VwGH Ra 2021/21/0116

VwGHRa 2021/21/011611.5.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant und die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätinnen Dr. Julcher und Dr. Wiesinger als Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, gegen das am 4. Jänner 2021 mündlich verkündete und mit 23. Februar 2021 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, W283 2238127‑1/12E, betreffend Schubhaft (mitbeteiligte Partei: S A [auch: S A], derzeit unbekannten Aufenthalts, vor dem Verwaltungsgericht vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs‑ und Unterstützungsleistungen GmbH in 1020 Wien, Leopold‑Moses‑Gasse 4), zu Recht erkannt:

Normen

EURallg
FrPolG 2005 §67 Abs1
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2
FrPolG 2005 §76 Abs6
VwGG §42 Abs2 Z1
VwRallg
32008L0115 Rückführungs-RL Art15 Abs1
32013L0033 Aufnahme-RL Art8 Abs3 litd

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021210116.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird im bekämpften Umfang (Spruchpunkte A.II., A.III. und A.V.) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Dem Mitbeteiligten, einem tunesischen Staatsangehörigen, wurde am 28. November 2020 die von Österreich aus (zu Fuß) versuchte Einreise nach Deutschland im Zuge einer Kontrolle durch die deutschen Zollbehörden verweigert. Nach seiner Rücküberstellung wurde der Mitbeteiligte zunächst gemäß § 39 FPG festgenommen. Bei der anschließenden Befragung durch ein Sicherheitsorgan gab der Mitbeteiligte ausdrücklich an, keinen Antrag auf internationalen Schutz stellen zu wollen. Für den Fall der Freilassung würde er sich sofort selbständig nach Italien, sein nunmehr angegebenes Zielland, begeben.

2 In der Folge verhängte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Mandatsbescheid vom 28. November 2020 über den Mitbeteiligten gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und zur Sicherung der Abschiebung. Unter einem leitete das BFA ein Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme ein.

3 Am 2. Dezember 2020 stellte der Mitbeteiligte während der Anhaltung in Schubhaft einen Antrag auf internationalen Schutz. Noch am selben Tag hielt das BFA in einem (dem Mitbeteiligten ausgehändigten) Aktenvermerk fest, dass die Schubhaft gemäß § 76 Abs. 6 FPG aufrecht bleibe, weil „zum jetzigen Zeitpunkt“ im Sinne der genannten Bestimmung Gründe für die Annahme bestünden, der Antrag auf internationalen Schutz sei vom Mitbeteiligten (nur) zur Verzögerung der Vollstreckung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gestellt worden. Am nächsten Tag wurde dem Mitbeteiligten noch ein weiterer in diesem Sinn verfasster, nach Durchführung der Erstbefragung im Verfahren auf internationalen Schutz ergänzter Aktenvermerk übergeben.

4 Der vom Mitbeteiligten gestellte Antrag auf internationalen Schutz wurde mit Bescheid des BFA vom 21. Dezember 2020 vollinhaltlich abgewiesen. Unter einem erging gegen ihn, verbunden mit der Feststellung der Zulässigkeit seiner Abschiebung nach Tunesien, eine Rückkehrentscheidung, wobei einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung aberkannt und demzufolge keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt wurde.

5 Gegen den Schubhaftbescheid und die darauf gegründete Anhaltung erhob der Mitbeteiligte am 28. Dezember 2020 eine Beschwerde, über die das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) am 4. Jänner 2020 mündlich verhandelte. Mit dem am Ende dieser Verhandlung verkündeten Erkenntnis wurde die Beschwerde hinsichtlich des Schubhaftbescheides und der Anhaltung des Mitbeteiligten in Schubhaft vom 28. November 2020 bis 2. Dezember 2020 gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG iVm § 22a Abs. 1 BFA‑VG als unbegründet abgewiesen (Spruchpunkt A.I.). Allerdings wurde die Anhaltung des Mitbeteiligten in Schubhaft ab 2. Dezember 2020 bis 4. Jänner 2021 gemäß § 76 Abs. 6 FPG in Stattgebung der Beschwerde für rechtswidrig erklärt (Spruchpunkt A.II.). Unter einem stellte das BVwG gemäß § 22a Abs. 3 BFA‑VG fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht vorlägen (Spruchpunkt A.III.). Schließlich wurden die Anträge des Mitbeteiligten und des BFA auf Kostenersatz abgewiesen (Spruchpunkte A.IV und A.V.). Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG noch aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B.). Über fristgerechten Antrag des BFA wurde dieses Erkenntnis mit 23. Februar 2021 schriftlich ausgefertigt.

