European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021180054.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Die revisionswerbenden Parteien sind Staatsangehörige Afghanistans und Angehörige der Volksgruppe der Hazara. Die Erstrevisionswerberin und der Zweitrevisionswerber sind miteinander verheiratet und die Eltern der minderjährigen dritt‑ bis fünftrevisionswerbenden Parteien.
2 Sie stellten am 22. November 2015 bzw. für den Fünftrevisionswerber nach dessen Geburt im November 2016 Anträge auf internationalen Schutz. Als Fluchtgrund brachten sie im Wesentlichen vor, dass näher genannte Familienangehörige des Zweitrevisionswerbers Mitglieder bei der mit den Taliban verfeindeten Partei „Hezb‑e Wahdat“ gewesen und deswegen bedroht bzw. getötet worden seien. Der Zweitrevisionswerber sei zudem in Streitigkeiten mit einem einflussreichen Mann paschtunischer Volksgruppenzugehörigkeit, dessen Grundstück er erworben habe, involviert gewesen. Dieser Mann habe den Zweitrevisionswerber inhaftieren lassen.
3 Mit Bescheiden vom 25. Mai 2017 (gemeint wohl: 25. Mai 2018) wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der revisionswerbenden Parteien zur Gänze ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte jeweils eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
4 Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies die dagegen erhobene Beschwerde, in der unter anderem eine „westliche“ Lebenseinstellung der Erstrevisionswerberin vorgebracht wurde, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten ab, gab der Beschwerde jedoch im Übrigen statt, erkannte den revisionswerbenden Parteien den Status subsidiär Schutzberechtigter zu und erteilte ihnen gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 befristete Aufenthaltsberechtigungen. Das BVwG sprach aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
5 Begründend führte das BVwG hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten aus, das Fluchtvorbringen der revisionswerbenden Parteien sei insbesondere vor dem Hintergrund ihrer vagen und unschlüssigen Schilderungen sowie näher genannter grob divergierender zeitlicher Angaben, etwa was die behauptete Inhaftierung des Zweitrevisionswerbers betreffe, nicht glaubhaft. Selbst aus einer allfälligen Gefährdung der Verwandten des Zweitrevisionswerbers lasse sich eine solche für die revisionswerbenden Parteien nicht ableiten, da der Zweitrevisionswerber zu keinem Zeitpunkt Mitglied der „Hezb‑e Wahdat“ oder in die vorgebrachten Streitigkeiten involviert gewesen und auch nicht von den Taliban persönlich bedroht worden sei. Die Erstrevisionswerberin sei keine „auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten, Frauen‑ und Gesellschaftsbild orientiert“ wäre. Ihr Alltag unterscheide sich nicht wesentlich von dem in Afghanistan und im Iran gelebten. Sie kümmere sich primär um den Haushalt und ihre Kinder und habe kein besonderes eigenes Engagement gezeigt, eine Arbeit zu finden. In der mündlichen Verhandlung habe letztlich nicht der Eindruck vermittelt werden können, dass es sich bei der Erstrevisionswerberin um eine in ihrer Grundeinstellung „westlich orientierte“ Frau handle, die der potentiellen Gefahr einer Verfolgung in ihrem Heimatstaat unterliegen würde. Sie habe eine „westliche Orientierung“, der eine selbstbestimmte und selbstverantwortliche Lebensweise immanent sei, weder nachhaltig verinnerlicht noch in ihrer alltäglichen Lebensführung verankert.
