EGMR Bsw24027/07

EGMRBsw24027/0710.4.2012

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Babar Ahmad u.a. gg. das Vereinigte Königreich, Urteil vom 10.4.2012, Bsw. 24027/07, Bsw. 11949/08, Bsw. 36742/08, Bsw. 66911/09 und Bsw. 67354/09

 

Spruch:

Art. 3 EMRK, Art. 39 EMRK - Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe durch Auslieferung an die USA.

Verbindung der Beschwerden des Erst-, Dritt-, Viert-, Fünft- und SechstBf. (einstimmig).

Aufschieben der Untersuchung der Beschwerde des ZweitBf. (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerden des Fünft- und SechstBf. hinsichtlich der Anhaltung im ADX Florence, der Auferlegung von Special Administrative Measures und der Länge der möglichen Strafen (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerden des Fünft- und SechstBf. im Übrigen (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 3 EMRK für den Fall der Auslieferung des Erst-, Dritt-, Fünft- und SechstBf. an die USA hinsichtlich der Anhaltung im ADX Florence und der Auferlegung von Special Administrative Measures (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 3 EMRK für den Fall der Auslieferung des Erst-, Dritt-, Viert-, Fünft- und SechstBf. an die USA hinsichtlich der Länge der möglichen Strafen (einstimmig).

Aufrechterhaltung der Empfehlung an die Regierung nach Art. 39 der VerfO, die Bf. bis auf Weiteres nicht auszuliefern (einstimmig).

Begründung

Sachverhalt:

Die im Vereinigten Königreich aufhältigen Bf. wurden in den USA wegen verschiedenen terroristischen Aktivitäten angeklagt. Die USA verlangten ihre Auslieferung.

Der ErstBf. wurde 2004 der Begehung von vier Schwerverbrechen zwischen 1997 und 2004 beschuldigt, darunter der Unterstützung von Terroristen. Eine ähnliche Anklage erfolgte 2006 gegen den DrittBf.

Der ViertBf. wurde 2004 wegen elf unterschiedlichen Straftaten angeklagt, darunter eine Geiselnahme in Jemen 1998. Der ZweitBf. wurde in Zusammenhang mit der Errichtung eines Jihad-Trainingscamps in Oregon 2005 als Mitverschwörer des ViertBf. angeklagt.

Der FünftBf. wurde 1999 in vier Punkten rund um seine Beteiligung an den Bombenanschlägen auf die amerikanischen Botschaften in Nairobi und Daressalam 1998 angeklagt. Der SechstBf. wurde im gleichen Kontext in 285 Punkten – vor allem wegen Mordes – beschuldigt.

Am 15.11.2005 ordnete der Secretary of State die Auslieferung des ErstBf. an, am 1.3.2006 jene des ZweitBf. Die Berufungen der beiden wurden vom High Court am 30.11.2006 zurückgewiesen. Die Berufung an das House of Lords wurde von diesem am 6.6.2007 verweigert.

Auch gegenüber dem DrittBf. ordnete der Secretary of State am 14.6.2007 die Auslieferung an. Der Berufung an den High Court war gleichfalls kein Erfolg beschieden und wurde auch ihm keine Anrufung des House of Lords gestattet.

Hinsichtlich des ViertBf. wurde vom Secretary of State am 7.2.2008 die Auslieferung an die USA verfügt. Der High Court wies eine Berufung des ViertBf. am 20.6.2008 zurück. Eine Anrufung des House of Lords wurde auch ihm nicht ermöglicht.

Einwände des FünftBf. und des SechstBf. gegen eine Auslieferung an die USA wurden vom Secretary of State am 12.3.2008 zurückgewiesen. Der High Court bestätigte diese Entscheidung am 7.8.2009. Eine Berufung an den Supreme Court, der mittlerweile vom House of Lords die Funktion als oberste Berufungsinstanz übernommen hatte, wurde nicht gestattet.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügen eine Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe) einerseits dadurch, dass sie in den USA im ADX Florence(Anm: Die Administrative Maximum Facility Florence ist ein Hochsicherheitsgefängnis im US-Bundesstaat Colorado für besonders gefährliche Straftäter.) angehalten werden würden, wo die Haftbedingungen dieser Bestimmung nicht entsprächen, und sogenannten Special Administrative Measures (SAMS)(Anm: Diese »Besonderen Verwaltungsmaßnahmen« zielten insbesondere darauf ab, den Kontakt eines Häftlings mit der Außenwelt zu minimieren, um nationale Sicherheitsinteressen zu wahren.) unterworfen würden. Andererseits würden sie im Falle einer Verurteilung Strafen erhalten, die Art. 3 EMRK verletzen würden.

