EGMR Bsw25551/05

EGMRBsw25551/051.7.2010

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Vladimir Petrovich Korolev gegen Russland, Zulässigkeitsentscheidung vom 1.7.2010, Bsw. 25551/05.

 

Spruch:

Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK - Unzulässigkeit mangels erheblichen Nachteils.

Unzulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Begründung

Sachverhalt:

Der Bf. brachte vor dem Bezirksgericht Verkh-Isetskiy Klage gegen den Leiter der Pass- und Visaabteilung der Regionaldirektion für Inneres mit der Begründung ein, dieser habe ihm den Zugang zu Dokumenten verweigert, die sich auf eine Säumnis bei der Ausstellung seines neuen Reisepasses bezögen.

Am 25.9.2001 wies das Bezirksgericht die Klage des Bf. ab. Am 13.11.2001 hob das Landesgericht Sverdlovskiy diese Entscheidung jedoch auf und verwies den Fall an das Bezirksgericht zurück.

Am 16.4.2002 gab das Bezirksgericht dem Antrag des Bf. statt und ordnete den Zugang zu allen Dokumenten und Unterlagen betreffend seine Passausstellung an. Des Weiteren beschloss es, dass die Pass- und Visaabteilung dem Bf. RUB 22,50 als Ersatz für Gerichtsgebühren zu leisten habe. Das Urteil wurde am 4.7.2002 rechtskräftig.

Dem Sachverhalt lässt sich nicht entnehmen, ob dem Bf. tatsächlich Zugang zu seinem Akt gewährt wurde. Alle weiteren, von ihm unternommenen Schritte bezogen sich auf den Erhalt der vom Gericht zugesprochenen RUB 22,50. So erließ das Bezirksgericht am 22.7.2002 einen Vollstreckungsbefehl gegen die Pass- und Visaabteilung. Am 28.4.2003 wurde das Vollstreckungsverfahren eröffnet.

Am 15.12.2003 brachte der Bf. Säumnisbeschwerde gegen den Gerichtsvollzieher ein. Da die Beschwerde nicht die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen erfüllte, forderte das Bezirksgericht den Bf. auf, diese Mängel zu beheben. Das Gericht entschied jedoch auch nach Ergänzung der Beschwerde, diese aufgrund nicht erfüllter verfahrensrechtlicher Voraussetzungen zurückzuweisen. Das Landesgericht Sverdlovskiy hat diese Entscheidung bestätigt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums), da die nationalen Behörden es verabsäumt hätten, ihm den zugesprochenen Geldbetrag auszubezahlen.

Der GH muss klären, ob die Beschwerde zulässig nach Art. 35 EMRK in seiner durch das 14. Prot. EMRK geänderten Fassung ist.

Es erscheint angemessen, den Fall unter dem mit dem 14 Prot. EMRK neu eingeführten Zulässigkeitskriterium nach Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK zu untersuchen. Zweck dieses neuen Kriteriums ist es, aussichtslose Fälle schneller abzuhandeln und dem GH damit zu ermöglichen, sich auf den Menschenrechtsschutz in Europa zu konzentrieren.

Hauptelement des neuen Zulässigkeitskriteriums ist die Frage, ob der Bf. einen erheblichen Nachteil erlitten hat. Dieser Ausdruck lässt Raum für Interpretation und es liegt am GH, objektive Kriterien dafür zu entwickeln. Dem Erfordernis des erheblichen Nachteils liegt die Idee zugrunde, dass eine Rechtsverletzung ein Mindestmaß an Schwere aufweisen muss, um die Behandlung durch ein internationales Gericht zu rechtfertigen. Die Schwere der Konventionsverletzung ist unter Berücksichtigung der subjektiven Wahrnehmung des Bf. und aufgrund dessen, was im konkreten Fall objektiv auf dem Spiel steht, zu beurteilen.

Der GH ist erstaunt über die geringe Höhe des Vermögensverlusts, der den Bf. zur Beschwerdeerhebung veranlasst hat und der umgerechnet weniger als einen Euro beträgt. Zwar kann auch ein geringer Vermögensschaden in Anbetracht der persönlichen Situation des Bf. oder der wirtschaftlichen Lage der Region, in der er lebt, bedeutend sein, jedoch war der hier angesprochene Betrag für den Bf. zweifellos nur minimal von Belang.