6 In der vorliegenden außerordentlichen Revision wird zur Begründung der Zulässigkeit zusammengefasst geltend gemacht, das vom Zweitrevisionswerber vorgelegte Schreiben der „Hezb‑e Wahdat“ sei vom BVwG bloß oberflächlich als „Gefälligkeitsschreiben“ gewertet worden und Feststellungen zum Inhalt des Schreibens würden gänzlich fehlen. Im Rahmen der amtswegigen Ermittlungspflicht hätte das BVwG zudem näher genannte, in Österreich wohnhafte Geschwister der erst‑ und zweitrevisionswerbenden Parteien einvernehmen und zum Sachverhalt befragen müssen. Es fehle dem Erkenntnis an einer nachvollziehbaren Begründung, warum diese Ermittlungsschritte unterlassen worden seien. Weiters wird vorgebracht, das BVwG habe als wesentliches Kriterium für das Vorliegen einer „westlichen Lebensweise“ der Erstrevisionswerberin das Erfordernis einer bestimmten „inneren Geisteshaltung“ herangezogen. Dieses Kriterium sei der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht zu entnehmen. Das von der Rechtsprechung verlangte Annehmen einer „westlichen Lebensführung“ könne nur eine nach außen hin wahrnehmbare Verhaltensweise darstellen. Bei dem Versuch des BVwG, die „innere Geisteshaltung“ der Erstrevisionswerberin zu erforschen, habe das BVwG eine mit den Denkgesetzen nicht in Einklang stehende Würdigung der Beweise vorgenommen.
7 Mit diesem Vorbringen wird die Zulässigkeit der Revision nicht dargetan.
8 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
9 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
10 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
11 Soweit sich die Revision gegen die Annahme der Unglaubhaftigkeit des Fluchtvorbringens (der Sache nach insbesondere gegen die vom BVwG in diesem Zusammenhang vorgenommene Beweiswürdigung) wendet, ist zu entgegnen, dass das BVwG umfassend auf dieses Vorbringen einging und schlüssig begründete, weshalb daraus keine asylrelevante Verfolgung für die revisionswerbenden Parteien im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan abzuleiten sei. Das BVwG hielt fest, dass dieses Vorbringen über weite Strecken nicht hinreichend substantiiert gewesen sei und die revisionswerbenden Parteien Afghanistan lediglich aufgrund subjektiver Befürchtungen verlassen hätten. Der Zweitrevisionswerber habe etwa lediglich Vermutungen angestellt, aus welchem Grund die Taliban seine Verwandten verfolgen würden, die Aktivitäten seiner Angehörigen, insbesondere seines von den Taliban angeblich ermordeten Cousins, bei der Partei „Hezb‑e Wahdat“ lediglich oberflächlich schildern und nicht darlegen können, warum die revisionswerbenden Parteien von den Taliban identifiziert und verfolgt werden hätten sollen. Eine Mitgliedschaft seiner Person bei der Partei „Hezb‑e Wahdat“ habe der Zweitrevisionswerber verneint und aus seinen Angaben ergebe sich, dass seine Familienangehörigen nicht mehr aktiv in der Partei tätig seien. Zum anderen lasse sich selbst bei Vorliegen einer Gefährdung der Verwandten des Zweitrevisionswerbers keine Gefährdung der revisionswerbenden Parteien erkennen, da der Zweitrevisionswerber zu keinem Zeitpunkt in die Streitigkeiten involviert gewesen oder von den Taliban persönlich bedroht worden und auch niemals in Afghanistan politisch aktiv gewesen sei. Davon ausgehend erläuterte das BVwG, warum dem vorgelegten Schreiben, aus dem nach dem Revisionsvorbringen die Mitgliedschaft des Vaters, des Bruders und des Onkels des Zweitrevisionswerbers bei der Partei „Hezb‑e Wahdat“ und die Ermordung des Cousins des Zweitrevisionswerbers durch die Taliban hervorgehe, keine maßgebliche Bedeutung beigemessen wurde. Eine Unvertretbarkeit dieser Erwägungen (zum diesbezüglichen Maßstab für das Vorliegen einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung vgl. etwa VwGH 11.3.2021, Ra 2021/18/0059) wird von der Revision nicht dargetan; die Behauptung, das BVwG habe sich mit dem genannten Schreiben nicht hinreichend auseinandergesetzt, trifft nicht zu.
