VwGH Ra 2021/13/0067

VwGHRa 2021/13/00677.9.2022

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser, den Hofrat MMag. Maislinger sowie die Hofrätinnen Dr. Reinbacher und Dr.in Lachmayer und den Hofrat Dr. Bodis als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Schramel, über die Revision der Mag. R in M, vertreten durch die Deloitte Tax Wirtschaftsprüfungs GmbH in 1010 Wien, Renngasse 1, gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts vom 18. März 2021, Zl. RV/7100347/2021, betreffend Einkommensteuer 2018, zu Recht erkannt:

Normen

DBAbk Türkei 2009
DBAbk Türkei 2009 §15 Abs1
DBAbk Türkei 2009 §22
DBAbk Türkei 2009 §22 Abs1 litd
DBAbk Türkei 2009 §22 Abs2 litb
EStG 1988 §1 Abs2
EStG 1988 §3
EStG 1988 §3 Abs3
OECD-MusterAbk 1977 Art23a Abs3
VwRallg

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021130067.L00

 

Spruch:

Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.

Begründung

1 Die Revisionswerberin ist ‑ nach den Feststellungen des Bundesfinanzgerichts ‑ im Sinne des Doppelbesteuerungsabkommens Österreich‑Türkei (DBA‑Türkei) in der Türkei ansässig (Mittelpunkt der Lebensinteressen). Die Revisionswerberin hat einen Wohnsitz gemäß § 1 Abs. 2 EStG 1988 in Österreich und ist somit unbeschränkt steuerpflichtig. Sie bezieht u.a. Einkünfte aus einer ‑ teilweise in Österreich, teilweise in der Türkei oder Drittstaaten ausgeübten ‑ nichtselbständiger Arbeit. Im Zuge der Veranlagung der Einkommensteuer 2018 wurde unter anderem der der Türkei nach dem DBA‑Türkei zur Versteuerung zugewiesene Anteil der Einkünfte in Österreich zum Progressionsvorbehalt herangezogen.

2 Das Bundesfinanzgericht gab mit dem angefochtenen Erkenntnis der Beschwerde der Revisionswerberin teilweise ‑ in einem hier nicht relevanten Punkt ‑ Folge und berücksichtigte einen Progressionsvorbehalt. Nach Wiedergabe des Verfahrensganges führte das Bundesfinanzgericht aus, das DBA‑Türkei enthalte keine Aussage darüber, ob die Besteuerung von Einkünften durch den Staat, aus dem sie stammen, mit oder ohne Anwendung des Progressionsvorbehalts vorgenommen werden solle. Folglich sei die Anwendung des Progressionsvorbehalts nach dem DBA nicht unzulässig. Auch die Kommentare zum OECD‑Musterabkommen würden ausdrücklich besagen, dass die Anwendung des Progressionsvorbehalts durch den Staat, aus dem die Einkünfte stammten, nicht ausgeschlossen sei. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes begrenzten Doppelbesteuerungsabkommen nur eine sich aus originärem innerstaatlichen Steuerrecht ergebende Steuerpflicht. Ob ein Steueranspruch bestehe, sei zunächst stets nach innerstaatlichem Steuerrecht zu beurteilen. Gemäß § 1 Abs. 2 EStG 1988 seien jene natürlichen Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt hätten, unbeschränkt steuerpflichtig. Da im DBA‑Türkei keine Unzulässigkeit der Anwendung eines Progressionsvorbehalts durch den Staat, aus dem die Einkünfte stammten, vereinbart worden sei und eine solche auch nicht aus dem Telos des Abkommens abgeleitet werden könne, habe das Finanzamt bei der Ermittlung der Steuer auf das inländische Einkommen der Revisionswerberin zu Recht die ausländischen Einkünfte zwecks Anwendung eines Progressionsvorbehalts berücksichtigt. Die Revision wurde nicht zugelassen.

