Normen
NAG 2005 §28 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §24
VwGVG 2014 §28 Abs2
VwGVG 2014 §28 Abs3
VwGVG 2014 §28 Abs3 zweiter Satz
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022220028.L00
Spruch:
Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Mit Bescheid vom 5. November 2021 stellte der Landeshauptmann von Wien (belangte Behörde, Revisionswerber) gestützt auf § 28 Abs. 1 Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetz (NAG) fest, dass das unbefristete Niederlassungsrecht des Mitbeteiligten, eines 1987 geborenen türkischen Staatsangehörigen, der zuletzt über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt ‑ EU“ verfügt habe, beendet sei.
Die belangte Behörde führte dazu begründend aus, im Strafregister würden betreffend den Mitbeteiligten drei (näher dargestellte, aus den Jahren 2015, 2017 bzw. 2018 stammende) Verurteilungen (in den ersten beiden Fällen wegen Vergehen nach dem Suchtmittelgesetz, im dritten Fall wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB) aufscheinen.
Da der Mitbeteiligte somit mehrfach wegen auf gleicher schädlicher Neigung beruhenden strafbaren Handlungen und zu einer bedingten Freiheitsstrafe von (mindestens) sechs Monaten rechtskräftig verurteilt worden sei, lägen die Voraussetzungen des § 52 Abs. 5 iVm § 53 Abs. 3 Z 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) vor. Eine Rückkehrentscheidung könne aber ‑ wie auch der Stellungnahme des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 13. August 2021 zu entnehmen sei ‑ in Hinblick auf § 9 BFA‑VG nicht erlassen werden. Aufgrund der vom Mitbeteiligten verwirklichten Straftatbestände stelle dieser eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Gesundheit, Sicherheit und Ordnung dar. Auch bestehe bei Suchtgiftkriminalität erfahrungsgemäß ein starkes Wiederholungspotential. Durch die wiederholten strafbaren Handlungen, sogar innerhalb offener Probezeiten, manifestiere sich die Gleichgültigkeit des Mitbeteiligten gegenüber dem österreichischen Rechtssystem. Aus diesen Gründen könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Mitbeteiligte auch in Hinkunft Suchtgiftdelikte zur Finanzierung seiner eigenen Sucht begehen werde, zumal er laufend Mindestsicherung beziehe und nicht vorgebracht habe, nicht mehr suchtgiftabhängig zu sein. Das Gesamtbild zeige ‑ trotz der dem Mitbeteiligten mehrfach gewährten bedingten Strafnachsicht ‑ ein wiederkehrendes deliktisches Verhalten innerhalb von vier Jahren. Ein Wohlverhaltenszeitraum von drei Jahren sei definitiv zu kurz, um davon ausgehen zu können, dass der Mitbeteiligte keine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit mehr darstelle.
Die Voraussetzungen für eine Rückstufung gemäß § 28 Abs. 1 NAG lägen somit vor.
2 Mit dem angefochtenen Beschluss vom 31. Dezember 2021 gab das Verwaltungsgericht Wien der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten Folge, behob den bekämpften Bescheid und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurück. Die ordentliche Revision erklärte das Verwaltungsgericht gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG für unzulässig.
Das Verwaltungsgericht stellte zunächst die von der belangten Behörde getätigten Ermittlungen dar (Einholung von Auszügen aus diversen Registern, Anforderung der Strafurteile, Anfrage beim BFA betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung, Einräumung von Parteiengehör).
In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Verwaltungsgericht zunächst aus, § 28 Abs. 1 NAG komme nur zur Anwendung, wenn die Voraussetzungen des § 52 Abs. 5 FPG für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorlägen. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes mache es die bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung anzustellende Gefährdungsprognose erforderlich, eine das Gesamtverhalten des Fremden berücksichtigende Prognosebeurteilung vorzunehmen. Dabei sei aufgrund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und in Hinblick auf welche Umstände die anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt sei.
