VwGH Ra 2020/14/0192

VwGHRa 2020/14/019219.11.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, in der Revisionssache 1. des A B, 2. der C D, 3. der E F, 4. des G H, und 5. des I J, alle vertreten durch Dr. Günter Folk, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Joanneumring 6/1. Stock, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts je vom 19. Februar 2020, 1. G312 2188503‑1/11E, 2. G312 2188512‑1/9E, 3. G312 2188505‑1/11E, 4. G312 2188507‑1/11E und 5. G312 2188510‑1/11E, jeweils betreffend Anerkennung als Flüchtling nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

AVG §58
AVG §60
VwGG §42 Abs2 Z3
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §29 Abs1
VwGVG 2014 §29 Abs2
VwGVG 2014 §29 Abs4

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020140192.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind miteinander verheiratet und die Eltern der weiteren minderjährigen revisionswerbenden Parteien. Sie sind Staatsangehörige des Irak.

2 Der Erstrevisionswerber, die Zweit- und Drittrevisionswerberin sowie der Viertrevisionswerber stellten am 3. Juli 2015 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Diese Anträge wurden zusammengefasst damit begründet, dass es im Irak immer wieder zu Hausdurchsuchungen gekommen sei, weil vermutet worden sei, dass der Erstrevisionswerber sich an Demonstrationen gegen die Regierung beteiligt habe. Zudem sei er mehrerer Vergehen verdächtigt und beschuldigt worden, ein Spion des IS zu sein. Er sei entführt, geschlagen und beschimpft worden.

Die Familienmitglieder bezogen sich auf die Fluchtgründe des Erstrevisionswerbers. Am 1. April 2016 wurde für den in Österreich geborenen Fünftrevisionswerber ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Auch dieser verwies auf die Fluchtgründe des Erstrevisionswerbers.

3 Mit den Bescheiden jeweils vom 16. Jänner 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der Revisionswerber ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen und stellte fest, dass ihre Abschiebung in den Irak zulässig sei. Weiters legte das BFA jeweils eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

4 Gegen diese Bescheide erhoben die Revisionswerber Beschwerden an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG).

5 Das BVwG führte am 22. Jänner 2020 eine Verhandlung durch und verkündete an deren Ende die angefochtenen Erkenntnisse, mit denen es die Beschwerden gegen jeweils Spruchpunkt I. der bekämpften Bescheide als unbegründet abwies. Unter einem sprach das BVwG aus, dass den Revisionswerbern der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und jedem von ihnen eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt werde. Die übrigen Spruchpunkte der bekämpften Bescheide behob das BVwG ersatzlos und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG für jeweils nicht zulässig.

6 Die Erkenntnisse wurden über Antrag der Revisionswerber vom BVwG am 19. Februar 2020 schriftlich (in einer Urteilsurkunde) ausgefertigt. In den Entscheidungsgründen der schriftlichen Ausfertigung hält das BVwG zur Frage der im Revisionsverfahren einzig relevanten Frage der Abweisung des Antrags auf Zuerkennung des Status von Asylberechtigten ‑ wenn auch disloziert ‑ fest, dass die Revisionswerber keine asylrelevante Verfolgung hätten glaubhaft machen können. Das begründete es damit, dass das Vorbringen zur Verfolgung des Erstrevisionswerbers nicht nachvollziehbar und unplausibel sei. Es hätten sich zeitliche Ungereimtheiten in der geschilderten Abfolge ergeben. Die vom Erstrevisionswerber gezeigten Narben würden keinen Aufschluss darüber geben, im Zuge welcher Ereignisse der Erstrevisionswerber diese Verletzungen erlitten hätte, und seien nicht geeignet, die Unglaubwürdigkeit seiner Angaben zu entkräften. Auch sei nicht nachvollziehbar, wie der Erstrevisionswerber, der im Irak der Mitgliedschaft in der Terrormiliz des IS und der Spionage für diese Gruppierung verdächtigt worden sein soll, zu einem Zeitpunkt, als der IS im Irak noch nicht besiegt gewesen sei, unbehelligt habe ausreisen können. Zu dem im Rahmen der Beschwerde erstmals vorgebrachten Fluchtvorbringen der „westlichen“ Orientierung der Zweitrevisionswerberin hielt es fest, dass den Länderberichten nicht zu entnehmen sei, dass die verheiratete Zweitrevisionswerberin mit ihrem Ausbildungs- und Arbeitswunsch asylrelevant exponiert sei. Zudem sei sie auch in Österreich Hausfrau und es habe keine Verinnerlichung ihrer beruflichen Unabhängigkeit erkannt werden können. Auch habe sich im Verfahren ergeben, dass die Zweirevisionswerberin das Tragen des Kopftuchs nicht strikt ablehne, weshalb die entsprechende Bekleidungsvorschrift im Irak auch keine Auswirkung auf diese Einschätzung habe. Es sei nicht zu sehen, dass die Lebensführung zu einem derart wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden sei, dass sie sich nicht wieder an die Gepflogenheiten im Irak anpassen könnte. Es sei auch nicht vorgebracht worden, dass die im Irak gebliebenen Familienmitglieder die Lebensweise der Zweitrevisionswerberin in Österreich nicht guthießen. Auch habe das Verfahren nicht ergeben, dass eine asylrelevante Verfolgung im Irak aufgrund der Mitgliedschaft der Revisionswerber zur sunnitischen Ausrichtung des Islam zu gewärtigen sei.

7 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

8 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen. Dieser Beschluss ist gemäß § 34 Abs. 3 VwGG in jeder Lage des Verfahrens zu fassen.