3 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, die zu ihrer Zulässigkeit vorbringt, dass zur Rechtsfrage, ob auch in jenen Fällen, in welchen in beiden Vertragsstaaten eine unbeschränkte Steuerpflicht gegeben sei, Österreich aber mangels Ansässigkeit rechtlich lediglich der Quellenstaat sei, der Progressionsvorbehalt zur Anwendung kommen könne, keine einschlägige Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes vorliege. Die Revisionswerberin sei in der Türkei ansässig, jedoch aufgrund eines Wohnsitzes in Österreich unbeschränkt steuerpflichtig. Die in der Türkei erzielten Einkünfte seien, entgegen der bisherigen Verwaltungspraxis und Judikatur, in Österreich zum Progressionsvorbehalt herangezogen worden, obwohl Österreich in diesem Fall lediglich der Quellenstaat sei. In der vom Bundesfinanzgericht zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes sei es um Fälle gegangen, bei denen Österreich Ansässigkeitsstaat gewesen sei. Die höchstgerichtliche Judikatur, die das Bundesfinanzgericht heranziehe, sei auf den vorliegenden Sachverhalt nicht anzuwenden. Das Bundesfinanzgericht stütze sich in seiner Argumentation im Wesentlichen auf den Wortlaut der Kommentierung des OECD‑Musterabkommens. Aus dieser Kommentierung ergebe sich zunächst aber eindeutig, dass ausdrücklich dem Ansässigkeitsstaat und nicht auch dem Quellenstaat ein Progressionsvorbehalt eingeräumt werde. Zwar werde auch angeführt, dass ein Abkommensverstoß nicht vorliege, wenn auch der Quellenstaat vom im Abkommen vorgesehenen Progressionsvorbehalt Gebrauch mache. Daraus sei jedoch nicht abzuleiten, dass das Abkommensrecht ein Besteuerungsrecht nach Maßgabe eines Progressionsvorbehalts für den Quellenstaat festlege, sondern einer derartigen Regelung im nationalen Einkommensteuerrecht lediglich nicht entgegenstehe. In Österreich gebe es allerdings keine explizite Regelung hinsichtlich des Progressionsvorbehalts. Wenn Österreich lediglich die Position des Quellenstaats zukomme, sei ein Progressionsvorbehalt nicht zulässig. Anhand von innerstaatlichen Steuerbefreiungen in § 3 EStG 1988 ergebe sich, dass der Progressionsvorbehalt nicht alleine aus § 1 Abs. 2 EStG 1988 abgeleitet werden könne. Die innerstaatlichen Steuerbefreiungen gemäß § 3 EStG 1988 würden in der Regel nämlich nicht progressionserhöhend wirken. Wenn es für steuerbefreite Einkünfte einer Spezialnorm zur Anwendung des Progressionsvorbehalts bedürfe, sei es unverständlich, warum dies bei der Einschränkung des Besteuerungsrechts nach einem Doppelbesteuerungsabkommen nicht der Fall sein solle. Ausländische Einkünfte könnten daher nur dann zum Progressionsvorbehalt herangezogen werden, wenn es das innerstaatliche Recht explizit normiere.

4 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, erwogen:

5 Die Revision ist zulässig, weil noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Anwendung des Progressionsvorbehalts für den Quellenstaat besteht. Sie ist aber nicht begründet.

6 Das Abkommen zwischen der Republik Österreich und der Republik Türkei zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen (BGBl. III Nr. 96/2009) lautet auszugsweise:

„Artikel 15

Einkünfte aus unselbständiger Arbeit

(1) Vorbehaltlich der Artikel 16, 18, 19 und 20 dürfen Gehälter, Löhne und ähnliche Vergütungen, die eine in einem Vertragsstaat ansässige Person aus unselbständiger Arbeit bezieht, nur in diesem Staat besteuert werden, es sei denn, die Arbeit wird im anderen Vertragsstaat ausgeübt. Wird die Arbeit dort ausgeübt, so dürfen die dafür bezogenen Vergütungen im anderen Staat besteuert werden.

(...)“

„Artikel 22

VERMEIDUNG DER DOPPELBESTEUERUNG

Die Doppelbesteuerung wird wie folgt vermieden:

(1) In Österreich:

a)Bezieht eine in Österreich ansässige Person Einkünfte und dürfen diese Einkünfte nach diesem Abkommen in der Türkei besteuert werden, so nimmt Österreich vorbehaltlich der lit. b bis e diese Einkünfte von der Besteuerung aus.