Vorliegend habe die belangte Behörde die geforderte Prognoseentscheidung auf der Grundlage „valider“ Feststellungen zur Gänze unterlassen. Für die Beurteilung von Art und Schwere der Straftaten genüge es nicht, lediglich auf den Urteilsspruch der gerichtlichen Strafurteile zu verweisen und darauf die Prognoseentscheidung zu stützen, ohne sich mit den konkreten Tatumständen auseinanderzusetzen. Ermittlungen im Hinblick auf das sich aus den Straftaten ergebende Persönlichkeitsbild, denen nach der höchstgerichtlichen Rechtsprechung „besonders entscheidungserhebliche Bedeutung“ zukomme, seien zur Gänze unterlassen worden. In Bezug auf die Gefährdungsprognose sei von besonderer Bedeutung, sich im Rahmen einer mündlichen Verhandlung einen unmittelbaren persönlichen Eindruck zu verschaffen. Im vorliegenden Fall sei dem Mitbeteiligten seitens der belangten Behörde lediglich die Gelegenheit zu einer schriftlichen Stellungnahme eingeräumt worden, eine mündliche Anhörung sei aber unterblieben. Diese Vorgehensweise rechtfertige die Annahme, dass die belangte Behörde die notwendigen Ermittlungen unterlassen habe, damit diese durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden würden.
Im fortgesetzten Verfahren werde die belangte Behörde die gebotene Beurteilung insbesondere im Wege einer persönlichen Anhörung des Mitbeteiligten und ‑ sollte sie sich außer Stande sehen, das Persönlichkeitsbild des Mitbeteiligten aus eigenem zu beurteilen ‑ auch im Wege der Einholung eines psychologischen Fachgutachtens zu treffen haben. Darüber hinaus werde sich die belangte Behörde in rechtlicher Hinsicht unter Bezugnahme auf die insgesamt weitgehend schlüssig erscheinenden Beschwerdeausführungen auch eingehend mit Art und Schwere der dem Mitbeteiligten angelasteten Delinquenz und den näheren Umständen der jeweiligen Tatbegehung auseinandersetzen müssen.
3 Gegen diesen Beschluss wendet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision.
4 Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der er primär die Abweisung der Revision beantragt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
5 Der Revisionswerber bringt zur Zulässigkeit der Revision vor, das Verwaltungsgericht sei von näher angeführter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG abgewichen. Der Revisionswerber habe geeignete Ermittlungsschritte gesetzt, indem er Auszüge aus dem Fremdenregister, dem Zentralen Melderegister und dem Strafregister eingeholt sowie einen Versicherungsdatenauszug erstellt habe. Weiters habe er die Strafurteile von den jeweiligen Gerichten angefordert und sich mit den konkreten Straftaten auseinandergesetzt. Beim BFA sei angefragt worden, ob aufgrund der strafgerichtlichen Verurteilungen die Voraussetzungen für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorlägen. Wenn das Verwaltungsgericht eine weitere Ermittlungstätigkeit bzw. die Durchführung einer mündlichen Verhandlung für erforderlich erachte, hätte es diese selbst durchführen müssen. Angesichts der getätigten Ermittlungen des Revisionswerbers könne nicht davon gesprochen werden, dieser habe jegliche Ermittlungstätigkeiten unterlassen, lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt. Krasse bzw. gravierende Ermittlungslücken im Sinn der erwähnten Judikatur lägen daher nicht vor.
Die Revision ist unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B‑VG zulässig und auch berechtigt.
6 Zu den für kassatorische Entscheidungen gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG geltenden Voraussetzungen ist auf das Erkenntnis VwGH 26.6.2014, Ro 2014/03/0063 (siehe insbesondere Pkt. II.B.2.6.), zu verweisen. Demnach ist ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte gesetzlich festgelegt. Die nach § 28 VwGVG verbleibenden Ausnahmen von der meritorischen Entscheidungspflicht sind strikt auf den ihnen gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken. Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden. Eine Zurückverweisung zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt hat oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte bestehen, dass die Verwaltungsbehörde Ermittlungen unterlassen hat, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden. Selbst Bescheide, die in der Begründung dürftig sind, rechtfertigen keine Zurückverweisung, wenn brauchbare Ermittlungsergebnisse vorliegen, die im Zusammenhalt mit einer allfälligen mündlichen Verhandlung (§ 24 VwGVG) zu vervollständigen sind (vgl. zu allem auch VwGH 12.1.2023, Ra 2019/22/0150, Pkt. 6.1., mwN).