6 Gegen die Spruchpunkte A.II. und A.III. dieses Erkenntnisses sowie gegen dessen Spruchpunkt A.V. richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision des BFA. Darüber hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens ‑ der Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung ‑ erwogen:

7 Die über den Mitbeteiligten mit Bescheid des BFA vom 28. November 2020 verhängte Schubhaft wurde auf § 76 Abs. 2 Z 2 FPG, der in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungs‑RL) seinen unionsrechtlichen Hintergrund hat, gestützt. Danach darf Schubhaft nur angeordnet werden, wenn dies zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme nach dem 8. Hauptstück des FPG (hier: einer Rückkehrentscheidung) oder zur Sicherung der Abschiebung notwendig ist, sofern jeweils Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen erachtete das BVwG für gegeben, weshalb es die Beschwerde, soweit sie sich gegen die Schubhaftanordnung und die Anhaltung des Mitbeteiligten in Schubhaft bis zur Stellung des Antrags auf internationalen Schutz richtete, mit dem vom Mitbeteiligten unbekämpften Spruchpunkt A.I. des angefochtenen Erkenntnisses abwies.

8 Vorliegend geht es (zunächst) um die zeitlich anschließende ‑ von Spruchpunkt A.II. des angefochtenen Erkenntnisses umfasste, vom BVwG für rechtswidrig erachtete ‑ auf § 76 Abs. 6 FPG gestützte Aufrechterhaltung dieser Schubhaft auch nach Stellung des Antrags auf internationalen Schutz. Nach dieser Bestimmung kann die Schubhaft aufrechterhalten werden, wenn ein Fremder während seiner Anhaltung in Schubhaft einen Antrag auf internationalen Schutz stellt und Gründe zur Annahme bestehen, dass der Antrag ‑ ausschließlich ‑ „zur Verzögerung der Vollstreckung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme“ gestellt wurde (siehe zu dieser Bestimmung unter Einbeziehung von Vorjudikatur des Näheren zuletzt das Erkenntnis VwGH 8.4.2021, Ra 2021/21/0076, Rn. 11 bis 13 und Rn. 17 bis 19).

9 Angesichts des wiedergegebenen Wortlauts des § 76 Abs. 6 FPG vertrat das BVwG bei der Begründung von Spruchpunkt A.II. des angefochtenen Erkenntnisses die Auffassung, der Tatbestand sei bei der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz am 2. Dezember 2020 nicht erfüllt gewesen, weil noch keine gegen den Mitbeteiligten erlassene aufenthaltsbeendende Maßnahme (Rückkehrentscheidung) vorgelegen sei. Die Vollstreckung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme sei daher nicht möglich gewesen und daher sei es auch nicht möglich gewesen, dass der Mitbeteiligte den „Asylantrag“ (ausschließlich) zur Verzögerung der Vollstreckung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gestellt habe. Die Fortsetzung der Anhaltung in Schubhaft vom 2. Dezember 2020 bis 4. Jänner 2021 gemäß § 76 Abs. 6 FPG sei daher rechtswidrig gewesen.

10 Dem tritt das BFA in der Amtsrevision entgegen und es wirft in der Zulässigkeitsbegründung die ‑ mangels diesbezüglicher „konkreter“ Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes als grundsätzlich im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG angesehene ‑ Rechtsfrage auf, ob für die Anwendung des § 76 Abs. 6 FPG das Vorliegen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlich sei.

11 Die Amtsrevision erweist sich ‑ entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG ‑ zur Klärung dieser Rechtsfrage unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B‑VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.

12 Die Amtsrevision bezieht sich in diesem Zusammenhang zu Recht auf Art. 8 Abs. 3 lit. d der Richtlinie 2013/33/EU (Aufnahme‑RL), der mit § 76 Abs. 6 FPG im nationalen Recht abgebildet wird (vgl. neuerlich VwGH 8.4.2021, Ra 2021/21/0076, Rn. 12, mwN). Nach dieser unionsrechtlichen Regelung darf ein Antragsteller nur in Haft genommen werden, wenn er sich aufgrund eines Rückkehrverfahrens gemäß der Rückführungs‑RL zur Vorbereitung seiner Rückführung und/oder Fortsetzung des Abschiebungsverfahrens in Haft befindet und der betreffende Mitgliedstaat auf der Grundlage objektiver Kriterien, einschließlich der Tatsache, dass der Antragsteller bereits Gelegenheit zum Zugang zum Asylverfahren hatte, belegen kann, dass berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, er stelle den Antrag auf internationalen Schutz nur, um die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zu verzögern oder zu vereiteln.