Verbindung der Beschwerden

Wegen dem ähnlichen faktischen und rechtlichen Hintergrund der Beschwerden des Erst-, Dritt-, Viert-, Fünft- und SechstBf. beschließt der GH, diese zu verbinden (einstimmig).

Die Beschwerde des ZweitBf. wird dagegen gesondert behandelt. Da der GH weitere Eingaben der Parteien benötigt, wird die Untersuchung der Beschwerde des ZweitBf. aufgeschoben (einstimmig).

Art. 3 EMRK und Auslieferung

Bevor der GH auf den Inhalt der Beschwerden eingeht, ist es notwendig, die Vorbringen der Parteien hinsichtlich der Bedeutung des Auslieferungskontexts für Beschwerden unter Art. 3 EMRK zu beachten.

Das House of Lords hat in seinem Urteil Wellington ein Spannungsverhältnis zwischen Soering/GB und Chahal/GB erkannt, das nach einer Klarstellung der geeigneten Handhabung von Art. 3 EMRK in Auslieferungsfällen verlangt. Der GH beobachtet, dass die Schlussfolgerungen der Mehrheit des House of Lords in diesem Fall von drei Unterscheidungen abhingen, die in der Rechtsprechung des GH ausgemacht wurden.

Die erste Unterscheidung erfolgte zwischen Auslieferungsfällen und sonstigen Fällen der Entfernung vom Gebiet eines Vertragsstaates. Die Frage, ob in einem anderen Staat die reale Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung gegeben ist, kann nicht von der rechtlichen Grundlage der Verbringung in diesen Staat abhängen. Die Rechtsprechung des GH hat gezeigt, dass in der Praxis nur kleine Unterschiede zwischen Auslieferungen und anderen Verbringungen vorliegen können.

Die zweite Unterscheidung betraf Folter und andere Formen der Misshandlung nach Art. 3 EMRK. Für diese Unterscheidung kann im Urteil Soering/GB in der Tat eine Stütze gefunden werden. Der GH muss daher untersuchen, ob dieser Ansatz in der weiteren Rechtsprechung des GH bestätigt wurde.

Der GH befindet, dass diese Unterscheidung leichter im nationalen Kontext getroffen werden kann, wo der GH dazu aufgerufen ist, Handlungen zu beurteilen, die bereits stattgefunden haben. Wo – wie im extraterritorialen Kontext – eine vorausschauende Einschätzung erforderlich ist, ist es nicht immer möglich, festzustellen, ob die Misshandlung, die sich im Empfangsstaat ergibt, ausreichend schwerwiegend sein wird, um als Folter qualifiziert werden zu können. Außerdem ist die gegenständliche Unterscheidung leichter in Fällen zu treffen, wo die Gefahr der Misshandlung ihre Ursache in Umständen hat, die nicht direkt oder indirekt die Verantwortlichkeit der Behörden des Empfangsstaats begründen.

Deshalb hat der GH, wann immer er befunden hat, dass eine beabsichtigte Entfernung aufgrund der realen Gefahr einer Misshandlung im Empfangsstaat Art. 3 EMRK verletzen würde, Abstand davon genommen, zu überlegen, ob die fragliche Misshandlung als Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe zu charakterisieren ist.