(...)

d)Einkünfte einer in Österreich ansässigen Person, die nach dem Abkommen von der Besteuerung in Österreich auszunehmen sind, dürfen gleichwohl in Österreich bei der Festsetzung der Steuer für das übrige Einkommen der Person einbezogen werden.

(...)

(2) In der Türkei:

a)Vorbehaltlich der gesetzlichen Bestimmungen der Türkei in Bezug auf die Anrechnung der in einem Gebiet außerhalb der Türkei zu zahlenden Steuer auf die türkische Steuer wird die nach österreichischem Recht und nach diesem Abkommen zu zahlende österreichische Steuer für Einkünfte (einschließlich Gewinne und steuerpflichtige Gewinne aus Veräußerungsgeschäften), die eine in der Türkei ansässige Person aus österreichischen Quellen bezieht, auf die vom Einkommen zu erhebende türkische Steuer angerechnet. Der anzurechnende Betrag darf jedoch den Betrag der vor der Anrechnung ermittelten türkischen Steuer nicht übersteigen, der auf diese Einkünfte entfällt.

b)Einkünfte einer in der Türkei ansässigen Person, die nach dem Abkommen von der Besteuerung in der Türkei auszunehmen sind, dürfen gleichwohl in der Türkei bei der Festsetzung der Steuer für das übrige Einkommen der Person einbezogen werden.“

7 Das DBA‑Türkei sieht für in Österreich ansässige Personen für unselbständige Einkünfte aus der Türkei die Anwendung der Befreiungsmethode, für in der Türkei ansässige Personen für Einkünfte aus Österreich die Anrechnungsmethode vor.

8 Die Revisionswerberin bezieht Einkünfte aus einer unselbständigen Tätigkeit, die ‑ soweit sie nicht auf eine Tätigkeit in Österreich entfallen ‑ nach Artikel 15 des DBA‑Türkei nur in der Türkei besteuert werden dürfen, weil die Revisionswerberin nach den Sachverhaltsfeststellungen des Bundesfinanzgerichts in der Türkei und nicht in Österreich ansässig ist.

9 Doppelbesteuerungsabkommen entfalten bloß eine Schrankenwirkung insofern, als sie eine sich aus dem innerstaatlichen Steuerrecht ergebende Steuerpflicht begrenzen. Ob Steuerpflicht besteht, ist also zunächst stets nach innerstaatlichem Steuerrecht zu beurteilen. Ergibt sich aus dem innerstaatlichen Steuerrecht eine Steuerpflicht, ist in einem zweiten Schritt zu beurteilen, ob das Besteuerungsrecht durch ein DBA eingeschränkt wird (vgl. VwGH 29.7.2010, 2010/15/0021, mwN).

10 Gemäß § 1 Abs. 2 EStG 1988 sind jene natürlichen Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, unbeschränkt steuerpflichtig. Die unbeschränkte Steuerpflicht erstreckt sich auf alle in‑ und ausländischen Einkünfte. Der Steuersatz bemisst sich nach dem (Gesamt)Einkommen, worin innerstaatlich der Progressionsvorbehalt seine Rechtsgrundlage findet (vgl. VwGH 24.5.2007, 2004/15/0051 und abermals 29.7.2010, 2010/15/0021).

