VwGH Ra 2020/10/0180

VwGHRa 2020/10/018029.6.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Rigler sowie die Hofräte Dr. Lukasser und Dr. Hofbauer als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Wurzer, über die Revision des Magistrats der Stadt Wien gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 25. September 2020, Zl. VGW‑141/021/9172/2020‑5, betreffend Mindestsicherung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Magistrat der Stadt Wien; mitbeteiligte Partei: Z M in W), zu Recht erkannt:

Normen

Auswertung in Arbeit!

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020100180.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Begründung

I.

1 1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 25. September 2020 erkannte das Verwaltungsgericht nach Durchführung einer Verhandlung ‑ in Abänderung eines Bescheides der belangten Behörde (des Revisionswerbers) ‑ der Mitbeteiligten für die Zeiträume 25. bis 31. Mai 2020 sowie 1. Juli bis 30. November 2020 Mindestsicherungsleistungen in bestimmter Höhe zu.

2 Begründend führte das Verwaltungsgericht - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse ‑ aus, die Mitbeteiligte bilde mit ihrem minderjährigen Sohn, dem für den Gültigkeitszeitraum 28. Juli 2017 bis 1. Oktober 2020 ein Behindertenpass ausgestellt worden sei, eine Bedarfsgemeinschaft. Der Sohn beziehe aufgrund eines Beschlusses des Bezirksgerichtes L. vom 2. Juli 2020 (rückwirkend) seit 1. Jänner 2020 einen monatlichen Unterhaltsvorschuss in der Höhe von € 300,‑ ‑.

3 Jeder zu einer Bedarfsgemeinschaft gehörenden Person, der ein Behindertenpass ausgestellt worden sei, gebühre - so das Verwaltungsgericht weiter ‑ der in § 8 Abs. 5 Wiener Mindestsicherungsgesetz ‑ WMG genannte Zuschlag. Da dem Sohn der Mitbeteiligten bereits 2017 ein Behindertenpass ausgestellt worden sei, habe dieser seit dem Inkrafttreten der genannten Bestimmung, somit seit Mai 2020, einen Anspruch auf Zuerkennung eines Behindertenzuschlages.

4 Dies bedeute, dass sich der für ihn maßgebliche Mindeststandard (§ 8 Abs. 2 Z 9 WMG) ex lege von € 247,68 um € 165,12 (§ 8 Abs. 5 WMG) auf € 412,80 erhöhe. Vor diesem Hintergrund kam das Verwaltungsgericht zu dem Ergebnis, dass § 7 Abs. 3 WMG ‑ entgegen der Ansicht der belangten Behörde ‑ aufgrund der „ex lege Erhöhung des Mindeststandards“ im vorliegenden Fall nicht schlagend werde und der Sohn der Mitbeteiligten (bis zum Gültigkeitsende seines Behindertenpasses) bei der Bemessung der Mindestsicherung gemäß § 10 WMG zu berücksichtigen sei.

5 2. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die samt den Akten des Verfahrens vom Verwaltungsgericht vorgelegte außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit vorbringt, es fehle Rechtsprechung zu den Fragen, ob der Mindeststandard einer minderjährigen Person zur Deckung des Lebensunterhaltes und Wohnbedarfs weiterhin bestehen bleibe, obwohl diese aufgrund der erhaltenen Unterhaltszahlungen nicht bei der Bemessung der Leistungen zu berücksichtigen sei bzw. ob der Zuschlag nach § 8 Abs. 5 WMG als eine de facto Erhöhung des Mindeststandards zu interpretieren sei.

6 Die Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag, die Revision als unzulässig zurück‑, in eventu als unbegründet abzuweisen.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat ‑ in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat ‑ erwogen:

7 1. Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet.

8 2.1. Die hier in den Blick zu nehmenden Bestimmungen des Wiener Mindestsicherungsgesetzes ‑ WMG, LGBl. Nr. 38/2010 in den zeitraumbezogen maßgeblichen Fassungen LGBl. Nr. 22/2020 und LGBl. Nr. 54/2020, lauten:

Ziele und Grundsätze

§ 1. (1) Die Wiener Mindestsicherung hat zum Ziel, Armut und soziale Ausschließung verstärkt zu bekämpfen und zu vermeiden, die Existenz von alleinstehenden und in Familien lebenden Personen zu sichern, [...]

[...]

(3) Die Zuerkennung von Leistungen der Wiener Mindestsicherung ist subsidiär. Sie erfolgt nur, wenn der Mindestbedarf nicht durch Einsatz eigener Arbeitskraft, eigener Mittel oder Leistungen Dritter gedeckt werden kann.

