European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020200408.L00
Spruch:
Die Revisionen werden zurückgewiesen.
Begründung
1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der weiteren minderjährigen revisionswerbenden Parteien. Sie alle sind georgische Staatsangehörige; die Erstrevisionswerberin ist zudem auch aserbaidschanische Staatsangehörige. Alle stellten am 11. Jänner 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005.
2 Mit den Bescheiden je vom 18. Oktober 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diese Anträge ab, gewährte den revisionswerbenden Parteien keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung zulässig sei und legte jeweils eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer Verhandlung mit den Erkenntnissen je vom 19. Juni 2020 ‑ mit für die Revisionsverfahren nicht weiter wesentlichen (sich auf die Bezeichnung des Herkunftsstaates beziehenden) Spruchkorrekturen ‑ als unbegründet ab. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG jeweils nicht zulässig sei.
4 Die revisionswerbenden Parteien erhoben dagegen Beschwerden an den Verfassungsgerichtshof, der die Behandlung derselben mit Beschluss vom 22. September 2020, E 2558‑2561/2020‑7, ablehnte und diese aufgrund gesonderter Anträge mit Beschluss vom 20. Oktober 2020, E 2558‑2561/2020‑9, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
5 In der Folge wurden die gegenständlichen Revisionen eingebracht, mit denen sich die revisionswerbenden Parteien ausdrücklich nur gegen die Erlassung von Rückkehrentscheidungen wenden.
6 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
7 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
8 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
9 Die revisionswerbenden Parteien machen geltend, die Erlassung von Rückkehrentscheidungen entspreche nicht dem Kindeswohl. Das Bundesverwaltungsgericht sei bei dessen Prüfung von den in der Judikatur aufgestellten Leitlinien zur Vornahme der Interessenabwägung nach § 9 BFA‑Verfahrensgesetz (BFA‑VG) abgewichen.
10 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die bei Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommene Interessenabwägung im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgt und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen worden ist ‑ nicht revisibel (vgl. VwGH 23.10.2020, Ra 2020/20/0056, mwN).
11 Dieses Vertretbarkeitskalkül ist vor dem Hintergrund der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu sehen, wonach der Verwaltungsgerichtshof im Revisionsmodell nicht dazu berufen ist, die Einzelfallgerechtigkeit in jedem Fall zu sichern ‑ diese Aufgabe obliegt den Verwaltungsgerichten. Dem Verwaltungsgerichtshof kommt im Revisionsmodell eine Leitfunktion zu. Aufgabe des Verwaltungsgerichtshofes ist es, im Rahmen der Lösung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (erstmals) die Grundsätze bzw. Leitlinien für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts festzulegen, welche von diesem zu beachten sind. Die Anwendung dieser Grundsätze im Einzelfall kommt hingegen grundsätzlich dem Verwaltungsgericht zu, dem dabei in der Regel ein gewisser Anwendungsspielraum überlassen ist. Ein Aufgreifen des vom Verwaltungsgericht entschiedenen Einzelfalls durch den Verwaltungsgerichtshof ist nur dann unausweichlich, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet hat und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 24.9.2019, Ra 2019/20/0274, mwN).
12 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. auch dazu VwGH Ra 2020/20/0056, mwN).
13 In diesem Zusammenhang haben die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts bereits wiederholt die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl bei der nach § 9 BFA‑VG vorzunehmenden Interessenabwägung zum Ausdruck gebracht (vgl. VwGH 23.9.2020, Ra 2020/14/0175, mwN).
14 Es war somit vom Bundesverwaltungsgericht in Bezug auf in den Jahren 2004, 2009 und 2013 geborenen revisionswerbenden Parteien geboten, auf Aspekte des Kindeswohls Bedacht zu nehmen. Dazu hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung bereits festgehalten, auch im Bereich verwaltungsrechtlicher Entscheidungen, in denen auf das Kindeswohl Rücksicht zu nehmen sei, dienten die in § 138 ABGB genannten Kriterien als Orientierungsmaßstab (vgl. nochmals VwGH Ra 2020/14/0175, mwN).
15 In den gegenständlichen Fällen hat das Bundesverwaltungsgericht ‑ nach Durchführung einer Verhandlung, in deren Rahmen sich dieses Gericht auch einen unmittelbaren Eindruck von den revisionswerbenden Parteien verschafft hat (dessen Wesentlichkeit der Verwaltungsgerichtshof für nicht eindeutige Fälle in seiner Rechtsprechung stets hervorgehoben hat, vgl. statt vieler etwa VwGH 26.6.2019, Ra 2019/21/0105; 20.12.2018, Ra 2018/21/0033, jeweils mwN) ‑ die für die jeweilige Entscheidung maßgeblichen Umstände festgestellt. Gegenteiliges wird auch in der Zulassungsbegründung der Revisionen nicht behauptet.
16 Das Bundesverwaltungsgericht hat sich zudem im Rahmen der Interessenabwägungen am Boden der fallbezogen gegebenen Umstände ausreichend mit dem Kindeswohl auseinandergesetzt. Hervorzuheben ist im Besonderen, dass ‑ den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts zufolge ‑ die minderjährigen revisionswerbenden Parteien in Georgien geboren wurden und sich dort für längere Zeit aufgehalten hatten. Sie leben im Familienverband mit ihrer Mutter, gegen die ebenfalls eine Rückkehrentscheidung erlassen wurde. Sie sind infolgedessen mit der Sprache und den Gebräuchen des Heimatlandes vertraut. Der Zweitrevisionswerber und die Drittrevisionswerberin haben in Georgien zudem bereits die Schule besucht; der Schulbesuch wird allen minderjährigen revisionswerbenden Parteien im Fall der Rückkehr (weiterhin) möglich sein. Sie haben Verwandte im Heimatland. Ihre Versorgung ist durch ihre Mutter, die über eine Ausbildung an einer Universität verfügt, einen Buchhaltungskurs abgeschlossen hat sowie gesund und arbeitsfähig ist, sichergestellt. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich auch ausführlich mit der Frage der Möglichkeit der Wiedereingliederung sämtlicher revisionswerbenden Parteien im Heimatland befasst.
17 Darauf, dass den minderjährigen revisionswerbenden Parteien ‑ wie in den Revisionen vorgebracht wird ‑ der unsichere Aufenthaltsstatus nicht im selben Maß wie ihrer Mutter als Verstoß gegen die öffentliche Ordnung angelastet werden könne, kommt es fallbezogen vor dem Hintergrund des bloß kurzen Aufenthalts der revisionswerbenden Parteien im Bundesgebiet sowie der sonstigen vom Bundesverwaltungsgericht festgestellten Umstände nicht entscheidungswesentlich an.
18 Von den revisionswerbenden Parteien wird sohin nicht dargetan, dass die jeweils vom Bundesverwaltungsgericht nach § 9 BFA‑VG durchgeführte Interessenabwägung mit einer vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Mangelhaftigkeit belastet wäre.
19 In den Revisionen werden daher keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme, weshalb sie gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen waren.
Wien, am 14. Dezember 2020
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)