Die dritte Unterscheidung erfolgte zwischen der Einschätzung des erforderlichen Mindestmaßes an Schwere im nationalen Kontext und dieser Einschätzung im extraterritorialen Kontext. Der GH wiederholt seine in Chahal/GB getätigte Feststellung, dass aus dem Urteil Soering/GB nicht abgeleitet werden kann, dass es Raum dafür gibt, die Gefahr einer Misshandlung gegen die Gründe für die Ausweisung abzuwägen, um festzustellen, ob die Verantwortlichkeit eines Staates unter Art. 3 EMRK gegeben war. Dies wurde vom GH in Saadi/I bestätigt. Der GH befindet, dass bei der Einschätzung, ob das unter Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erreicht worden ist, der gleiche Ansatz gewählt werden muss: Auch dies kann lediglich unabhängig von den Gründen für die Verbringung oder Auslieferung beurteilt werden.

Die Rechtsprechung des GH seit Soering/GB bestätigt diesen Ansatz. Sogar in Auslieferungsfällen, wo eine Beschwerde nach Art. 3 EMRK vorlag, die die Gefahr einer lebenslangen Haft ohne Entlassungsmöglichkeit betraf, konzentrierte sich der GH darauf, ob die Gefahr eine reale war oder ob sie durch diplomatische und staatsanwaltliche Zusicherungen des Empfangsstaates abgeschwächt wurde. In diesen Fällen versuchte der GH nicht festzustellen, ob die Schwelle unter Art. 3 EMRK im Hinblick auf die im Urteil Soering/GB dargelegten Umstände erreicht wurde. Ebenso hat der GH in Fällen, in denen keine solchen Zusicherungen vorlagen bzw. diese unangemessen waren, nicht auf den Auslieferungskontext zurückgegriffen, um festzustellen, ob eine Verletzung von Art. 3 EMRK vorliegen würde, wenn die Auslieferung erfolgen sollte. In den 22 Jahren nach Soering/GB hat der GH in der Tat nie die Verhältnismäßigkeit einer beabsichtigten Auslieferung oder anderen Verbringung aus einem Vertragsstaat geprüft. In diesem Ausmaß ist der GH von seinem im Urteil Soering/GB verfolgten Ansatz abgewichen.

Als Auslegungshilfe kann der Ansatz herangezogen werden, den der Menschenrechtsausschuss hinsichtlich des Verbots der Folter und Misshandlung nach Art. 7 IPBPR verfolgt hat. Seine Allgemeine Bemerkung Nr. 20 macht klar, dass Art. 7 IPBPR ein Refoulementverbot sowohl vorsieht, wenn eine reale Gefahr für Folter besteht, als auch dann, wenn eine reale Gefahr für sonstige Misshandlungen besteht. Dieser Ansatz wird auch von Art. 19 GRC bestätigt, dessen Wortlaut klarmacht, dass er ohne Berücksichtigung des Auslieferungskontexts und ohne Unterscheidung zwischen Folter und sonstiger Formen von Misshandlung anzuwenden ist.

Der GH kommt daher zum Ergebnis, dass die Rechtsprechung in Chahal/GB in gleichem Maß auf Auslieferung und sonstige Verbringung aus dem Gebiet eines Vertragsstaates angewendet werden sollte sowie ohne Unterschied zwischen den verschiedenen von Art. 3 EMRK verbotenen Formen von Misshandlung.

Die absolute Natur von Art. 3 EMRK bedeutet jedoch nicht, dass jede Form von Misshandlung als Hindernis für die Verbringung aus einem Vertragsstaat wirkt.

Umstände, die im Zusammenhang mit der Misshandlung von Häftlingen entscheidend dafür waren, dass der GH eine Verletzung von Art. 3 EMRK annahm, hingen stets eng von den Umständen des Einzelfalles ab und werden daher nicht leicht vorausblickend in einem Ausweisungs- oder Auslieferungszusammenhang begründet werden können.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK hinsichtlich der Bedingungen im ADX Florence

Der GH hat die Beschwerden des Erst-, Zweit- und DrittBf. in seiner Entscheidung vom 6.7.2010 für zulässig erklärt. Die Beschwerde des ViertBf. hat er für unzulässig erklärt.

