VwGH Ra 2020/19/0330

VwGHRa 2020/19/03305.10.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, in der Revisionssache des N N, vertreten durch Dr. Michael Drexler, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Hörlgasse 4/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Juli 2020, W202 2161376‑1/7E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z1
MRK Art8

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020190330.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein indischer Staatsangehöriger, stellte am 29. März 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheid vom 17. Mai 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Indien zulässig sei, und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Mit dem nunmehr in Revision gezogenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde ‑ nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

4 Begründend führte das BVwG ‑ soweit hier von Relevanz ‑ aus, der Revisionswerber stamme aus der Provinz Punjab. Vor dem Hintergrund näher getroffener Feststellungen zur allgemeinen Situation in Indien sowie im Besonderen zur Provinz Punjab drohe dem jungen und arbeitsfähigen Revisionswerber bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz, wo auch weiterhin nahe Familienangehörige aufhältig seien, keine reale Gefahr der Verletzung seiner Rechte nach Art. 2 und 3 EMRK. Dies gelte auch unter Berücksichtigung des ‑ näher festgestellten ‑ Verlaufs der Covid‑19‑Pandemie in der Provinz Punjab, der sich aktuell nicht als gravierender als in Österreich darstelle, sowie des Gesundheitszustandes des Revisionswerbers, bei dem eine bronchiale Hyperreagibilität diagnostiziert worden sei. Eine allenfalls erforderliche medizinische Behandlung sei für ihn in seiner Herkunftsprovinz verfügbar.

5 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8 Die vorliegende Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit zunächst vor, dem Revisionswerber hätte subsidiärer Schutz zuerkannt werden müssen. Entgegen den Annahmen des BVwG drohe dem Revisionswerber, der in Hinblick auf seinen Gesundheitszustand besonders gefährdet sei, durch die Covid‑19‑Pandemie bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat eine Verletzung seiner Rechte nach Art. 2 und 3 EMRK.

9 Um von der realen Gefahr („real risk“) einer drohenden Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte eines Asylwerbers bei Rückkehr in seinen Heimatstaat ausgehen zu können, reicht es nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist. Es bedarf vielmehr einer darüber hinausgehenden Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Gefahr verwirklichen wird (vgl. VwGH 17.10.2019, Ra 2019/18/0372, mwN).

10 Im vorliegende Fall hat sich das BVwG aufgrund näher getroffener Feststellungen, denen die Revision nicht substantiiert entgegen tritt, zum Verlauf der Pandemie und zum Gesundheitssystem in der Herkunftsprovinz des Revisionswerbers sowie zum Gesundheitszustand des Revisionswerbers mit den Gefahren, die mit einer Rückkehr in die Provinz Punjab verbundenen wären, auseinandergesetzt. Die Revision vermag mit ihren bloß pauschalen Ausführungen eine Unvertretbarkeit der Beurteilung des BVwG, wonach eine Rückkehr keine reale Gefahr der Verletzung der Rechte des Revisionswerbers nach Art. 2 oder 3 EMRK bewirke, nicht aufzuzeigen.

11 Die Revision wendet sich unter dem Gesichtspunkt ihrer Zulässigkeit weiters gegen die Rückkehrentscheidung und bringt vor, in Hinblick auf den bereits fünf Jahre überschreitenden Aufenthalt des Revisionswerbers in Österreich sei - auch unter Berücksichtigung der Lage in Indien - die Erlassung einer Rückkehrentscheidung unzulässig gewesen.

12 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 19.6.2020, Ra 2019/19/0475, mwN). Das persönliche Interesse nimmt grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts des Fremden zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist freilich nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles vor allem zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei der Einschätzung des persönlichen Interesses ist auch auf die Auswirkungen, die eine Aufenthaltsbeendigung auf die familiären oder sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 12.11.2019, Ra 2019/20/0422). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgt und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. etwa VwGH 13.2.2020, Ra 2020/19/0001).

13 Im vorliegenden Fall hat das BVwG im Rahmen seiner Interessenabwägung alle entscheidungswesentlichen Umstände berücksichtigt; und zwar neben dem näher dargestellten Grad der Integration des Revisionswerbers und seinen Bindungen zum Herkunftsstaat insbesondere auch die in der Revision angesprochene Dauer des Aufenthaltes des Revisionswerbers im Inland von etwas mehr als fünf Jahren. Zu Recht hat es dabei in seine Erwägungen allerdings auch einbezogen, dass es im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG maßgeblich relativierend ist, wenn ‑ wie hier ‑ integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 15.4.2020, Ra 2019/18/0542, mwN). Eine Unvertretbarkeit der Interessenabwägung des BVwG vermag die Revision insgesamt nicht aufzuzeigen.

14 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.

Wien, am 5. Oktober 2020

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