11 Soweit die Revisionswerberin vorbringt, aus § 3 EStG 1988 sei abzuleiten, dass innerstaatlich kein Progressionsvorbehalt bestehen könne, weil es sonst keiner expliziten Regelung über besondere Progressionsvorbehalte in § 3 Abs. 3 EStG 1988 bedürfte und generell alle Befreiungen in § 3 EStG 1988 bei der Festsetzung der Steuer für das übrige Einkommen des Steuerpflichtigen zu berücksichtigen wären, ist dem Folgendes entgegenzuhalten: Bei der Beurteilung der Steuerpflicht grenzüberschreitender Sachverhalte muss zunächst der Steueranspruch nach innerstaatlichem Steuerrecht, also durch Anwendung des EStG 1988, ermittelt werden. Gemäß § 1 Abs. 2 zweiter Satz EStG 1988 ist dabei bei unbeschränkt Steuerpflichtigen das nach den Vorschriften des EStG 1988 ermittelte Welteinkommen heranzuziehen. Auf der Grundlage dieses Steueranspruchs errechnet sich der anzuwendende Durchschnittssteuersatz. Sodann wird der Teil des Einkommens, das aufgrund des DBA der Besteuerungsbefugnis Österreichs entzogen wird, aus der Bemessungsgrundlage ausgeschieden und der zuvor ermittelte Durchschnittssteuersatz auf das übrige Einkommen angewendet.

12 Wird die Steuer auf das Welteinkommen errechnet, bleiben die von der Revision angesprochenen steuerbefreiten Einkünfte außer Ansatz, weil die Steuerberechnung durch Anwendung des EStG 1988 erfolgt und § 3 leg.cit. diese Einkünfte steuerfrei stellt. Diese Einkünfte sind also nach innerstaatlichem Recht (aufgrund § 3 EStG 1988) nicht steuerpflichtig und können daher nicht in die Bemessungsgrundlage für die Steuer einfließen und somit auch nicht die Höhe des anzuwendenden Durchschnittssteuersatzes beeinflussen, soweit nicht das Gesetz ‑ wie insbesondere in § 3 Abs. 3 EStG 1988 ‑ eine Sonderregelung trifft.

13 Auch das DBA‑Türkei steht der Anwendung des Progressionsvorbehaltes für den Quellenstaat nicht entgegen.

14 Das Abkommen enthält zu der hier strittigen Frage des Progressionsvorbehalts für den Quellenstaat keine Bestimmungen. Der Methodenartikel bezieht sich jeweils auf den Ansässigkeitsstaat, nicht aber auf den Quellenstaat.

15 Art. 22 Abs. 1 lit. d und Abs. 2 lit. b des DBA mit der Türkei sind Art. 23A Abs. 3 des OECD‑Musterabkommens 1977 nachgebildet.

16 Der Kommentar zum OECD‑Musterabkommen 1977 führt in Rn 56 zu Art. 23A aus, dass diese Regelung die Anwendung des Progressionsvorbehalts durch den Quellenstaat nicht ausschließt:

„Paragraph 3 of Article 23A relates only to the State of residence. The form of the Article does not prejudice the application by the State of source of the provisions of its domestic laws concerning the progression.“

17 Auch in der Literatur wird vertreten, dass das OECD‑Musterabkommen dem Quellenstaat die Anwendung eines Progressionsvorbehalts nicht verbietet (vgl. Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 23A Rz 122, mwN; so auch Loukota/Jirousek/SchmidjellDommes/Daurer, IntStR I/1, 201, Rz 44; Auer/Petutschnig/Resenig, SWI 2021, 120f).

18 Aus den Materialien zum DBA‑Türkei geht ebenfalls nicht hervor, dass ein Progressionsvorbehalt für den Quellenstaat ausgeschlossen werden sollte. Sie enthalten lediglich den Hinweis, dass Österreich auf OECD‑Grundlage die Befreiungsmethode unter Progressionsvorbehalt anwendet.

19 Im Lichte dessen ist Art. 22 des DBA‑Türkei so zu verstehen, dass für den Quellenstaat ein Progressionsvorbehalt weder eingeräumt noch verboten wurde. Das DBA‑Türkei entfaltet somit hinsichtlich des Progressionsvorbehalts keine Schrankenwirkung.

20 Da das österreichische Recht bei einer unbeschränkt steuerpflichtigen Person für die Ermittlung der Höhe des Steuersatzes auch die ausländischen Einkünfte heranzieht und das DBA‑Türkei die Heranziehung der türkischen Einkünfte bei Ermittlung des Steuersatzes nicht verbietet, bemisst sich der Steuersatz in Österreich auch nach diesen türkischen Einkünften der Revisionswerberin.

21 Die Revision war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG abzuweisen.

Wien, am 7. September 2022

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