[...]

Erfasste Bedarfsbereiche

§ 3. (1) Die Wiener Mindestsicherung deckt den Mindestbedarf in den Bedarfsbereichen Lebensunterhalt, Wohnen, Krankheit, Schwangerschaft und Entbindung ab.

(2) Der Lebensunterhalt umfasst den Bedarf an Nahrung, Bekleidung, Körperpflege, Hausrat, Heizung und Energie sowie andere persönliche Bedürfnisse, zu denen auch die soziale und kulturelle Teilhabe zählt.

(3) Der Wohnbedarf umfasst den für die Gewährleistung einer angemessenen Wohnsituation erforderlichen Aufwand an Miete, Abgaben und allgemeinen Betriebskosten.

[...]

Allgemeine Anspruchsvoraussetzungen

§ 4. (1) Anspruch auf Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung hat, wer

1. zum anspruchsberechtigten Personenkreis (§ 5 Abs. 1 und 2) gehört,

2. seinen Lebensmittelpunkt in Wien hat, sich tatsächlich in Wien aufhält und seinen Lebensunterhalt in Wien bestreiten muss

3. die in § 3 definierten Bedarfe nicht durch den Einsatz seiner Arbeitskraft, mit eigenen Mitteln oder durch Leistungen Dritter abdecken kann,

4. einen Antrag stellt und am Verfahren und während des Bezuges von Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung entsprechend mitwirkt.

[...]

Anspruch auf Mindestsicherung des Lebensunterhalts und Wohnbedarfs

§ 7. (1) Anspruch auf Mindestsicherung des Lebensunterhalts und Wohnbedarfs haben volljährige Personen bei Erfüllung der Voraussetzungen nach § 4 Abs. 1 und 2. Der Anspruch auf Mindestsicherung des Lebensunterhalts und Wohnbedarfs kann nur gemeinsam geltend gemacht werden und steht volljährigen Personen der Bedarfsgemeinschaft solidarisch zu. Die Abdeckung des Bedarfs von zur Bedarfsgemeinschaft gehörenden minderjährigen Personen erfolgt durch Zuerkennung des maßgeblichen Mindeststandards an die anspruchberechtigten Personen der Bedarfsgemeinschaft, der sie angehören.

(2) Die Zurechnung zu einer Bedarfsgemeinschaft erfolgt nach folgenden Kriterien:

[...]

3. Minderjährige Personen im gemeinsamen Haushalt mit zumindest einem Eltern- oder Großelternteil oder mit einer zur Obsorge berechtigten Person bilden mit diesem oder dieser eine Bedarfsgemeinschaft.

[...]

(3) Bezieht eine zur Bedarfsgemeinschaft gehörende minderjährige Person im Sinne des Abs. 2 Z 3 oder volljährige Person bis zum vollendeten 21. Lebensjahr im Sinne des Abs. 2 Z 4 eine Unterhaltsleistung von einer nicht zur Bedarfsgemeinschaft gehörenden Person, eine Lehrlingsentschädigung oder ein sonstiges Einkommen, die bzw. das die Höhe des für diese Person maßgeblichen Mindeststandards übersteigt, so ist diese Person bei der Bemessung nicht zu berücksichtigen.

[...]

Mindeststandards

§ 8. (1) Die Bemessung der Leistungen zur Deckung des Lebensunterhalts und Wohnbedarfs erfolgt auf Grund der Mindeststandards gemäß Abs. 2, die bei volljährigen Personen auch einen Grundbetrag zur Deckung des Wohnbedarfs im Ausmaß von 25 vH des jeweiligen Mindeststandards enthalten.

(2) Die Mindeststandards für den Bemessungszeitraum von einem Monat betragen:

1. 100 vH des Ausgleichszulagenrichtsatzes nach § 293 Abs. 1 lit. a sublit. bb ASVG abzüglich des Betrages für die Krankenversicherung

[...]

b) für volljährige Personen ab dem vollendeten 25. Lebensjahr (Alleinerzieherinnen und Alleinerzieher), die ausschließlich mit nachfolgend genannten Personen eine Bedarfsgemeinschaft bilden:

[...]

bb) minderjährige Kinder, minderjährige Enkelkinder oder minderjährige Kinder in Obsorge.

[...]

9. 27 vH des Wertes nach Z 1 für minderjährige Personen in einer Bedarfsgemeinschaft gemäß § 7 Abs. 2 Z 3.

[...]

