Normen
AlVG 1977 §25
AlVG 1977 §25 Abs2
AlVG 1977 §38
AVG §59 Abs1
VwGVG 2014 §14
VwGVG 2014 §14 Abs1
VwGVG 2014 §15
VwGVG 2014 §27
VwGVG 2014 §28
VwGVG 2014 §31
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021080082.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Mit Bescheid vom 26. Juni 2020 widerrief die revisionswerbende regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Melk (AMS) gemäß § 24 Abs. 2 iVm. § 38 AlVG den Bezug des Mitbeteiligten von Notstandshilfe für 29. April 2020 bis 27. Mai 2020 und verpflichtete den Mitbeteiligten gemäß § 25 Abs. 2 AlVG zur Rückzahlung der unberechtigt empfangenen Leistung von € 64,38. In seiner Begründung verwies das AMS darauf, dass der Mitbeteiligte am 20. Mai 2020 durch Organe der Finanzpolizei bei einer Erwerbstätigkeit betreten worden sei. Der Leistungsbezug für 29. und 30. April 2020 sei zurückzufordern. Hinsichtlich des Zeitraums von 1. bis 27. Mai 2020 sei der Bezug zu widerrufen; der entstandene Übergenuss sei bereits von der laufenden Leistung einbehalten worden.
2 Mit Beschwerdevorentscheidung vom 9. Oktober 2020 sprach das AMS aus, die gegen den Bescheid vom 26. Juni 2020 erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten werde abgewiesen und (somit) entschieden, dass die Zuerkennung der Notstandshilfe für den Zeitraum vom 29. April 2020 bis zum 27. Mai 2020 gemäß § 24 Abs. 2 iVm. § 38 AlVG widerrufen und der am 29. und 30. April 2020 entstandene Übergenuss von € 69,98 gemäß § 25 Abs. 2 iVm. § 50 Abs. 1 und § 38 AlVG rückgefordert werde. In seiner Begründung führte das AMS aus, im Hinblick auf die Betretung des Mitbeteiligten bei einer Erwerbstätigkeit durch Organe der Finanzpolizei komme § 25 Abs. 2 AlVG zur Anwendung. Nach dem zweiten Satz dieser Bestimmung sei die Notstandshilfe für vier Wochen zurückzufordern. Der Mitbeteiligte habe am 29. und 30. April 2020 jeweils € 32,19 bezogen. Dieser Bezug von insgesamt € 64,38 sei mit dem Ausgangsbescheid rückgefordert worden. Mit dem am 5. Mai 2020 kundgemachten 6. COVID‑19‑Gesetz, BGBl. I Nr. 28/2020, sei es nach § 81 Abs. 5 AlVG rückwirkend zu einer Erhöhung der Notstandshilfe auf das Ausmaß des Arbeitslosengeldes gekommen. Daraus habe sich für 29. und 30. April 2020 eine tägliche Notstandshilfe von € 34,99 ergeben, die rückwirkend zuerkannt worden sei. In Abänderung des Ausgangsbescheides sei daher insoweit eine Notstandshilfe von € 69,98 zurückzufordern. Im Übrigen sei „für den nicht liquidierten Zeitraum 01.05 2020 bis 27.05.2020 [...] die Notstandshilfe gemäß § 25 Abs. 2 AlVG lediglich zu widerrufen“. Dem Mitbeteiligten sei aufschiebende Wirkung „gewährt“ worden und „der Rückforderungsbetrag [...] noch zur Gänze offen“.
3 Der Mitbeteiligte stellte keinen Vorlageantrag. Die Beschwerdevorentscheidung vom 9. Oktober 2020 erlangte daher Rechtskraft.
4 Mit Bescheid vom 16. November 2020 sprach das AMS aus, der Mitbeteiligte werde gemäß § 25 Abs. 1 letzter Satz AlVG zur Rückzahlung der im Zeitraum 1. Mai 2020 bis 27. Mai 2020 unberechtigt empfangenen Leistung in Höhe von € 1.014,76 verpflichtet. Die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen diesen Bescheid werde gemäß § 13 Abs. 2 VwGVG ausgeschlossen. In seiner Begründung verwies das AMS auf § 25 Abs. 1 letzter Satz AlVG. Die Verpflichtung zum Rückersatz sei Folge der Beschwerdevorentscheidung vom 9. Oktober 2020.
5 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde des Mitbeteiligten Folge und hob den Bescheid des AMS vom 16. November 2020 ersatzlos auf. Die Revision erklärte es für nicht zulässig.
