VwGH Ra 2020/08/0030

VwGHRa 2020/08/003027.4.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler und den Hofrat Dr. Strohmayer als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Klima, LL.M., über die Revision des Arbeitsmarktservice St. Pölten, 3100 St. Pölten, Daniel Gran-Straße 10, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30. Jänner 2020, Zl. W255 2227230-1/3E, betreffend Ausschluss der aufschiebenden Wirkung in einer Angelegenheit des AlVG (mitbeteiligte Partei: I B in M, vertreten durch Dr. Peter Zawodsky, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Gumpendorfer Straße 71), zu Recht erkannt:

Normen

AlVG 1977 §10
AlVG 1977 §10 Abs1 Z1
AlVG 1977 §24 Abs1
AlVG 1977 §25 Abs1
AlVG 1977 §38
VwGVG 2014 §13 Abs2
VwGVG 2014 §13 Abs5
VwGVG 2014 §9 Abs1 Z3

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020080030.L00

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Erkenntnis wird dahingehend abgeändert, dass die Beschwerde gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 29. November 2019 als unbegründet abgewiesen wird.

Begründung

1 Mit Bescheid vom 23. Oktober 2019 stellte die revisionswerbende Partei (im Folgenden: AMS) fest, dass die Mitbeteiligte gemäß § 33 Abs. 2 iVm § 38, § 24 Abs. 1, § 7 und § 9 Abs. 1 AlVG ab 1. Oktober 2019 keine Notstandshilfe erhalte. Die Mitbeteiligte habe innerhalb eines Jahres drei Sanktionen nach § 10 AlVG erhalten. Die Leistungsvoraussetzung der Arbeitswilligkeit sei nicht gegeben.

2 Gegen diesen Bescheid erhob die Mitbeteiligte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Mit Bescheid des AMS vom 29. November 2019 wurde die aufschiebende Wirkung dieser Beschwerde gemäß § 13 Abs. 2 VwGVG ausgeschlossen, weil eine missbräuchliche Inanspruchnahme von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung zu verhindern und die Einbringlichkeit der Rückforderung bei vorläufiger Anweisung der Leistung in Anbetracht der seit 1998 bestehenden Arbeitslosigkeit und der gemäß § 10 AlVG verhängten Sanktionen gefährdet sei. 3 Die Mitbeteiligte erhob auch gegen diesen Bescheid Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht, die keinen ausdrücklichen Beschwerdeantrag enthält und ausschließlich damit begründet wurde, dass die Mitbeteiligte aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage gewesen sei, die zugewiesenen Beschäftigungen auszuüben. Insbesondere unterblieb ein Vorbringen, aus welchen Gründen sie der Vollzug des Bescheides über die Einstellung der Notstandshilfe allenfalls unverhältnismäßig hart treffen würde und welche Umstände allenfalls entgegen den Feststellungen des AMS für die Einbringlichkeit einer künftigen Rückforderung sprechen würden.

4 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis hat das Bundesverwaltungsgericht der zweitgenannten Beschwerde stattgegeben und den angefochtenen Bescheid vom 29. November 2019 betreffend den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung ersatzlos behoben. Es stellte fest, dass die Mitbeteiligte seit 25. August 1998 - unterbrochen nur durch Krankengeldbezüge - Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung beziehe. Für den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde genüge es nicht, dass ein öffentliches Interesse an der vorzeitigen Vollstreckung des Bescheides bestehe, sondern es müsse darüber hinaus noch die Umsetzung des Bescheides in die Wirklichkeit wegen Gefahr im Verzug dringend geboten sein, weil den berührten öffentlichen Interessen ein gravierender Nachteil drohe. Die Annahme, dass Gefahr im Verzug vorliege, würde eine sachverhaltsbezogene Beurteilung durch die Behörde mit dem Ergebnis bedingen, dass die Gefahr für den Fall des Zuwartens konkret bestehe. Die Entscheidung über die Zuerkennung oder die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung müsse das Ergebnis einer im Einzelfall vorzunehmenden Interessenabwägung sein. Der angefochtene Bescheid lege nicht konkret dar, aus welchen Gründen die Einbringlichkeit der Forderung gefährdet erscheine und weshalb der vorzeitige Vollzug des Bescheides dringend geboten sei. Das AMS habe sich auch nicht mit der in § 25 Abs. 4 AlVG vorgesehenen Möglichkeit auseinandergesetzt, einen Rückersatz der Notstandshilfe durch Gewährung von Ratenzahlungen oder im Wege der teilweisen Einbehaltung eines laufenden Notstandshilfebezuges hereinzubringen. Schließlich sei zweifelhaft, ob der zu Grunde liegende Einstellungsbescheid des AMS vom 23. Oktober 2019, auf den sich der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde beziehe, rechtmäßig sei. Mangels Durchführung einer Interessenabwägung iSd § 13 Abs. 2 VwGVG durch das AMS falle die Interessenabwägung zu Gunsten der Mitbeteiligten aus. Das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 11. April 2018, Ro 2017/08/0033, wonach das öffentliche Interesse an einem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung insbesondere im Fall einer Sanktion nach § 10 AlVG überwiege, sei auf den gegenständlichen Fall (Einstellung der Notstandshilfe mangels Arbeitswilligkeit gemäß § 33 Abs. 2 AlVG) nicht anwendbar.

