Normen
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020140191.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 16. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheid vom 23. Februar 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die dagegen erhobene Beschwerde nach Durchführung zweier mündlicher Verhandlungen als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
4 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
5 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
6 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
7 Zur Begründung ihrer Zulässigkeit bringt die Revision vor, das Bundesverwaltungsgericht habe sich in Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei der Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Herat und Mazar‑e Sharif ‑ erkennbar im Zusammenhang mit der Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz ‑ nicht hinreichend mit der Lage in Afghanistan aufgrund des Coronavirus und der entsprechenden aktuellen Medienberichte auseinandergesetzt. Das Bundesverwaltungsgericht stütze sich vielmehr auf veraltete Länderberichte. Nach dieser Berichtslage könne eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht mehr angenommen werden.
8 Es entspricht der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass das Bundesverwaltungsgericht seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen hat. Eine Verletzung dieser Vorgabe stellt einen Verfahrensmangel dar. Werden Verfahrensmängel als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, so muss auch schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden. Dies setzt voraus, dass ‑ auch in der gesonderten Begründung für die Zulässigkeit der Revision zumindest auf das Wesentliche zusammengefasst ‑ jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des Verfahrensfehlers als erwiesen ergeben hätten (vgl. VwGH 30.4.2019, Ra 2018/14/0375, mwN). Eine solche Relevanzdarstellung enthält die Zulassungsbegründung der vorliegenden Revision mit ihrer Aufzählung von zu berücksichtigenden Berichten und dem dazu allgemein gehaltenen Vorbringen nicht. Sie zeigt auch nicht auf, dass die Entscheidung dem Refoulement‑Verbot widerspricht und gegen die bei der diesbezüglichen Prüfung zu beachtenden Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt.
9 Soweit der Revisionswerber sich gegen die Erlassung der Rückkehrentscheidung wendet, ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist. Die durch das Bundesverwaltungsgericht in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist nur dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das Bundesverwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet hat und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 31.3.2020, Ra 2019/14/0417, mwN). Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. wiederum VwGH 31.3.2020, Ra 2019/14/0417, mwN).
10 Der Revision ist insoweit zuzustimmen, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) das nach Art. 8 EMRK geschützte Familienleben nicht auf durch Heirat rechtlich formalisierte Bindungen beschränkt ist, sondern auch andere faktische Familienbindungen umfasst, bei denen die Partner außerhalb des Ehestandes zusammenleben. Zur Frage, ob eine nichteheliche Lebensgemeinschaft ein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK begründet, stellt der EGMR auf das Bestehen enger persönlicher Bindungen ab, die sich in einer Reihe von Umständen - etwa dem Zusammenleben, der Länge der Beziehung oder der Geburt gemeinsamer Kinder - äußern können (vgl. VwGH 31.1.2019, Ra 2019/20/0028, mwN).
11 Letztlich ist es fallbezogen nur von untergeordneter Bedeutung, ob die genannte Beziehung als „Familienleben“ oder als „Privatleben“ zu qualifizieren ist, weil bei der vorzunehmenden Gesamtabwägung im Ergebnis die tatsächlich bestehenden Verhältnisse maßgebend sind (vgl. dazu jüngst VwGH 27.4.2020, Ra 2020/21/0121).
12 Das Bundesverwaltungsgericht berücksichtigte im vorliegenden Fall neben den zugunsten des Revisionswerbers sprechenden Umständen und seinen gesetzten Integrationsschritten, wie seine Aufenthaltsdauer in Österreich seit Juli 2015, auch die Beziehung und deren Intensität zu seiner Lebensgefährtin, einer österreichischen Staatsbürgerin, mit der er seit November 2019 im gemeinsamen Haushalt lebt. Dem hielt das Bundesverwaltungsgericht jedoch entgegen, dass der Revisionswerber die Beziehung zu einem Zeitpunkt eingegangen sei, als er sich über seinen unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein habe müssen.
13 Dass die erfolgte Interessenabwägung in einer den Leitlinien der hg. Rechtsprechung widersprechenden unvertretbaren Weise gewichtet worden wären, legt die Revision nicht dar.
14 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 29. Mai 2020
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