9 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

10 Gegen das oben genannte Erkenntnis, und zwar ausdrücklich nur gegen den die Abweisung des Antrags auf Zuerkennung des Status als Asylberechtigten betroffenen Spruchpunkt, richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit vorbringt, das BVwG habe „seine Begründungspflicht im Rahmen der mündlichen Verkündung“ verletzt. Dies könne durch die schriftliche Ausfertigung nicht saniert werden. Auch habe das BVwG sich mit den Narben des Erstrevisionswerbers, dem dazu gestellten Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens, sowie dem Vorbringen der „westlichen Orientierung“ der Drittrevisionswerberin und zu ihrer ‑ sich aus dem Vorbringen ihres Vaters ergebenden Verfolgung nicht auseinandergesetzt. Zudem sei das Vorbringen zur „Verwestlichung“ der Zweitrevisionswerberin unzutreffend beurteilt worden. Es fehle auch Rechtsprechung zur Frage, ob eine festgestellte Verwestlichung einer irakischen Frau jedenfalls die rechtliche Prüfung erfordere, ob die festgestellte Lebensweise von der antragstellenden Person verinnerlicht und im Falle einer Rückkehr unterdrückt werden könne.

11 Die Nichteinhaltung der Bestimmungen über die mündliche Verkündung nach § 29 Abs. 2 VwGVG („mit den wesentlichen Entscheidungsgründen“), über die Begründung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen nach den §§ 58 und 60 AVG iVm § 17 VwGVG, und über die Verpflichtung zur Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung nach § 29 Abs. 4 VwGVG stellt eine Verletzung von Verfahrensvorschriften dar. Für eine Aufhebung eines Erkenntnisses oder Beschlusses wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften ist es nach § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG weiterhin erforderlich, dass (nunmehr:) das Verwaltungsgericht bei Einhaltung der verletzten Verfahrensvorschriften zu einem anderen Erkenntnis oder Beschluss hätte kommen können, es muss also die „Relevanz“ des Verfahrensfehlers vorliegen. Der Revisionswerber hat die Entscheidungswesentlichkeit des Mangels konkret zu behaupten. Er darf sich nicht darauf beschränken, einen Verfahrensmangel (nur) zu rügen, ohne die Relevanz für den Verfahrensausgang durch ein konkretes tatsächliches Vorbringen aufzuzeigen (vgl. VwGH 23.9.2020, Ra 2019/14/0558, Pkt. 4.2. mwN). Mit dem allgemein gehaltenen Vorbringen hinsichtlich einer unzureichenden Begründung bei der mündlichen Verkündung wird aber ein relevanter Verfahrensfehler in der hier vorliegenden Konstellation nicht dargetan.

12 Soweit die Revision die nicht erfolgte Einholung des beantragten Sachverständigengutachten zu den Narben des Erstrevisionswerbers und den Folgen seiner Folter sowie die mangelnde Auseinandersetzung mit der behaupteten Verfolgung der Drittrevisionswerberin aufgrund ihrer Verwandtschaft mit dem Erstrevisionswerber rügt, wendet sie sich gegen die Feststellungen des BVwG.

13 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist dieser als Rechtsinstanz tätig und im Allgemeinen nicht zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Einzelfall berufen. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. etwa VwGH 17.12.2019, Ra 2019/20/0396, mwN).

14 Eine derartige Unvertretbarkeit wird aber in der Revision nicht dargelegt. Die Revision blendet aus, dass das BVwG sich im Rahmen seiner Beweiswürdigung mit dem Fluchtvorbringen des Erstrevisionswerbers auseinandergesetzt hat und ihm nachvollziehbar die Glaubwürdigkeit abgesprochen hat, und auch zu den Narben des Erstrevisionswerbers dargestellt hat, dass die Verletzungsursache keinen Aufschluss darüber gebe, im Zuge welcher Ereignisse diese Narben entstanden seien. Der Revision gelingt es nicht darzutun, weshalb die diesbezüglichen Erwägungen des Verwaltungsgerichts mit einer vom Verwaltungsgerichtshof aufgreifenden Mangelhaftigkeit belastet wären, aufgrund welcher nur unter Beiziehung eines Sachverständigen konkret zu gewinnenden Erkenntnisse andere Feststellungen hätten getroffen werden können und warum infolgedessen das Bundesverwaltungsgericht zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können. Sohin ist aber auch dem Vorbringen der Drittrevisionswerberin, das sich auf die Verwandtschaft zum Erstrevisionswerber und dessen Vorbringen gründet, der Boden entzogen.

15 Soweit die Revision das Fehlen von Rechtsprechung zur Frage der „westlichen Orientierung“ von Frauen im Irak rügt, ist ihr zu erwidern, dass eine einheitliche Rechtsprechung zu den hier entscheidungswesentlichen Kriterien vorhanden ist, die für die Prüfung und Zuerkennung des Status des Asylberechtigten aufgrund eines solchen Vorbringens maßgeblich sind, und sich diese nicht als länderspezifisch unterschiedlich darstellen.

16 Aus der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ergibt sich, dass nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrecht erhalten werden könnte, dazu führt, dass ihr deshalb internationaler Schutz gewährt werden müsste. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (vgl. etwa VwGH 23.1.2018, Ra 2017/18/0301 bis 0306, mwN; 13.11.2019, Ra 2019/18/0303). Fallbezogen verneinte das BVwG nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung das Bestehen eines solchen Lebensstils der Zweitrevisionswerberin. Den zu diesem Ergebnis gelangenden Überlegungen vermag die Revision nichts Stichhaltiges entgegen zu setzen.

17 In der Revision werden sohin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.

Wien, am 19.November 2020

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