12 Auch das Vorbringen, das BVwG habe zu Unrecht die ‑ im Verfahren nicht beantragte ‑ Einvernahme von in Österreich befindlichen Geschwistern der erst‑ und zweitrevisionswerbenden Parteien unterlassen, zeigt keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung auf: Die Frage, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner amtswegigen Ermittlungspflicht weitere Ermittlungsschritte setzen muss, unterliegt einer einzelfallbezogenen Beurteilung; eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung läge insoweit nur dann vor, wenn diese Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt wäre (vgl. VwGH 21.4.2021, Ra 2021/18/0123, mwN), was die Revision nicht darlegt.
13 Soweit sich die Revision schließlich gegen die Beurteilung des BVwG wendet, dass auch nicht aufgrund einer „westlichen Orientierung“ der Erstrevisionswerberin Asyl zu gewähren sei, ist Folgendes zu entgegnen:
14 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten „westlich“ orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren.
15 Nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrechterhalten werden könnte, führt jedoch dazu, dass der Asylwerberin deshalb internationaler Schutz gewährt werden muss. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist, und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (vgl. zum Ganzen VwGH 7.1.2021, Ra 2019/18/0451, mwN).
16 Das Revisionsvorbringen, das BVwG sei von der hg. Rechtsprechung abgewichen, indem es auf das Fehlen einer entsprechenden „inneren Geisteshaltung“ bzw. einer „verinnerlichten Einstellung“ der Erstrevisionswerberin und nicht bloß auf die „nach außen hin wahrnehmbare Verhaltensweise“ abgestellt habe, verkennt, dass es nach der oben zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes für die Asylgewährung aufgrund eines gelebten „westlich“ orientierten Lebensstils Voraussetzung ist, dass dieser zu einem wesentlichen Teil der Identität der Frau geworden ist und sie diesen im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr leben könnte. Der Revision ist daher nicht zuzustimmen, dass das vom BVwG herangezogene Erfordernis einer „verinnerlichten Einstellung“ zu der angenommenen Lebensweise keine Deckung in der hg. Rechtsprechung fände.
17 Das BVwG hat sich mit dem von der Erstrevisionswerberin erstatteten Vorbringen zu ihrer aktuellen Lebensweise eingehend auseinandergesetzt und kam letztlich ‑ nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ zu dem Ergebnis, dass die Erstrevisionswerberin eine selbstbestimmte und selbstverantwortliche Lebensweise nicht in ihrer alltäglichen Lebensführung verankert habe. Dazu erwog das BVwG unter Bedachtnahme auf die Lebenssituation der Erstrevisionswerberin als Mutter von minderjährigen Kindern, dass das Streben nach ‑ auch künftiger ‑ eigener Selbständigkeit bei der Erstrevisionswerberin im Entscheidungszeitpunkt nur in Ansätzen erkennbar sei. Sie tätige selbständig Einkäufe und habe in Österreich das Kopftuch abgelegt. Aufgrund ihrer geringen Deutschkenntnisse sei sie bei komplexeren Erledigungen auf die Unterstützung durch ihren Ehemann oder Betreuungseinrichtungen angewiesen. Sie habe keinen dezidierten Berufswunsch, und auch eine konkrete Planung ihrer beruflichen Ziele sei nicht erkennbar gewesen. Alleine das (Nicht‑)Tragen eines Kopftuches bzw. die Art der übrigen Bekleidung in der mündlichen Verhandlung reiche nicht aus, um eine „westliche Orientierung“ glaubhaft darzutun.
18 Die Revision hält diesen Erwägungen nichts Stichhaltiges entgegen und zeigt auch nicht auf, welche konkreten Umstände des Lebensstils der Erstrevisionswerberin vom BVwG im vorliegenden Fall übergangen worden wären. Eine Unvertretbarkeit der Beweiswürdigung legt die Revision somit nicht dar.
19 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 16. Juni 2021
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