Der GH erachtet die Beschwerden des Fünft- und SechstBf. hinsichtlich des ADX Florence und der Auferlegung von Special Administrative Measures als nicht von jenen des Erst- und DrittBf. unterscheidbar. Da die Beschwerden des Fünft- und SechstBf. daher nicht offensichtlich unbegründet und auch nicht aus einem andern Grund unzulässig sind, müssen sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Allgemeine Grundsätze

Vollständige sensorische Deprivation in Verbindung mit totaler sozialer Isolation kann die Persönlichkeit zerstören und stellt eine Form von unmenschlicher Behandlung dar, die nicht durch die Erfordernisse der Sicherheit oder andere Gründe gerechtfertigt werden kann.

Andere Formen der Einzelhaft können ebenfalls Art. 3 EMRK verletzen. Alle Formen der Einzelhaft ohne geeignete geistige oder körperliche Stimulierung können auf lange Sicht schädigende Auswirkungen haben und zum Verfall der geistigen und sozialen Fähigkeiten führen.

Das Verbot von Kontakt zu anderen Häftlingen aus Sicherheits-, Disziplinar- oder Schutzgründen stellt dagegen nicht per se eine unmenschliche Behandlung oder Strafe dar. Ob eine solche Maßnahme Art. 3 EMRK unterfällt, hängt von den besonderen Bedingungen, der Strenge der Maßnahme, ihrer Dauer, dem verfolgten Ziel und ihren Auswirkungen auf die betroffene Person ab.

Bei der Beurteilung von Haftbedingungen kommt weiters der Verfügbarkeit und Dauer von Bewegung im Freien eine besondere Bedeutung zu.

Im Fall psychisch Kranker ist weiters deren Verwundbarkeit und gegebenenfalls ihr Unvermögen zu berücksichtigen, sich schlüssig oder überhaupt darüber zu beschweren, wie sie von einer bestimmten Behandlung in Mitleidenschaft gezogen werden. Es ist deshalb in solchen Fällen erhöhte Wachsamkeit von Nöten.

Anwendung der allgemeinen Grundsätze auf den vorliegenden Fall

Hinsichtlich des Erst-, Dritt-, Fünft- und SechstBf. hat die Regierung akzeptiert, dass zumindest die reale Gefahr einer Anhaltung im ADX Florence besteht.

Es scheint nicht in Streit zu stehen, dass die physischen Bedingungen im ADX Florence die Anforderungen von Art. 3 EMRK erfüllen. Die Beschwerden der Bf. beziehen sich vielmehr auf das angebliche Fehlen von prozessualen Schutzmechanismen und die restriktiven Bedingungen im ADX sowie das Fehlen menschlichen Kontakts.

Der GH sieht keine Grundlage für die Annahme, dass eine Inhaftierung im ADX ohne prozessuale Schutzmechanismen stattfindet. Die von den USA beigebrachten Beweise zeigen, dass nicht alle Gefängnisinsassen, die wegen Straftaten im Zusammenhang mit internationalem Terrorismus verurteilt wurden, im ADX untergebracht wurden. Die Bf. haben nicht dargetan, dass sie im ADX lediglich als Ergebnis der Verurteilung wegen einer terroristischen Straftat angehalten würden. Das Federal Bureau of Prisons wendet vielmehr zugängliche und vernünftige Kriterien für die Entscheidung an, ob jemand ins ADX überstellt wird. Es werden in hohem Maß ranghohe Beamte miteinbezogen, die außerhalb der aktuellen Anstalt des Insassen stehen. Deren Einbeziehung sowie die Tatsache, dass vor einer Überstellung eine Anhörung abgehalten wird, schaffen ein geeignetes Maß an prozessualem Schutz. Es stehen zudem für den Fall, dass der Überstellungsprozess unzureichend sein sollte, Rechtsbehelfe zur Verfügung.

