Königreichs und der USA hinsichtlich der in dem Lager angehaltenen Personen bestimmte, war das Vereinigte Königreich für die Klassifizierung seiner Gefangenen nach dem III. und IV. Genfer Abkommen und für die Entscheidung über ihre Freilassung zuständig. Genau dies geschah nach der Befragung von Tarek Hassan im JFIT-Kompex, als die Behörden des Vereinigten Königreichs entschieden, dass er ein Zivilist sei, von dem keine Gefahr für die Sicherheit ausgehe, und seine Freilassung zum praktisch frühest möglichen Zeitpunkt anordneten. Zwar wurden bestimmte Aspekte betreffend seine Anhaltung in Camp Bucca an die US-Streitkräfte übertragen, insbesondere seine Bewachung außerhalb des JFIT-Komplexes, doch behielt das Vereinigte Königreich die Befehlsgewalt und Kontrolle über alle für die Beschwerde unter Art. 5 EMRK relevanten Aspekte seiner Anhaltung.
(80) Der GH gelangt daher zu dem Schluss, dass Tarek Hassan ab dem Zeitpunkt seiner Festnahme durch britische Truppen in Umm Qasr am 23.4.2003 bis zu seiner Freilassung [...], die höchstwahrscheinlich am 2.5.2003 erfolgte, in die Hoheitsgewalt des Vereinigten Königreichs fiel.
Entscheidung in der Sache
(81) Der Bf. bringt vor, [...] dass selbst wenn die Festnahme und Anhaltung von Tarek Hassan in einer Phase aktiver Kampfhandlungen stattgefunden hätte, dies nichts an der Anwendbarkeit der Konvention ändere. [...]
Die anzuwendenden allgemeinen Grundsätze
(97) Die Liste der Gründe für eine erlaubte Freiheitsentziehung in Art. 5 Abs. 1 EMRK umfasst nicht die Internierung oder Präventivhaft, wenn keine Absicht besteht, in angemessener Zeit strafrechtliche Anklage zu erheben. Nach Ansicht des GH bestehen wichtige Unterschiede im Kontext und im Zweck zwischen Festnahmen in Friedenszeiten und der Festnahme eines Kombattanten im Zuge eines bewaffneten Konflikts. Er ist nicht der Ansicht, dass die Anhaltung nach den im III. und IV. Genfer Abkommen vorgesehenen Befugnissen mit irgendeiner der in lit. a bis lit. f genannten Kategorien übereinstimmt. Auch wenn Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK auf den ersten Blick als die am ehesten relevante Bestimmung erscheinen mag, muss zwischen einer Sicherheitsinternierung und dem Verdacht der Begehung einer Straftat oder der Gefahr der Begehung einer Straftat keine Korrelation bestehen. Was als Kriegsgefangene angehaltene Kombattanten betrifft, wäre es unangemessen, wenn der GH erklären würde, dass diese Form der Anhaltung in den Anwendungsbereich von Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK fällt, weil diese Personenkategorie Privilegien genießt, die ihnen die Teilnahme an Feindseligkeiten erlauben, ohne dass dies strafrechtliche Sanktionen nach sich ziehen würde.
(98) Zusätzlich verlangt Art. 5 Abs. 2 EMRK, dass jeder Angehaltene unverzüglich über die Gründe für seine Festnahme zu informieren ist und Art. 5 Abs. 4 EMRK erfordert, dass jeder Angehaltene ein Verfahren anstrengen kann, in dem von einem Gericht rasch über die Rechtmäßigkeit der Haft entschieden wird. Art. 15 EMRK sieht vor, dass ein Mitgliedstaat »im Falle eines Krieges oder eines anderen öffentlichen Notstands, der das Leben der Nation bedroht«, Maßnahmen ergreifen kann, welche bestimmte Verpflichtungen nach der Konvention außer Kraft setzen. Im vorliegenden Fall erklärte das Vereinigte Königreich nicht, irgendeine seiner Verpflichtungen nach Art. 5 EMRK gemäß Art. 15 EMRK außer Kraft zu setzen.