(5) Für zu einer Bedarfsgemeinschaft gehörende minderjährige und volljährige Personen gebührt zum monatlichen Mindeststandard ein Zuschlag in Höhe von 18 vH des Wertes nach Abs. 2 Z 1 pro Monat, wenn ihnen ein Behindertenpass gemäß § 40 Abs. 1 und 2 Bundesbehindertengesetz ‑ BBG ausgestellt wurde.

(6) Der Mindeststandard nach Abs. 2 Z 1 erhöht sich mit dem gleichen Prozentsatz wie der Ausgleichszulagenrichtsatz nach § 293 Abs. 1 lit. a sublit. bb ASVG. Die Beträge der Mindeststandards werden durch Verordnung der Landesregierung, allenfalls auch rückwirkend, kundgemacht.“

9 2.2. § 1 der Verordnung der Wiener Landesregierung zum Wiener Mindestsicherungsgesetz 2020, LGBl. Nr. 67/2019 (WMG‑VO 2020), lautet auszugsweise:

§ 1.

Mindeststandards, Grundbeträge zur Deckung des Wohnbedarfs und Geringfügigkeitsgrenze

[...]

(12) Für minderjährige Personen gemäß § 7 Abs. 2 Z 3 WMG beträgt der Mindeststandard EUR 247,68.

[...]“

10 3.1. Der vorliegende Revisionsfall gleicht in sachlicher und rechtlicher Hinsicht im Wesentlichen jenem, der mit hg. Erkenntnis vom 21. Mai 2021, Ra 2020/10/0184, entschieden wurde; auf dessen (ausführliche) Begründung wird gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen.

11 Demnach besteht der Anspruch auf einen Zuschlag gemäß § 8 Abs. 5 WMG für Personen, denen ein Behindertenpass gemäß § 40 Abs. 1 und 2 Bundesbehindertengesetz ausgestellt wurde, lediglich dann, wenn diese als Hilfesuchende Anspruch auf Mindestsicherung nach den §§ 4, 7 und 8 WMG haben. Beim Behindertenzuschlag handelt es sich in diesem Sinn um einen vom allgemeinen Mindestsicherungsanspruch abgeleiteten Anspruch, durch den der jeweils in Betracht kommende monatliche Mindeststandard erhöht wird.

12 Damit kommt ein Anspruch auf den Behindertenzuschlag aber für jene Personen nicht in Betracht, die den in § 3 WMG definierten Bedarf durch Einsatz ihrer Arbeitskraft, mit eigenen Mitteln oder durch Leistungen Dritter abdecken können und deshalb gemäß § 1 Abs. 3 iVm § 4 Abs. 1 Z 3 leg. cit. keinen Anspruch auf Leistungen der Wiener Mindestsicherung haben.

13 Die vom Verwaltungsgericht vertretene Auffassung, dass sich der maßgebliche Mindeststandard bei Vorhandensein eines Behindertenpasses ‑ unabhängig davon, ob ein allgemeiner Mindestsicherungsanspruch besteht ‑ „ex lege“ um den in § 8 Abs. 5 WMG vorgesehenen Betrag erhöhe und der Zuschlag nach § 8 Abs. 5 WMG damit gleichsam eine dem Grunde nach selbständige, den allgemeinen Bedarfsvoraussetzungen für die Gewährung von Mindestsicherung nicht unterliegende Sozialhilfeleistung darstelle, findet im Gesetz keine Deckung.

14 3.2. Im vorliegenden Fall überschreitet der dem minderjährigen Sohn der Mitbeteiligten zukommende monatliche Unterhaltsvorschuss den für ihn maßgeblichen Mindeststandard nach § 8 Abs. 2 Z 9 WMG. Der Mitbeteiligten als der anspruchsberechtigten Person der vorliegenden Bedarfsgemeinschaft (vgl. § 7 Abs. 1 dritter Satz WMG) waren daher keine Mindestsicherungsleistungen zur Abdeckung des Bedarfs ihres Sohnes zuzuerkennen (vgl. § 1 Abs. 3 WMG). Da sich der Anspruch auf einen Behindertenzuschlag nach § 8 Abs. 5 WMG ‑ nach dem Gesagten ‑ aber nur von einem solchen (hier nicht gegebenen) allgemeinen Mindestsicherungsanspruch ableiten kann, war der Mitbeteiligten ‑ entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts ‑ ein Zuschlag nach der genannten Bestimmung für ihren Sohn nicht zu gewähren.

15 4. Das angefochtene Erkenntnis erweist sich aus diesem Grund als mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

Wien, am 19. Juni 2021

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