6 In seiner Begründung gab das Bundesverwaltungsgericht den Verfahrensgang wieder und stellte fest, dem Mitbeteiligte sei nach Erlassung des Ausgangsbescheides vom 20. Juli 2020 aufgrund der aufschiebenden Wirkung seiner Beschwerde die Notstandshilfe für die Zeit von 1. bis 27. Mai 2020 in Höhe eines Tagsatzes von € 34,99 ausbezahlt worden. Der Spruch der in Rechtskraft erwachsenen Beschwerdevorentscheidung vom 9. Oktober 2020 sei entsprechend ihrer Begründung auszulegen. In seiner Begründung habe das AMS ausgeführt, dass die Notstandshilfe für den nicht liquidierten Zeitraum vom 1. bis zum 27. Mai 2020 „lediglich zu widerrufen“ sei. Damit liege hinsichtlich dieses Zeitraums eine res iudicata vor und sei die mit dem Bescheid vom 16. November 2020 ausgesprochene Rückforderung somit wegen entschiedener Sache unzulässig.
7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Zur Zulässigkeit der Revision wird zusammengefasst geltend gemacht, der Leistungsbezug des Mitbeteiligten sei zunächst für den Zeitraum vom 1. bis zum 27. Mai 2020 einbehalten worden. Im Bescheid vom 26. Juni 2020 sei daher hinsichtlich dieses Zeitraums lediglich ein Widerruf der Leistung ‑ nicht aber eine Rückforderung ‑ ausgesprochen worden. Der Beschwerde des Mitbeteiligten gegen diesen Bescheid sei aufschiebende Wirkung zugekommen. Aufgrund der Beschwerde des Mitbeteiligten sei daher in der Folge die Auszahlung der Leistung auch für 1. bis 27. Mai 2020 in einer Höhe von insgesamt € 1.014,71 erfolgt. Dieser Betrag sei infolge der Rechtskraft der Beschwerdevorentscheidung nunmehr aber mit Bescheid vom 16. November 2020 gemäß § 25 Abs. 1 letzter Satz AlVG zurückzufordern gewesen. Das Bundesverwaltungsgericht verkenne den Inhalt der Beschwerdevorentscheidung vom 9. Oktober 2020. Über die nunmehr verfahrensgegenständliche Rückforderung des Bezugs für den Zeitraum vom 1. bis zum 27. Mai 2020 sei darin nicht abgesprochen worden. Es sei daher keine entschiedene Sache vorgelegen.
9 Die Revision ist im Sinn dieser Ausführungen zulässig. Sie ist auch berechtigt.
10 Die Rückforderung einer Leistung nach § 25 AlVG setzt die Einstellung, die Herabsetzung, den Widerruf oder die Berichtigung der Leistung voraus (vgl. VwGH 27.11.2014, 2012/08/0114, mwN).
11 In ihrem Bescheid vom 26. Juni 2020 bzw. in der Beschwerdevorentscheidung vom 9. Oktober 2020 stützte das AMS den Widerruf des Notstandshilfebezugs des Mitbeteiligten von 29. April 2020 bis 27. Mai 2020 auf den ersten und den zweiten Satz des § 25 Abs. 2 AlVG. Nach dieser Bestimmung gilt, wenn ein Empfänger von Arbeitslosengeld (Notstandshilfe) bei einer Tätigkeit gemäß § 12 Abs. 3 lit. a, b oder d AlVG durch öffentliche Organe, insbesondere Organe von Behörden oder Sozialversicherungsträgern oder Exekutivorgane, betreten wird, die er nicht unverzüglich der zuständigen regionalen Geschäftsstelle angezeigt hat (§ 50 AlVG), die unwiderlegliche Rechtsvermutung, dass diese Tätigkeit über der Geringfügigkeitsgrenze entlohnt ist. Das Arbeitslosengeld (die Notstandshilfe) für zumindest vier Wochen ist rückzufordern.
12 Der Verwaltungsgerichtshof hat darauf hingewiesen, dass ‑ wenngleich § 25 Abs. 2 AlVG zweiter Satz nur von der „Rückforderung“ der Leistung für zumindest vier Wochen spricht ‑ auf Grundlage dieser Bestimmung auch (nur) ein Widerruf der Zuerkennung von Arbeitslosengeld (Notstandshilfe) ausgesprochen werden kann, wenn eine Rückforderung mangels Empfang einer Leistung nicht möglich ist. Andernfalls müsste das Arbeitsmarktservice bei einer unmittelbaren Betretung des Leistungsbeziehers den bereits zuerkannten aber noch nicht ausbezahlten Leistungsanspruch trotz dessen Nichtberechtigung zuerst erfüllen, um anschließend nach § 25 Abs. 2 AlVG die Rückforderung aussprechen zu können (vgl. VwGH 14.11.2012, 2010/08/0033).