(99) Dies ist der erste Fall, in dem ein belangter Staat den GH ersucht, seine Verpflichtungen unter Art. 5 EMRK nicht anzuwenden oder im Licht seiner nach dem humanitären Völkerrecht gegebenen Befugnisse zur Anhaltung auszulegen. [...] Einzig vor der Kommission wurde in Zypern/TR eine ähnliche Frage aufgeworfen, nämlich ob es beim Fehlen einer gültigen Derogation nach Art. 15 EMRK mit den Verpflichtungen nach Art. 5 EMRK vereinbar sei, eine Person unter dem III. und IV. Genfer Abkommen anzuhalten. Die Kommission lehnte es in ihrem Bericht ab, mögliche Verletzungen von Art. 5 EMRK in Hinblick auf Personen zu prüfen, die Kriegsgefangenenstatus hatten, und berücksichtigte die Tatsache, dass sowohl Zypern als auch die Türkei Mitglied des III. Genfer Abkommens waren. Der GH hatte bis jetzt keine Gelegenheit, den Zugang der Kommission zu überprüfen und die Frage selbst zu entscheiden.
(100) Ausgangspunkt der Prüfung durch den GH muss seine ständige Praxis der Auslegung der Konvention im Licht der in der WVK enthaltenen Regeln sein. Art. 31 Abs. 3 WVK [...] sieht vor, dass außer dem Zusammenhang jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen (lit. a), jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht (lit. b) und jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz (lit. c) zu berücksichtigen ist.
(101) Es gibt keine spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung von Art. 5 EMRK in Situationen eines internationalen bewaffneten Konflikts. In Hinblick auf das in Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK genannte Kriterium hat der GH jedoch festgestellt, dass eine übereinstimmende Praxis seitens der Vertragsstaaten nach ihrer Ratifikation der EMRK nicht nur als Übereinkunft hinsichtlich der Auslegung, sondern sogar hinsichtlich einer Änderung des Texts der Konvention angesehen werden kann. Es ist die Praxis der Mitgliedstaaten, ihre Verpflichtungen unter Art. 5 EMRK nicht außer Kraft zu setzen, um Personen während eines internationalen bewaffneten Konflikts aufgrund des III. und IV. Genfer Abkommens anzuhalten. Wie der GH in Bankovic u.a./B u.a. feststellte, [...] hat kein Mitgliedstaat je eine Derogation nach Art. 15 EMRK hinsichtlich extraterritorialer militärischer Aktivitäten erklärt. [...] Überdies scheint sich die Praxis, in Hinblick auf Anhaltungen nach dem III. und IV. Genfer Abkommen keine Derogationserklärungen nach Art. 15 EMRK abzugeben, auch in der Staatenpraxis hinsichtlich des IPBPR widerzuspiegeln. Obwohl viele Staaten nach ihrer Ratifikation des Pakts im Kontext internationaler bewaffneter Konflikte Personen aufgrund ihrer Befugnisse nach dem III. und IV. Genfer Abkommen angehalten haben, hat kein Staat betreffend diese Anhaltungen seinen Verpflichtungen aus dem IPBPR nach dessen Art. 4 ausdrücklich derogiert [...].
(102) [...] Der GH hat bei vielen Gelegenheiten klargemacht, dass die Konvention im Einklang mit anderen Regeln des internationalen Rechts auszulegen ist. Dies gilt ebenso für das humanitäre Völkerrecht. [...] Die sich auf Internierungen beziehenden Bestimmungen des III. und IV. Genfer Abkommens, um die es im vorliegenden Fall geht, waren dazu gedacht, gefangene Kombattanten und Zivilisten, die eine Sicherheitsbedrohung darstellen, zu schützen. Der GH hat bereits festgestellt, dass Art. 2 EMRK im Lichte der allgemeinen Regeln des Völkerrechts, einschließlich des humanitären Völkerrechts [...] auszulegen ist und er ist der Ansicht, dass diese Überlegungen gleichermaßen in Hinblick auf Art. 5 EMRK gelten. Außerdem stellte der IGH fest, dass der durch Menschenrechtskonventionen gewährte Schutz in Situationen bewaffneter Konflikte neben dem durch das humanitäre Völkerrecht gewährten Schutz besteht. [...] Der GH muss sich bemühen, die Konvention in einer Art und Weise auszulegen und anzuwenden, die mit dem vom IGH umrissenen völkerrechtlichen Rahmen übereinstimmt.
