EGMR Bsw497/09

EGMRBsw497/0919.7.2012

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Koch gg. Deutschland, Urteil vom 19.7.2012, Bsw. 497/09.

 

Spruch:

Art. 8 EMRK - Verweigerung eines tödlichen Medikaments für Suizid.

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der Verletzung der Rechte der Frau des Bf. (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK wegen Nichtuntersuchung des Antrags des Bf. durch die nationalen Gerichte in der Sache (einstimmig).

Keine gesonderte Untersuchung der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK bezüglich des Rechts des Bf. auf Zugang zu einem Gericht (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 2.500,- für immateriellen Schaden, € 26.736,25 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Begründung

Sachverhalt:

Die 1950 geborene (inzwischen verstorbene) Ehefrau des Bf., mit der dieser seit 1980 verheiratet war, litt seit 2002 an einer sensomotorischen Querschnittslähmung, nachdem sie vor ihrer Haustür unglücklich gestürzt war. Sie war beinahe komplett bewegungsunfähig und musste künstlich beatmet und rund um die Uhr durch Pflegepersonal betreut werden. Außerdem litt sie an Krämpfen. Nach ärztlicher Einschätzung hatte sie eine Lebenserwartung von zumindest weiteren 15 Jahren. Es war ihr Wunsch, dieses ihrer Ansicht nach würdelose Leben mit Unterstützung des Bf. durch Suizid zu beenden. Die beiden kontaktierten die Suizidbeihilfe-Organisation Dignitas in der Schweiz.

Im November 2004 beantragte die Ehefrau des Bf. beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte die Genehmigung des Erwerbs von 15 g Natrium-Pentobarbital – einer tödlichen Dosis, die ihr die Durchführung des Suizids in ihrem Haus in Braunschweig ermöglicht hätte. Das Bundesinstitut lehnte den Antrag am 16.12.2004 mit der Begründung ab, Betäubungsmittel dürften nur zum Zweck der notwendigen medizinischen Versorgung abgegeben werden. Eine Genehmigung könne daher nur für lebenserhaltende oder lebensfördernde, nicht jedoch für lebensbeendende Zwecke erteilt werden. Der Bf. und seine Frau legten dagegen am 14.1.2005 einen Widerspruch ein.

Im Februar 2005 reisten der Bf. und seine Frau nach Zürich, wo sie am 12.2.2005 mit der Unterstützung von Dignitas Selbstmord beging.

Der Widerspruch wurde vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte am 3.3.2005 zurückgewiesen. Die dagegen gerichtete Klage des Bf. wurde vom Verwaltungsgericht Köln am 21.2.2006 als unzulässig abgelehnt, da er nicht die Verletzung eigener Rechte geltend machen könne. Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen nahm die dagegen erhobene Berufung nicht an.

Der Bf. erhob daraufhin Verfassungsbeschwerde, die am 4.11.2008 nicht zur Entscheidung angenommen wurde (1 BvR 1832/07). Das BVerfG erachtete die Beschwerde als unzulässig, weil sich der Bf. nicht auf einen postmortalen Schutz der Menschenwürde seiner Ehefrau berufen könne. Postmortal geschützt werde nur zum einen der allgemeine Achtungsanspruch, der dem Menschen kraft seines Personseins zustehe, und zum anderen der sittliche, personale und soziale Geltungswert, den die Person durch ihre eigene Lebensleistung erworben hat. Solche Verletzungen der Menschenwürde der Ehefrau des Bf. stünden aber nicht in Frage. Der Bf. könne auch nicht als Rechtsnachfolger seiner verstorbenen Frau Beschwerde erheben, da dies zur Durchsetzung des Schutzes der Menschenwürde und höchstpersönlicher Rechte nicht möglich sei.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens). Er bringt vor, die Weigerung, seiner Ehefrau den Erwerb einer tödlichen Dosis eines Medikaments zu gestatten, die ihr die Beendigung ihres Lebens ermöglicht hätte, hätte sowohl ihr als auch sein durch Art. 8 EMRK geschütztes Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt.

Zur behaupteten Verletzung der durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte des Bf.

Der Bf. bringt vor, die Weigerung der deutschen Gerichte, seine Beschwerde über die Entscheidung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte in der Sache zu prüfen, hätte ihn in seinem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt.

Zum Vorliegen eines Eingriffs in die Rechte des Bf.

Nach Ansicht des Bf. liegt ein Eingriff in seine eigenen Rechte vor, weil er ein persönliches Interesse an einer Entscheidung über den Antrag seiner Frau hatte. Das Leiden und die Umstände ihres Todes hätten ihn als liebenden Ehemann in einer Weise betroffen, die seine durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte berühre. Der vorliegende Fall ist insofern von Fällen zu unterscheiden, in denen Verwandte oder Erben der verstorbenen Person eine Beschwerde nur in deren Namen erheben.