Hinsichtlich des zweiten Beschwerdepunktes der restriktiven Bedingungen im ADX trifft es zwar zu, dass die Bf. nicht körperlich gefährlich sind und der GH bei Entscheidungen, über Häftlinge, die nicht gefährlich sind oder sich ordnungswidrig verhalten, Einzelhaft zu verhängen, besonders aufmerksam sein muss. Wie allerdings die aktuelle Anhaltung der Bf. in britischen Hochsicherheitsgefängnissen zeigt, hätten die US-Behörden gute Gründe, die Bf. nach einer Verurteilung als bedeutendes Sicherheitsrisiko anzusehen, das strenge Beschränkungen hinsichtlich ihrer Möglichkeiten, mit der Außenwelt zu kommunizieren, rechtfertigt. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die US-Behörden ihre Einschätzung hinsichtlich des Sicherheitsrisikos, das die Bf. darstellen, nicht ständig überprüfen würden. Das Federal Bureau of Prisons verfügt über etablierte Verfahren zur regelmäßigen Überprüfung der Sicherheitsklassifizierung eines Insassen.

Der Zweck in manchen Einheiten des ADX besteht darin, jeglichen physischen Kontakt zwischen den Insassen zu verhindern und die soziale Interaktion zwischen diesen und dem Personal zu minimieren. Das bedeutet jedoch nicht, dass Häftlinge in völliger sensorischer oder sozialer Isolation gehalten werden. So wird ein breites Spektrum an Stimulierung in den Zellen angeboten, wie Fernseh- und Radiokanäle, Zeitungen, Bücher und mehr. Etwaige Einschränkungen stehen meistens in einer vernünftigen Relation zu den Zielen des ADX-Regimes. Die Angebote im ADX werden ergänzt durch regelmäßige Anrufe, Besuche und die Möglichkeit für Insassen, auch solchen unter Special Administrative Measures, mit ihren Familien zu korrespondieren.

Der GH befindet, dass angemessene Gelegenheiten für Interaktion zwischen Insassen bestehen. Während sie sich in ihrer Zelle befinden, ist ein Sprechen mit anderen Häftlingen zwar lediglich über das Lüftungssystem möglich. In der Freizeit können sie jedoch ohne Behinderung kommunizieren.

Einzelhaft kann allerdings nicht auf unbestimmte Zeit auferlegt werden. Wäre ein Bf. der realen Gefahr einer Anhaltung auf unbestimmte Zeit im ADX ausgesetzt, könnten die Bedingungen das Mindestmaß an Schwere erreichen, das für eine Verletzung von Art. 3 EMRK erforderlich ist. Dies mag für jene Insassen zutreffen, die eine bedeutende Zeitspanne im ADX zugebracht haben. Das von den US-Behörden vorgelegte Zahlenmaterial zeigt allerdings, dass für die Bf. eine echte Möglichkeit gegeben ist, Aufnahme in ein Herabstufungsprogramm zu finden. Es gibt wegen internationalem Terrorismus verurteilte Häftlinge, die Eingang in das Herabstufungsprogramm gefunden und es teilweise auch beendet haben und danach in andere Anstalten verbracht wurden.

Hinsichtlich des vom Erst-, Dritt- und FünftBf. vorgebrachten Umstands, dass sie an psychischen Problemen leiden, scheint es nicht, dass die im ADX verfügbaren psychiatrischen Dienste diese nicht behandeln könnten. Keine Verletzung von Art. 3 EMRK hinsichtlich der möglichen Anhaltung der Bf. im ADX (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK hinsichtlich der den Bf. drohenden Strafen

Der GH hat die Beschwerden des Erst-, Dritt- und ViertBf. in seiner Entscheidung vom 6.7.2010 für zulässig erklärt.

Der GH erachtet die Beschwerden des Fünft- und SechstBf. als nicht von jenen des Erst-, Dritt- und ViertBf. unterscheidbar. Da die Beschwerden des Fünft- und SechstBf. daher nicht offensichtlich unbegründet und auch nicht aus einem anderen Grund unzulässig sind, müssen sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Der GH erachtet es zunächst als notwendig zu untersuchen, ob im Kontext einer Verbringung in einen anderen Staat eine grob unverhältnismäßige Strafe Art. 3 EMRK verletzen würde und wo im Verlaufe einer lebenslangen oder zumindest sehr langen Strafe eine Frage unter Art. 3 EMRK auftauchen könnte.