5 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision. Die Mitbeteiligte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet, in der sie die kostenpflichtige Zurückweisung bzw. Abweisung der Revision beantragt.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Das AMS bringt zur Zulässigkeit der außerordentlichen Revision vor, dass das Bundesverwaltungsgericht von dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 11. April 2018, Ro 2017/08/0033, abgewichen sei.

8 Die Revision ist zulässig und berechtigt.

9 Nach § 13 Abs. 1 VwGVG hat eine rechtzeitig eingebrachte und zulässige Beschwerde gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG aufschiebende Wirkung. Diese kann jedoch gemäß § 13 Abs. 2 VwGVG von der Behörde mit Bescheid ausgeschlossen werden, wenn nach Abwägung der berührten öffentlichen Interessen und Interessen anderer Parteien der vorzeitige Vollzug des angefochtenen Bescheids wegen Gefahr im Verzug dringend geboten ist.

10 Die Voraussetzungen für einen Ausschluss der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof im genannten Erkenntnis vom 11. April 2018, Ro 2017/08/0033, behandelt. Das Tatbestandsmerkmal "Gefahr im Verzug" bringt demnach zum Ausdruck, dass der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung nur das Eintreten erheblicher Nachteile für eine Partei bzw. gravierender Nachteile für das öffentliche Wohl verhindern soll.

11 Um die vom Gesetzgeber außerdem geforderte Interessenabwägung vornehmen zu können, hat ein Notstandshilfebezieher insbesondere die nicht ohne weiteres erkennbaren Umstände, die sein Interesse an einer Weitergewährung untermauern, sowie die in seiner Sphäre liegenden Umstände, die entgegen entsprechender Feststellungen des AMS für die Einbringlichkeit einer künftigen Rückforderung sprechen, spätestens in der Begründung (§ 9 Abs. 1 Z 3 VwGVG) seiner Beschwerde gegen die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung konkret darzutun und zu bescheinigen, zumal das Verwaltungsgericht gemäß § 13 Abs. 5 VwGVG über die Beschwerde ohne weiteres Verfahren unverzüglich zu entscheiden hat.

12 Ein im öffentlichen Interesse gelegener Bedarf nach einer Aberkennung der aufschiebenden Wirkung ist im Allgemeinen insbesondere bei der Verhängung einer Sperrfrist mangels Arbeitswilligkeit gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG (iVm § 38 AlVG) gegeben, deren disziplinierender Zweck weitgehend verloren ginge, wenn sie erst Monate nach ihrer Verhängung in Kraft treten würde. Die Interessenabwägung kann vor allem dann zu Gunsten einer Aberkennung der aufschiebenden Wirkung ausschlagen, wenn für den Fall einer vorläufigen Weitergewährung einer Leistung die Einbringlichkeit des Überbezuges gefährdet ist. Ob eine solche Gefährdung vorliegt, hat das AMS zu ermitteln und gegebenenfalls auf Grund konkret festzustellender Tatsachen über die wirtschaftlichen Verhältnisse der betroffenen Partei festzustellen. Wirkt der Notstandshilfebezieher allerdings nicht in der oben beschriebenen Weise an den Feststellungen über die Prognose der Einbringlichkeit mit, kann von einer Gefährdung derselben ausgegangen werden.

13 Eine maßgebliche Gefährdung der Einbringlichkeit des Überbezuges wäre allerdings dann nicht anzunehmen, wenn die prima facie beurteilten Erfolgsaussichten der Beschwerde eine Rückforderung der weiter gezahlten Notstandshilfe unwahrscheinlich machen.

14 Diese im genannten Erkenntnis dargelegten Leitlinien gelten grundsätzlich auch für den vorliegenden Fall einer gänzlichen Einstellung der Notstandshilfe. Die Mitbeteiligte hat nicht konkret behauptet, dass sie der Vollzug des Bescheides über die Einstellung der Notstandshilfe unverhältnismäßig hart treffen würde und dass die Einbringlichkeit der Rückforderung - entgegen den (gerade noch ausreichend begründeten) Feststellungen des AMS - in ihrem Fall nicht gefährdet wäre. Auch ist prima facie nicht ersichtlich, dass ihre Beschwerde gegen die Einstellung der Notstandshilfe ab 1. Oktober 2019 wahrscheinlich Erfolg haben wird (VwGH 23.3.2015, Ro 2014/08/0023).

15 In Anbetracht dessen ergibt eine Abwägung ihrer Interessen an der Weiterzahlung der Notstandshilfe mit den beschriebenen öffentlichen Interessen an der Wirksamkeit der Einstellung der Notstandshilfe und an der Einbringlichkeit von Rückforderungsansprüchen ein Überwiegen der öffentlichen Interessen. Angesichts der vom AMS festgestellten Umstände des Einzelfalls ist von einem so gravierenden Nachteil für die berührten öffentlichen Interessen auszugehen, dass Gefahr im Verzug vorliegt.

16 Gemäß § 42 Abs. 4 VwGG war in der Sache selbst auszusprechen, dass die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 23. Oktober 2019 auszuschließen ist.

Wien, am 27. April 2020

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