13 Demnach setzt die Aufrechterhaltung einer Schubhaft nach der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz zunächst (nur) voraus, dass sich der Antragsteller „aufgrund eines Rückkehrverfahrens gemäß der Rückführungs‑RL zur Vorbereitung seiner Rückführung und/oder Fortsetzung des Abschiebungsverfahrens in Haft befindet“. Damit werden alle Fälle der Haft während eines anhängigen Rückkehrverfahrens nach Art. 15 Abs. 1 der Rückführungs‑RL erfasst, nämlich, „um“ im Sinne der genannten Richtlinienbestimmung „deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen“ (vgl. damit übereinstimmend auch Punkt 16 der Präambel zur Rückführungs‑RL). Damit im Einklang steht die innerstaatliche Norm des § 76 Abs. 2 Z 2 FPG, wonach ‑ wie schon in Rn. 7 erwähnt ‑ die Schubhaft zur notwendigen Sicherung des Verfahrens zur Erlassung (insbesondere) einer Rückkehrentscheidung oder zur Sicherung der Abschiebung angeordnet werden darf (vgl. dazu des Näheren VwGH 11.5.2017, Ro 2016/21/0021, Rn. 17 ff, insbesondere Rn. 28, zu § 76 Abs. 2 Z 1 FPG in der damals geltenden Fassung des FrÄG 2015). Das wird auch in der Amtsrevision im Ergebnis zutreffend aufgezeigt.

14 Die Anwendung des § 76 Abs. 6 FPG kommt daher in beiden Fällen einer zunächst gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG angeordneten Schubhaft in Betracht und setzt ‑ entgegen der Meinung des BVwG ‑ somit nicht voraus, dass im Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz während des Vollzugs einer solchen Schubhaft bereits eine Rückkehrentscheidung erlassen wurde. Dieser Auffassung steht auch nicht entgegen, dass sowohl in der genannten Bestimmung der Aufnahme‑RL als auch in § 76 Abs. 6 FPG auf eine Absicht zur Verzögerung bzw. Vereitelung der „Vollstreckung“ einer Rückkehrentscheidung abgestellt wird, weil eine Verzögerung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme letztlich immer auch die Verzögerung von deren Vollstreckung nach sich zieht (vgl. im Übrigen auch den zu VwGH 15.12.2020, Ra 2020/21/0079, entschiedenen Fall, in dem im Zeitpunkt der nach dem Beginn der Schubhaft erfolgten Stellung des Antrags auf internationalen Schutz ebenfalls noch keine aufenthaltsbeendende Maßnahme erlassen worden war und trotzdem von Seiten des Verwaltungsgerichtshofes keine Bedenken gegen die Anwendung des § 76 Abs. 6 FPG bestanden; siehe in diesem Sinn auch VwGH 27.8.2020, Ro 2020/21/0003, Rn. 19 bis 22).

15 Demnach erweist sich die auf einer vom Verwaltungsgerichtshof nicht geteilten Rechtsansicht des BVwG beruhende (teilweise) Beschwerdestattgebung mit Spruchpunkt A.II. des angefochtenen Erkenntnisses als inhaltlich rechtswidrig.

16 Das BVwG ging bei dem mit Spruchpunkt A.III. vorgenommenen (negativen) Fortsetzungsausspruch davon aus, die Schubhaft gegen den Mitbeteiligten komme nur nach dem Tatbestand des § 76 Abs. 2 Z 1 FPG in Betracht, dessen Voraussetzungen (wegen Fehlens einer Gefährdung im Sinne des § 67 FPG) jedoch nicht vorgelegen seien. Letzteres trifft zwar zu, doch liegt dieser Beurteilung des BVwG vorrangig ebenfalls zu Grunde, § 76 Abs. 6 FPG sei in der vorliegenden Konstellation nicht anzuwenden. Damit erweist sich aber auch dieser Spruchpunkt als inhaltlich rechtswidrig.

17 Demzufolge war das angefochtenen Erkenntnis im bekämpften Umfang ‑ die Spruchpunkte A.II. und A.III. sowie die den Kostenersatzantrag des BFA abweisende Entscheidung mit Spruchpunkt A.V. ‑ gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 11. Mai 2021

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