(103) Im Lichte dieser Überlegungen akzeptiert der GH das Argument der Regierung, dass das Fehlen einer formellen Derogation unter Art. 15 EMRK ihn nicht daran hindert, bei der Auslegung und Anwendung von Art. 5 EMRK im vorliegenden Fall den Zusammenhang und die Vorschriften des humanitären Völkerrechts zu berücksichtigen.
(104) Dennoch ist der GH in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des IGH der Ansicht, dass die Garantien der EMRK selbst in Situationen eines internationalen bewaffneten Konflikts anwendbar bleiben, wenn sie auch vor dem Hintergrund der Bestimmungen des humanitären Völkerrechts auszulegen sind. Aufgrund der Koexistenz der Garantien des humanitären Völkerrechts und der EMRK in Zeiten eines bewaffneten Konflikts sollten die in Art. 5 Abs. 1 lit. a bis lit. f EMRK genannten Gründe einer erlaubten Freiheitsentziehung so weit wie möglich der Anhaltung von Kriegsgefangenen und von Zivilisten, die eine Sicherheitsbedrohung darstellen, unter dem III. und IV. Genfer Ankommen angepasst werden. Dem GH ist bewusst, dass Internierung in Friedenszeiten nicht in das von Art. 5 EMRK geregelte Schema der Freiheitsentziehung fällt, wenn nicht von der Möglichkeit einer Derogation nach Art. 15 EMRK Gebrauch gemacht wird. Nur in Fällen eines internationalen bewaffneten Konflikts, wo die Anhaltung von Kriegsgefangenen und von Zivilisten, die eine Sicherheitsbedrohung darstellen, im humanitären Völkerrecht anerkannt ist, kann Art. 5 EMRK so ausgelegt werden, dass er die Ausübung so weiter Befugnisse gestattet.
(105) Wie bei den schon in Art. 5 Abs. 1 lit. a bis lit. f EMRK genannten Gründen erlaubter Anhaltung muss eine Freiheitsentziehung aufgrund der Befugnisse nach dem humanitären Völkerrecht »rechtmäßig« sein, um eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK auszuschließen. Das bedeutet, dass die Anhaltung den Regeln des humanitären Völkerrechts entsprechen und vor allem mit dem grundlegenden Zweck von Art. 5 Abs. 1 EMRK vereinbar sein muss, der im Schutz vor Willkür besteht.
(106) Was verfahrensrechtliche Sicherungen betrifft, ist der GH der Ansicht, dass bei einer während eines internationalen bewaffneten Konflikts erfolgenden Anhaltung auch Art. 5 Abs. 2 und Abs. 4 in einer Art und Weise ausgelegt werden müssen, die den Zusammenhang und die anwendbaren Regeln des humanitären Völkerrechts berücksichtigt. Art. 43 und Art. 78 des IV. Genfer Abkommens sehen vor, dass eine Internierung regelmäßig, möglichst alle sechs Monate, von einem Spruchkörper überprüft wird. Es mag im Zuge eines internationalen bewaffneten Konflikts nicht praktikabel sein, die Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung von einem unabhängigen »Gericht« in dem im Allgemeinen von Art. 5 Abs. 4 EMRK verlangten Sinn überprüfen zu lassen. Um den Verpflichtungen nach Art. 5 Abs. 4 EMRK zu entsprechen, sollte der zuständige Spruchkörper ausreichende Garantien der Unparteilichkeit und des fairen Verfahrens gewährleisten, um Schutz gegen Willkür zu bieten. Außerdem sollte die erste Überprüfung kurz nach der Festnahme erfolgen und von regelmäßigen Überprüfungen gefolgt werden, um sicherzustellen, dass jede Person, die nicht in eine der Kategorien fällt, die nach dem humanitären Völkerrecht der Internierung unterliegen, ohne unverhältnismäßige Verzögerung freigelassen wird. [...]
