Normen
VwGVG 2014 §28 Abs1
VwGVG 2014 §31
VwGVG 2014 §31 Abs1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2023030046.L00
Spruch:
Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die revisionswerbende Partei stellte am 16. Dezember 2021 gemäß § 32 Epidemiegesetz 1950 einen Antrag auf Vergütung für den Verdienstentgang durch die behördliche Absonderung eines bestimmten Dienstnehmers und führte dabei den Zeitraum der Absonderung mit 20. Oktober 2021 bis 2. November 2021 an.
2 Mit Bescheid vom 30. November 2022 wies die belangte Behörde diesen Antrag ab.
3 Gegen diesen Bescheid erhob die revisionswerbende Partei mit Schriftsatz vom 7. Dezember 2022 Beschwerde.
4 Mit dem angefochtenen Beschluss stellte das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich das Verfahren über diese Beschwerde gemäß § 31 Abs. 1 iVm. § 28 VwGVG ein und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
5 Begründend stellte das Verwaltungsgericht fest, mit Schreiben vom „06.02.2022“ (gemeint wohl: 2023) habe die revisionswerbende Partei die gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 30. November 2022 erhobene Beschwerde zurückgezogen. Rechtlich folgerte es, ein beim Verwaltungsgericht anhängiges Beschwerdeverfahren sei mit Beschluss einzustellen, wenn die Beschwerde rechtswirksam zurückgezogen werde.
6 Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit unter Verweis auf Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes geltend macht, der vom Verwaltungsgericht angenommene Sachverhalt stimme nicht mit den vorgelegten Akten überein. Mit an die belangte Behörde gerichtetem Schreiben vom 2. Februar 2023 habe die revisionswerbende Partei ihren bisher unerledigten Vergütungsantrag vom 15. Mai 2020 betreffend den Zeitraum von 31. März 2020 bis 13. April 2020 unter Beifügung des Antragsformulars vom 15. Mai 2020 zurückgezogen. Hingegen ergebe sich der vom Verwaltungsgericht festgestellte Sachverhalt mangels Zurückziehung der gegen den Bescheid vom 30. November 2022 erhobenen Beschwerde nicht aus den Akten. Hätte das Verwaltungsgericht die aktenwidrige Feststellung, dass die Beschwerde zurückgezogen worden sei, nicht getroffen, wäre die im angefochtenen Beschluss verfügte Einstellung des Beschwerdeverfahrens unterblieben. Die dargestellte Aktenwidrigkeit sei somit auch relevant.
7 Nach Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof erstattete die belangte Behörde eine Revisionsbeantwortung, in der sie ausführt, aufgrund des dem Schreiben der revisionswerbenden Partei vom 2. Februar 2023 angeschlossenen Antrags, der sich auf den Zeitraum 31. März 2020 bis 13. April 2020 bezogen habe, sei bereits ersichtlich gewesen, dass die Zurückziehung einen bislang noch nicht bei der Behörde eingelangten Antrag betroffen habe. Das Schreiben vom 2. Februar 2023 sei jedoch fälschlicherweise dem beim Verwaltungsgericht anhängigen Verfahren betreffend den Vergütungsantrag vom 16. Dezember 2021 zugeordnet worden.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Die Revision ist im Sinne des angeführten Zulässigkeitsvorbringens zulässig und auch begründet.
9 Vorauszuschicken ist, dass es sich bei dem angefochtenen, das Beschwerdeverfahren einstellenden Beschluss um einen mit Revision anfechtbaren verfahrensbeendenden Beschluss handelt (vgl. VwGH 3.5.2018, Ra 2018/19/0020, mwN).
10 Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung können nicht nur solche des materiellen Rechts, sondern auch solche des Verfahrensrechts sein, etwa bei Verletzung tragender Grundsätze des Verfahrensrechts oder dann, wenn der vom Verwaltungsgericht angenommene Sachverhalt in unvertretbarer Weise nicht mit den vorgelegten Akten übereinstimmt, also Aktenwidrigkeit vorliegt (vgl. VwGH 1.9.2022, Ra 2021/03/0095, mwN).
11 Aktenwidrigkeit liegt vor, wenn die Entscheidung in ihrer Begründung von Sachverhalten ausgeht, die sich aus dem Akt überhaupt nicht oder nicht in der angenommenen Weise ergeben, wenn also die Feststellung jener tatsächlichen Umstände unrichtig ist, die für den Spruch der Entscheidung ausschlaggebend sind (vgl. VwGH 2.9.2021, Ra 2021/09/0095, mwN).
12 Ein solcher Fall liegt hier vor: Wie die Revision zu Recht rügt, ergibt sich die entscheidungsmaßgebliche Feststellung der Zurückziehung der Beschwerde vom 7. Dezember 2022 nicht aus dem Akteninhalt. Mit einem ‑ an die belangte Behörde gerichteten und im Akt aufliegenden ‑ Schreiben vom 2. Februar 2023 erklärte die revisionswerbende Partei, den „angeschlossene[n] Antrag“ zurückzuziehen. Diesem Schreiben war ein mit 15. Mai 2020 datierter Antrag auf Vergütung für den Verdienstentgang für den Zeitraum von 31. März 2020 bis 13. April 2020 angeschlossen. Den vorgelegten Akten ist hingegen nicht zu entnehmen, dass die revisionswerbende Partei die gegen den abweisenden Bescheid über den Vergütungsantrag vom 16. Dezember 2021 gerichtete Beschwerde vom 7. Dezember 2022 (oder diesen Antrag) zurückgezogen hätte.
13 Da die aktenwidrige Feststellung im angefochtenen Beschluss für die rechtliche Beurteilung des Verwaltungsgerichts, das Beschwerdeverfahren sei einzustellen, wesentlich war (vgl. erneut VwGH 1.9.2022, Ra 2021/03/0095, mwN), belastete das Verwaltungsgericht seine Entscheidung mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.
14 Der angefochtene Beschluss war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. a VwGG aufzuheben.
15 Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
16 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 7. August 2023
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