Obwohl Fragen des geeigneten Strafmaßes grundsätzlich außerhalb des Anwendungsbereichs der Konvention fallen, kann eine grob unverhältnismäßige Strafe zum Zeitpunkt ihrer Verhängung eine Art. 3 EMRK widersprechende Misshandlung darstellen. Aus dem rechtsvergleichenden Material ergibt sich allerdings auch, dass der Test sehr streng ist und dies nur in seltenen und einzigartigen Fällen gegeben sein wird.

Für die zweite Frage ist es – vorbehaltlich des allgemeinen Erfordernisses, dass eine Strafe nicht grob unverhältnismäßig sein darf – notwendig, drei Arten von lebenslänglichen Strafen zu unterscheiden: solche, die die Möglichkeit einer Entlassung nach Verbüßen einer Mindestzeit vorsehen; solche, die keine Möglichkeit zur Entlassung vorsehen, aber deren Verhängung eine Ermessensfrage darstellt; und solche, die keine Möglichkeit zur Entlassung vorsehen und zwingend zu verhängen sind.

Die erste Art Strafe ist klar reduzierbar und kann daher keine Frage unter Art. 3 EMRK aufwerfen.

Verhängt ein Gericht im Rahmen seines Ermessens nach angemessener Berücksichtigung aller relevanten Milderungs- und Erschwerungsgründe eine lebenslängliche Freiheitsstrafe, kann zum Zeitpunkt der Verhängung dieser Strafe auch keine Frage unter Art. 3 EMRK auftauchen. Dies ist lediglich möglich, wenn nachgewiesen werden kann, dass die anhaltende Inhaftierung des Bf. nicht länger aus berechtigten Strafzwecken wie Bestrafung, Abschreckung, Schutz der Öffentlichkeit oder Resozialisierung gerechtfertigt werden kann und – wie die Große Kammer in Kafkaris/CY festgestellt hat – die Strafe de facto und de iure nicht reduzierbar ist.

Für zwingend vorgesehene lebenslängliche Freiheitsstrafen ohne Möglichkeit zur Entlassung ist eine genauere Untersuchung erforderlich, da eine zwingend vorgesehene Strafe dem Angeklagten nicht die Möglichkeit bietet, dem verurteilenden Gericht irgendwelche Milderungsgründe oder besonderen Umstände darzulegen.

Obwohl der Trend in Europa eindeutig gegen solche Strafen geht, bedeutet dies nicht, dass eine solche Strafe per se mit der Konvention unvereinbar ist. Sie kann allerdings bedeutend leichter grob unverhältnismäßig sein als die anderen Arten von lebenslangen Freiheitsstrafen, insbesondere, wenn das urteilende Gericht dadurch dazu angehalten wird, mildernde Umstände nicht zu berücksichtigen, die allgemein ein bedeutend geringeres Maß an Schuld des Angeklagten indizieren, wie seine Jugend oder schwerwiegende psychische Probleme.

Bei Fehlen einer solchen erheblichen Unverhältnismäßigkeit kann für eine zwingend vorgesehene lebenslängliche Freiheitsstrafe ohne Möglichkeit zur Entlassung gleich wie bei einer solchen, deren Verhängung im Ermessen liegt, eine Frage unter Art. 3 EMRK nur dann auftauchen, wenn nachgewiesen wird, dass die anhaltende Inhaftierung des Bf. nicht länger aus berechtigten Strafzwecken gerechtfertigt werden kann und die Strafe de facto und de iure nicht reduzierbar ist.

Der Erst-, Dritt-, Viert- und SechstBf. sehen sich lebenslangen Strafen gegenüber, die im Ermessen der verhängenden Behörde liegen.

Zunächst ist es keineswegs sicher, dass die Bf. im Falle der Auslieferung wegen der ihnen vorgehaltenen Anklagepunkte verurteilt würden. Selbst wenn, ist es ebensowenig sicher, dass die im Ermessen liegenden lebenslangen Freiheitsstrafen verhängt würden. Der GH wird allerdings davon ausgehen, dass solche Freiheitsstrafen zumindest möglich sind.