Ungeachtet dieser Unterschiede sind die in der Rechtsprechung entwickelten Kriterien dafür, wann ein Verwandter oder Erbe eine Beschwerde im Namen der verstorbenen Person erheben darf, auch relevant für die Prüfung der Frage, ob ein Verwandter eine Verletzung seiner eigenen Rechte unter Art. 8 EMRK behaupten kann. Der GH wird daher prüfen, ob enge Familienbande existierten, der Bf. ein ausreichendes persönliches oder rechtliches Interesse am Ausgang des Verfahrens hatte und ob er schon vorher ein Interesse an dem Fall zum Ausdruck gebracht hat.

Der GH stellt zunächst fest, dass der Bf. bereits 25 Jahre lang mit seiner Frau verheiratet war, als sie die Genehmigung des Bezugs des tödlichen Medikaments beantragte. Es steht außer Zweifel, dass die beiden eine sehr enge Beziehung unterhielten. Der Bf. begleitete seine Frau während ihres Leidens und akzeptierte und unterstützte schließlich ihren Wunsch, ihr Leben zu beenden. Er reiste mit ihr in die Schweiz, um diesen Wunsch zu erfüllen. Sein persönliches Engagement wird auch daran deutlich, dass er das verwaltungsgerichtliche Verfahren gemeinsam mit seiner Frau anstrengte und nach ihrem Tod im eigenen Namen weiterverfolgte. Unter diesen außergewöhnlichen Umständen akzeptiert der GH, dass der Bf. ein starkes und fortbestehendes Interesse an einer Entscheidung in der Sache über den ursprünglichen Antrag hatte.

Wie der GH weiters feststellt, betrifft der vorliegende Fall grundlegende Fragen rund um den Wunsch eines Patienten, sein Leben selbstbestimmt zu beenden. Diese sind von allgemeinem Interesse und gehen über die Person und die Interessen sowohl des Bf. als auch seiner verstorbenen Frau hinaus. Dies zeigt sich auch an der Tatsache, dass ähnliche Fragen wiederholt an den GH herangetragen wurden.

Der GH muss sich schließlich dem Argument der Regierung zuwenden, dem Bf. hätte kein eigenes Recht eingeräumt werden müssen, den Antrag seiner Frau zu verfolgen, da sie den Ausgang des Verfahrens vor den innerstaatlichen Gerichten hätte abwarten können. Dazu stellt der GH fest, dass die Frau des Bf. bereits knapp einen Monat nach Erhebung des Einspruchs gegen die Verweigerung des tödlichen Medikaments in der Schweiz Selbstmord beging. Das innerstaatliche Verfahren wurde nach drei Jahren und neun Monaten abgeschlossen. Selbst unter der Annahme, dass die Gerichte das Verfahren zügiger geführt hätten, wäre die Frau des Bf. noch am Leben gewesen, ist es nicht Sache des GH zu entscheiden, ob sie den Ausgang des Verfahrens abwarten hätte sollen, nachdem sie sich entschieden hatte, ihrem Leben nach einer langen Phase des Leidens ein Ende zu setzen.

Angesichts dieser Überlegungen, insbesondere der besonders engen Beziehung zwischen dem Bf. und seiner Frau und seiner unmittelbaren Beteiligung an der Realisierung ihres Wunsches, ihr Leben zu beenden, kann der Bf. behaupten, von der Weigerung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, den Bezug einer tödlichen Dosis Natrium-Pentobarbital zu genehmigen, direkt betroffen gewesen zu sein.

Der GH erinnert an sein Urteil im Fall Pretty/GB, in dem er nicht ausschließen konnte, dass es einen Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung ihre Privatlebens begründete, sie daran zu hindern, ihre Entscheidung auszuführen, ein ihrer Ansicht nach unwürdiges und qualvolles Ende zu vermeiden. In Haas/CH anerkannte der GH, dass das Recht einer Person zu entscheiden, wie und wann ihr Leben enden sollte, ein Aspekt des Rechts auf Achtung des Privatlebens iSv. Art. 8 EMRK ist.

Schließlich erwägt der GH, dass Art. 8 EMRK selbst in einem Fall ein Recht auf gerichtliche Überprüfung enthalten kann, in dem das in Frage stehende materielle Recht noch nicht festgestellt wurde.

Angesichts dieser Überlegungen gelangt der GH zu dem Ergebnis, dass die Ablehnung des Antrags durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und die Weigerung der Verwaltungsgerichte, die Rechtsmittel des Bf. in der Sache zu prüfen, einen Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privatlebens iSv. Art. 8 EMRK begründete.