(107) Auch wenn der GH aus den oben ausgeführten Gründen eine formelle Derogation nicht für erforderlich hält, wird er die Bestimmungen des Art. 5 EMRK nur dann im Licht der einschlägigen Bestimmungen des humanitären Völkerrechts auslegen und anwenden, wenn der belangte Staat ein dahingehendes Vorbringen erstattet. Es ist nicht Sache des GH, ohne eine dahingehende eindeutige Erklärung anzunehmen, dass ein Staat beabsichtigt, seine durch die Ratifikation der Konvention eingegangenen Verpflichtungen abzuwandeln.
Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall
(108) Während der fraglichen Zeitspanne im Irak waren alle beteiligten Parteien Mitglieder der vier Genfer Abkommen, die in Situationen internationaler bewaffneter Konflikte und vollständiger oder teilweiser Besetzung anwendbar sind. Daher ist klar, dass die vier Genfer Abkommen anwendbar waren, egal ob die Situation im Südosten des Irak Ende April und Anfang Mai 2003 als einer der Okkupation oder als eine des aktiven internationalen bewaffneten Konflikts charakterisiert wird.
(109) [...] Wie der GH bereits feststellte, wurde Tarek Hassan von britischen Soldaten angetroffen, als er bewaffnet auf dem Dach des Hauses seines Bruders stand, wo weitere Waffen und nachrichtendienstlich relevantes Material gefunden wurden. Unter diesen Umständen hatten die Behörden des Vereinigten Königreichs Grund zur Annahme, dass er entweder eine Person sei, die als Kriegsgefangener angehalten werden konnte, oder deren Anhaltung aus zwingenden Sicherheitsgründen notwendig war. Beides war ein legitimer Grund für die Festnahme und Internierung. Beinahe sofort nach seiner Aufnahme in Camp Bucca wurde Tarek Hassan einem Überprüfungsprozess in Form von zwei Befragungen durch Offiziere der militärischen Nachrichtendienste der USA und des Vereinigten Königreichs unterzogen, der dazu führte, dass er zur Freilassung vorgesehen wurde, da festgestellt wurde, dass er ein Zivilist war, von dem keine Gefahr für die Sicherheit ausging. Die Beweise deuten darauf hin, dass er kurz darauf aus dem Lager entlassen wurde.
(110) Vor diesem Hintergrund scheint die Festnahme und Internierung von Tarek Hassan mit den Befugnissen des Vereinigten Königreichs nach dem III. und IV. Genfer Abkommen vereinbar und nicht willkürlich gewesen zu sein. Angesichts der Anordnung seiner Freilassung, die binnen weniger Tage tatsächlich erfolgt ist, erachtet der GH es nicht als notwendig zu prüfen, ob der Überprüfungsprozess eine angemessene Garantie zum Schutz vor willkürlicher Haft bot. Schließlich deuten der Kontext und die an Tarek Hassan in den beiden Vernehmungen gestellten Fragen darauf hin, dass der Grund für seine Anhaltung für ihn offenkundig war.
(111) Aus dieser Analyse folgt, dass der GH im vorliegenden Fall keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3 oder Abs. 4 EMRK feststellt (13:4 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Spano, gefolgt von den Richtern Nicolaou und Bianku und von Richterin Kalaydjieva).
Vom GH zitierte Judikatur:
Zypern/TR v. 10.7.1986 (Bericht)
Bankovic u.a./B u.a. v. 12.12.2001 (ZE der GK) = NL 2002, 48 = EuGRZ 2002, 133
Issa u..a/TR v. 16.11.2004 = NL 2004, 286
Al-Saadoon und Mufdhi/GB v. 30.6.2009 (ZE der GK) = NL 2009, 196
Medvedyev u.a./F v. 29.3.2010 (GK) = NL 2010, 104
Al-Jedda/GB v. 7.7.2011 (GK) = NL 2011, 223
Al-Skeini u.a./GB v. 7.7.2011 (GK) = NL 2011, 219
Vilnes u.a./N v. 5.12.2013 = NL 2013, 443
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 16.9.2014, Bsw. 29750/09, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 389) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/14_5/Hassan.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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