Zweitens muss untersucht werden, ob solche Strafen grob unverhältnismäßig wären. Alle den Bf. vorgehaltenen Straftaten betreffen in der einen oder anderen Form eine Verstrickung in oder Unterstützung von Terrorismus. Angesichts der Ernsthaftigkeit von terroristischen Straftaten und des Umstands, dass die lebenslangen Strafen den Bf. erst auferlegt werden könnten, nachdem der Richter alle erschwerenden und mildernden Umstände in Betracht gezogen hat, befindet der GH, dass im Ermessen liegende Freiheitsstrafen in ihren Fällen nicht grob unverhältnismäßig wären.

Drittens erachtet der GH angesichts dessen, dass bislang keiner der Bf. verurteilt wurde oder gar begonnen hat, eine Strafe zu verbüßen, dass die Bf. nicht gezeigt haben, dass ihre Inhaftierung in den USA keinem berechtigten Strafzweck dienen würde. Wenn sie verurteilt werden und im Ermessen stehende lebenslange Freiheitsstrafen erhalten, kann es gut sein, dass der Punkt, an dem eine fortdauernde Haft nicht mehr länger einem entsprechenden Zweck dient, niemals erreicht wird. Es ist noch unsicherer, dass dann, wenn dieser Punkt einmal erreicht werden sollte, sich die US-Behörden weigern würden, die Mechanismen zu nutzen, die zur Verminderung der Strafen verfügbar sind.

Die genannten Bf. haben daher nicht dargetan, dass die reale Gefahr einer Behandlung gegeben wäre, die die Schwelle des Art. 3 EMRK erreicht. Keine Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).

Der FünftBf. sieht sich 269 Anklagen wegen Mordes gegenüber und somit vielfachen lebenslangen Strafen ohne Entlassungsmöglichkeit. Der GH erachtet eine zwingend vorgesehene Freiheitsstrafe für solche Straftaten nicht als grob unverhältnismäßig, insbesondere da der Bf. keine Beweise für besondere Umstände beigebracht hat, die ein erheblich niedrigeres Maß an Schuld indizieren würden. Würde er wegen dieser Taten verurteilt, ist es schwer, mildernde Umstände zu ersinnen, die ein Gericht dazu führen würden, eine geringere Strafe zu verhängen als eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne Möglichkeit zur Entlassung, selbst wenn es das Ermessen dazu hätte. Wie die anderen Bf. hat auch der FünftBf. nicht gezeigt, dass eine Inhaftierung in den USA nicht einem legitimen Strafzweck dienen würde. Auch er hat daher nicht dargetan, dass im Fall seiner Auslieferung die reale Gefahr einer Behandlung gegeben wäre, die die Schwelle von Art. 3 EMRK erreicht. Keine Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).

Weitere Beschwerden des Fünft- und SechstBf.

Der Fünft- und SechstBf. brachten zehn weitere Beschwerdepunkte vor. Diese sind jedoch allesamt offensichtlich unbegründet und daher als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

Zur Anwendung von Art. 39 VerfO

Die Empfehlung, die der GH gegenüber der Regierung in Anwendung von Art. 39 VerfO ausgesprochen hat, nämlich die Bf. bis auf Weiteres nicht auszuliefern, bleibt in Kraft, bis das vorliegende Urteil rechtskräftig wird oder bis der Ausschuss der Großen Kammer einen Antrag einer oder beider Parteien annimmt, die Sache nach Art. 43 EMRK an die Große Kammer zu verweisen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Soering/GB v. 7.7.1989 = EuGRZ 1989, 314

Chahal/GB v. 15.11.1996 (GK) = NL 1996, 168 = ÖJZ 1997, 632

Iorgov/BG v. 11.3.2004

Léger/F v. 11.4.2006

Ramirez Sanchez/F v. 4.7.2006 (GK) = NL 2006, 185 = EuGRZ 2007, 141

Kafkaris/CY v. 12.2.2008 (GK) = NL 2008, 24

Saadi/I v. 28.2.2008 (GK) = NL 2008, 36

A. B./RUS v. 14.10.2010

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 10.4.2012, Bsw. 24027/07 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 114) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_2/Babar Ahmad u.a..pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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