Zur Vereinbarkeit mit Art. 8 Abs. 2 EMRK

Der GH wird die Beschwerde zunächst unter dem verfahrensrechtlichen Aspekt von Art. 8 EMRK prüfen. Weder das Oberverwaltungsgericht noch das BVerfG prüften den ursprünglichen Antrag in der Sache. Zwar äußerte sich das Verwaltungsgericht Köln in einem obiter dictum zur Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, doch verweigerten die Verwaltungsgerichte eine Prüfung des von der Frau des Bf. ursprünglich geltend gemachten Anspruchs in der Sache.

Da diese Verweigerung einer Entscheidung in der Sache keinem legitimen Ziel diente, hat eine Verletzung des Rechts des Bf. auf gerichtliche Prüfung seines Antrags in der Sache stattgefunden.

Zum substantiellen Aspekt der Beschwerde unter Art. 8 EMRK betont der GH, dass die in der Konvention garantierten Rechte und Freiheiten nach Art. 1 EMRK durch die Vertragsstaaten gesichert werden sollen. Die nationalen Systeme selbst sollen Abhilfe gegen Verstöße gegen die Konvention schaffen.

Dieser Grundsatz gilt umso mehr bei Beschwerden, die einen Bereich betreffen, wo der Staat einen bedeutenden Ermessensspielraum genießt. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten erlaubt keine Form der Beihilfe zum Selbstmord. Die Konventionsstaaten sind weit davon entfernt, hier einen Konsens zu erreichen, was auf einen beträchtlichen Ermessensspielraum hinweist.

In Hinblick auf den Grundsatz der Subsidiarität ist es nach Ansicht des GH in erster Linie Sache der innerstaatlichen Gerichte, den Anspruch des Bf. in der Sache zu prüfen. Wie der GH oben festgestellt hat, sind sie verpflichtet, eine Entscheidung in der Sache zu treffen. Der GH beschränkt sich darauf, im Rahmen der vorliegenden Beschwerde den prozessualen Aspekt von Art. 8 EMRK zu prüfen.

Die Weigerung der innerstaatlichen Gerichte, den Antrag des Bf. in der Sache zu prüfen, begründete eine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung der durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte der Ehefrau des Bf.

Die Frage, ob der Bf. sich über eine Verletzung der Rechte seiner verstorbenen Frau beschweren kann, wurde in der Zulässigkeitsentscheidung mit der Entscheidung in der Sache verbunden.

Im Fall Sanles Sanles/E stellte der GH fest, dass das unter Art. 8 EMRK geltend gemachte Recht auf straflose Beihilfe zum Selbstmord, selbst unter der Annahme, dass ein solches existiert, höchstpersönlicher Natur sei und in die Kategorie der nicht übertragbaren Rechte falle. Die Bf. konnte sich daher als Schwägerin der Verstorbenen nicht in deren Namen auf dieses Recht berufen, weshalb die Beschwerde unzulässig war. In weiteren Beschwerden bekräftigte der GH, dass Art. 8 EMRK grundsätzlich nicht übertragbarer Natur sei und daher Beschwerden nicht von engen Verwandten oder anderen Nachfolgern des unmittelbaren Opfers verfolgt werden könnten.

Es wurden keine ausreichenden Gründe vorgebracht, die im vorliegenden Fall ein Abgehen von der ständigen Rechtsprechung rechtfertigen könnten. Der Bf. hat keine Beschwerdebefugnis, um die Rechte seiner Frau unter Art. 8 EMRK geltend zu machen, da es sich bei diesen um nicht übertragbare Rechte handelt. Da der GH allerdings eine Verletzung der eigenen Rechte des Bf. festgestellt hat, ist er selbst dann nicht des Schutzes der Konvention beraubt, wenn er sich nicht auf die Rechte seiner Frau stützen kann.

Die Beschwerde über eine behauptete Verletzung der Rechte der verstorbenen Ehefrau des Bf. unter Art. 8 EMRK ist ratione personae unvereinbar mit der Konvention und daher für unzulässig zu erklären (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK

Angesichts der Feststellungen unter Art. 8 EMRK erachtet es der GH nicht als notwendig zu prüfen, ob auch eine Verletzung des durch Art. 13 und Art. 6 Abs. 1 EMRK geschützten Rechts des Bf. auf Zugang zu einem Gericht stattgefunden hat (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 2.500,– für immateriellen Schaden, € 26.736,25 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Maria Sanles Sanles/E v. 26.10.2000 (ZE)

Pretty/GB v. 29.4.2002 = NL 2002, 91 = EuGRZ 2002, 234 = ÖJZ 2003, 311

Haas/CH v. 20.1.2011 = NL 2011, 20

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 19.7.2012, Bsw. 497/09 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 249) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_4/Koch.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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