13 Eine solche Konstellation lag auch hier vor. Zum Zeitpunkt der Erlassung des Ausgangsbescheids vom 26. Juni 2020 war, wie bereits in der Begründung dieses Bescheides festgehalten und nunmehr auch im angefochtenen Erkenntnis ausdrücklich festgestellt, eine Auszahlung der Notstandshilfe lediglich für 29. und 30. April 2020, nicht aber für die Zeit von 1. bis 27. Mai 2020 erfolgt. Eine Rückforderung kam daher mangels Bezugs für den Zeitraum von 1. bis zum 27. Mai 2020 nicht in Betracht und wurde mit dem Bescheid vom 26. Juni 2020 auch nicht ausgesprochen.
14 Hinsichtlich des Verständnisses der Beschwerdevorentscheidung vom 9. Oktober 2020 sei zunächst darauf hingewiesen, dass eine Beschwerdevorentscheidung gemäß § 14 VwGVG ‑ nicht anders als die Entscheidung des Verwaltungsgerichts gemäß §§ 28 und 31 VwGVG ‑ eine Entscheidung über die Beschwerde ist, die diese, soweit kein Vorlageantrag gestellt wird, auch endgültig erledigt. Schon daraus folgt, dass die Sache des Verfahrens in diesem Stadium nicht anders begrenzt werden kann als im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht selbst. § 14 VwGVG verweist zudem (auch) ausdrücklich auf § 27 VwGVG, der den zulässigen Prüfungsumfang für das Verwaltungsgericht festlegt. Sache der Beschwerdevorentscheidung ist ‑ entsprechend dem Verfahren der Verwaltungsgerichte ‑ somit jedenfalls nur jene Angelegenheit, die den Inhalt des Spruchs des Ausgangsbescheides gebildet hat (vgl. VwGH 6.5.2020, Ra 2019/08/0114, mwN).
15 Mit einer Ausdehnung des Zeitraums der Rückforderung auch auf einen Bezug in der Zeit von 1. bis 27. Mai 2020 hätte die Beschwerdevorentscheidung somit die Sache des Ausgangsbescheides vom 26. Juni 2020 überschritten. Nach dem klaren Inhalt des Spruchs der Beschwerdevorentscheidung vom 9. Oktober 2020 ist dies aber nicht erfolgt und wurde die Rückforderung ‑ wie im Ausgangsbescheid ‑ auf den Bezug am 29. und 30. April 2020 beschränkt.
16 Dazu ist festzuhalten, dass, wie der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Judikatur erkennt, die Begründung eines Bescheides nicht der Rechtskraft fähig ist und damit (von hier nicht gegebenen Ausnahmefällen abgesehen) keine Bindungswirkung entfaltet. Was Gegenstand eines in Rechtskraft erwachsenen Bescheides einer Behörde ist, bestimmt sich ausschließlich nach dem Inhalt des Spruches des Bescheides. Nur er erlangt rechtliche Geltung (Verbindlichkeit) und legt dadurch die Grenzen der Rechtskraft fest. Die Bescheidbegründung spielt hierfür nur insoweit eine Rolle, als (auch) sie zu der (nach den für Gesetze maßgebenden Regeln vorzunehmenden) Auslegung (Deutung), nicht aber zur Ergänzung eines in sich unklaren Spruches heranzuziehen ist (vgl. VwGH 15.3.2022, Ra 2021/11/0060, mwN).
17 Abgesehen davon, dass der Spruch der Beschwerdevorentscheidung vom 9. Oktober 2020 fallbezogen nicht zweifelhaft ist, weicht deren Begründung auch nicht vom Spruch ab. Die Aussage in der Entscheidungsbegründung des AMS, auf die sich das Bundesverwaltungsgericht bezieht, wonach „für den nicht liquidierten Zeitraum“ vom 1. bis zum 27. Mai 2020 die Notstandshilfe „gemäß § 25 Abs. 2 AlVG lediglich zu widerrufen“ sei, brachte im gegebenen Kontext nämlich lediglich zum Ausdruck, dass aufgrund der ‑ jedenfalls zum Zeitpunkt des die Sache des Verfahrens bestimmenden Ausgangsbescheides ‑ nicht erfolgten Auszahlung der Leistung für diesen Bezugszeitraum eine Rückforderung (noch) nicht in Betracht kam.
18 Das Bundesverwaltungsgericht hat daher mit seiner Ansicht, es sei hinsichtlich der Rückforderung der Notstandshilfe für 1. bis 27. Mai 2020 eine entschiedene Sache vorgelegen, die Rechtslage verkannt. Das angefochtene Erkenntnis war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am 18. August 2022
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