Der GH ist sich bewusst, dass eine Konventionsverletzung auch wichtige Grundsatzfragen aufwerfen und so einen erheblichen Nachteil begründen kann, ohne ein geldwertes Interesse zu berühren. Dies wäre prinzipiell auch im vorliegenden Fall möglich, doch hat sich der Bf. lediglich auf die Geltendmachung seines Vermögensschadens beschränkt und nicht etwa die mangelnde Vollstreckung seines Anspruchs oder sein Recht auf Akteneinsicht bei der Pass- und Visaabteilung gerügt. Auch wenn aus Sicht des Bf. die Zahlung der RUB 22,50 eine wichtige Grundsatzfrage aufwarf, so muss dieser persönliche Eindruck doch durch objektive Gründe gerechtfertigt sein, was vorliegend nicht der Fall ist. Deshalb befindet der GH, dass der Bf. durch die behauptete Konventionsverletzung keinen erheblichen Nachteil erleiden musste.

Das zweite Element des neuen Zulässigkeitskriteriums ist als Sicherheitsklausel gedacht und verpflichtet den GH dazu, die Behandlung der Beschwerde auch ohne Vorliegen eines erheblichen Nachteils fortzusetzen, wenn die Achtung der in der Konvention und ihren Protokollen garantierten Rechte dies erfordert. In diesem Fall muss der GH die Beschwerde auch dann prüfen, wenn andere Umstände für die Streichung der Beschwerde aus der Liste sprechen.

Derselbe Wortlaut wird auch in Art. 37 Abs. 1 EMRK und in Art. 38 Abs. 1 EMRK verwendet. Unter diesen Bestimmungen wurde eine Überprüfung als erforderlich angesehen, wenn der Fall eine generelle Frage zur Befolgung der Konvention aufwarf. Eine solche Frage kann beispielsweise auftreten, wenn Bedarf besteht, eine aus der Konvention erwachsende Verpflichtung eines Staates zu erklären oder ein Staat ein strukturelles Problem lösen muss, das andere Personen betrifft, die sich in der gleichen Position wie der Bf. befinden. Vorliegend sieht der GH keine Notwendigkeit, den Fall in der Sache zu untersuchen. Das in Russland bestehende strukturelle Problem der Nichtvollstreckung innerstaatlicher Urteile und die diesbezügliche Notwendigkeit zur Ergreifung genereller Maßnahmen wurden bereits in zahlreichen Fällen angesprochen.

Eine Beschwerde kann jedoch nicht zurückgewiesen werden, wenn sie nicht gebührend von einem nationalen Gericht geprüft wurde. Dieses Prinzip ist als zweite Sicherheitsklausel gedacht und entspricht dem Subsidiaritätsprinzip. Ziel ist, auf nationaler oder europäischer Ebene eine gerichtliche Überprüfung zu ermöglichen und so eine Rechtsverweigerung zu verhindern.

Im vorliegenden Fall wurden die Vorbringen des Bf. innerstaatlich in zwei Instanzen geprüft und seinen Anträgen stattgegeben. Zwar wurde die Beschwerde gegen den Gerichtsvollzieher aufgrund formaler Unzulänglichkeiten abgelehnt, da der Bf. nach wiederholter Aufforderung des Gerichts die angesprochenen Mängel nicht beheben konnte. Dass dagegen kein weiterer Rechtsweg verfügbar war, hindert die Anwendbarkeit des neuen Zulässigkeitskriteriums nicht.

Diese Beschwerde wurde gemäß Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK auf nationaler Ebene gebührend geprüft. Der GH erklärt sie daher für unzulässig (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Can/A v. 30.9.1985, EuGRZ 1986, 274.

Soering/GB v. 7.7.1989, EuGRZ 1989, 314.

Hornsby/GR v. 19.3.1997, ÖJZ 1998, 236.

Burdov/RUS v. 7.5.2002, NL 2002, 94.

Burdov/RUS (Nr. 2) v. 15.1.2009, NL 2009, 17.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 1.7.2010, Bsw. 25551/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 207) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Die Zulässigkeitsentscheidung im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_04/Korolev.pdf

Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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