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat ferner bereits hervorgehoben, dass das Verwaltungsgericht nachvollziehbar zu begründen hat, wenn es eine meritorische Entscheidungszuständigkeit (ausnahmsweise) als nicht gegeben annimmt. Das Verwaltungsgericht hat daher darzulegen, dass und aus welchen Gründen die Voraussetzungen für eine Sachentscheidung nach § 28 Abs. 2 VwGVG nicht erfüllt sind, insbesondere in welcher Weise der entscheidungsrelevante Sachverhalt nicht feststeht und inwiefern allenfalls erforderliche Ergänzungen nicht vom Verwaltungsgericht selbst vorzunehmen wären (vgl. etwa VwGH 17.6.2019, Ra 2018/22/0058, Pkt. 5.2., mwN).
8 Für den Verwaltungsgerichtshof ist ausgehend von den Ausführungen des Verwaltungsgerichtes im angefochtenen Beschluss vorliegend nicht zu sehen, dass Ermittlungsmängel vorlägen, die im Sinn der obigen Erörterungen das Fehlen der Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG für eine meritorische Entscheidung durch das Verwaltungsgericht nach sich ziehen und damit zu einer Aufhebung und Zurückverweisung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG führen könnten.
9 Wie aus den Verwaltungsakten ersichtlich und in der Revision vorgebracht, wurden hinsichtlich der vom Mitbeteiligten begangenen Straftaten vom Revisionswerber ua. die Strafurteile und ein Strafregisterauszug beigeschafft. Zudem wurde dem Mitbeteiligten die Möglichkeit eingeräumt, dazu schriftlich Stellung zu nehmen, wovon dieser mit Schreiben vom 22. Oktober 2021 Gebrauch machte. Im Bescheid des Revisionswerbers finden sich auch Feststellungen zu den vom Mitbeteiligten begangenen Straftaten.
10 Davon ausgehend kann nicht gesagt werden, der Revisionswerber habe die Ermittlungen im Hinblick auf das sich aus den Straftaten ergebende Persönlichkeitsbild zur Gänze unterlassen. Auf Grundlage dieser brauchbaren Ermittlungsergebnisse können vom Verwaltungsgericht ‑ nach allfälliger Vervollständigung im Rahmen einer mündlichen Verhandlung ‑ die erforderlichen Tatsachenfeststellungen getroffen werden, um die Voraussetzungen für die Rückstufung gemäß § 28 Abs. 1 NAG beurteilen zu können. Auch die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung kann für sich genommen eine kassatorische Entscheidung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG nicht rechtfertigen (vgl. etwa VwGH 20.6.2017, Ra 2017/18/0117, Rn. 15, mwN). Soweit das Verwaltungsgericht die mögliche Beiziehung eines psychologischen Sachverständigen ins Treffen führt, ist darauf hinzuweisen, dass auch die Einholung eines Sachverständigengutachtens eine Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG für sich allein nicht rechtfertigt (vgl. VwGH 22.3.2018, Ra 2017/01/0287, Rn 33, mwN).
11 Dem angefochtenen Beschluss ist schließlich auch keine Begründung zu entnehmen, warum die Ergänzung des Ermittlungsverfahrens durch das Verwaltungsgericht selbst nicht im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden wäre (vgl. VwGH 18.4.2018, Ra 2018/22/0015, Rn. 11, mwN).
12 Da das Verwaltungsgericht somit zu Unrecht eine kassatorische Entscheidung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG getroffen hat, war der angefochtene Beschluss gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.
Wien, am 24. August 2023
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)
