VwGH Ra 2020/01/0043

VwGHRa 2020/01/004329.4.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Fasching als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision der Steiermärkischen Landesregierung, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts

Steiermark vom 20. Dezember 2019, Zl. LVwG 70.20-1507/2109-9, betreffend Staatsbürgerschaft (mitbeteiligte Partei: R S O in G, vertreten durch Dr. Wolfgang Vacarescu, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Jakominiplatz 16/I), zu Recht erkannt:

Normen

MRK Art8
StbG 1985 §27 Abs1
62017CJ0221 Tjebbes VORAB

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020010043.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Mit Bescheid vom 2. Mai 2019 stellte die Revisionswerberin (in der Folge: Landesregierung) fest, dass der Mitbeteiligte die österreichische Staatsbürgerschaft gemäß § 27 Abs. 1 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG) durch den Wiedererwerb der nigerianischen Staatsangehörigkeit verloren habe.

2 Begründend führte die Landesregierung aus, dass dem Mitbeteiligten - nach vorangegangenem freiwilligem Verzicht auf die nigerianische Staatsangehörigkeit und Rückgabe seines nigerianischen Reisepasses - mit am 18. Oktober 2001 rechtskräftig gewordenem Bescheid die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen worden sei. Anlässlich einer Kontrolle am Flughafen Graz am 28. Februar 2018 sei beim Mitbeteiligten ein am 27. Mai 2013 ausgestellter und bis 26. Mai 2018 gültiger nigerianischer Reisepass gefunden worden. Dieser sei vom Mitbeteiligten auch benutzt worden, weil sich darin zahlreiche Einreisestempel "nach Lagos" befunden hätten.

3 Laut nigerianischem Staatsangehörigkeitsrecht (Art. 25 bis 27 der Verfassung) könne die Staatsangehörigkeit durch - im vorliegenden Fall in Betracht kommende - Registrierung und Einbürgerung erworben werden. Dies setze voraus, dass der Wille des Betroffenen vorliege, die nigerianische Staatsangehörigkeit zu erwerben. Gemäß § 27 Abs. 1 StbG bewirke jede Willenserklärung, die auf den Erwerb der fremden Staatsangehörigkeit gerichtet sei, den Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft. Der Mitbeteiligte habe vorliegend die nigerianische Staatsangehörigkeit wieder erworben, ohne dass ihm davor die Beibehaltung der österreichischen Staatsangehörigkeit bewilligt worden sei.

4 Der dagegen vom Mitbeteiligten erhobenen Beschwerde gab das Landesverwaltungsgericht Steiermark (LVwG) - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 20. Dezember 2019 Folge und behob den angefochtenen Bescheid (I.). Die Revision an den Verwaltungsgerichtshof erklärte das LVwG für nicht zulässig (II.).

5 Begründend ging das Landesverwaltungsgericht zunächst von der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Mitbeteiligten (zu den von ihm behaupteten Umständen des Erwerbs des nigerianischen Reisepasses) aus. Vielmehr habe eine Nachfrage bei der nigerianischen Botschaft ergeben, dass auf den Mitbeteiligten bereits ein von 18. September 2008 bis 17. September 2013 gültiger nigerianischer Reisepass ausgestellt worden sei.

6 Nach der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache C- 221/17 , Tjebbes ua., vom 12. März 2019 sei bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 27 Abs. 1 StbG eine Verhältnismäßigkeitsprüfu ng vorzunehmen. Der Mitbeteiligte habe sieben Kinder, die österreichische Staatsbürger seien. Er sei seit 2003 verheiratet und lebe seither mit seiner Gattin und noch drei Kindern im gemeinsamen Haushalt. Er betreibe ein Familienunternehmen, nämlich Handel mit Waren aller Art, in Graz. Angesichts dessen wäre der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft mit besonderen Schwierigkeiten verbunden, einerseits um den Kontakt mit seinen Familienmitgliedern aufrecht zu erhalten, andererseits um seine berufliche Tätigkeit auszuüben. Der Umstand, dass sich der Mitbeteiligte nach seinen eigenen Angaben vier bis fünf Monate im Jahr in Nigeria aufhalte, falle dabei nicht entscheidend ins Gewicht. Der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft wäre im Hinblick auf die Folgen für die Situation des Mitbeteiligten und seiner Familienangehörigen mit dem Grundsatz der unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeit nicht vereinbar. 7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Amtsrevision, die zu ihrer Zulässigkeit vorbringt, das LVwG sei von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhältnismäßigkeitsprüfung im Sinne des Tjebbes-Urteils des EuGH abgewichen. Das LVwG habe nicht geprüft, welche konkreten Folgen bei einem Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft des Mitbeteiligten eintreten würden. Im vorliegenden Fall könnte der nach dem Verlust der Staatsbürgerschaft eintretende rechtswidrige Aufenthalt des Mitbeteiligten im Bundesgebiet durch Beantragung eines Aufenthaltstitels nach näher genannte Bestimmungen des NAG bzw. des AsylG 2005 "umgehend saniert" werden. Auch berufsrechtliche Auswirkungen nach der Gewerbeordnung gebe es diesfalls "nahezu nicht".

8 In dem vom Verwaltungsgerichtshof durchgeführten Vorverfahren erstattete der anwaltliche vertretene Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung, in welcher der (durch seine entsprechende Willenserklärung bewirkte) Wiedererwerb der nigerianischen Staatsangehörigkeit nicht in Abrede gestellt, sondern die Zulässigkeit bzw. Berechtigung der Amtsrevision lediglich unter Verweis auf die vom LVwG vorgenommene Verhältnismäßigkeitsprüfung bestritten wird.

 

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:

10 Die Amtsrevision ist zulässig; sie ist auch berechtigt.

11 Auf die Kriterien der unionsrechtlich gebotenen

Verhältnismäßigkeitsprüfung ist der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung bereits wiederholt eingegangen (vgl. VwGH 30.9.2019, Ra 2019/01/0281 und Ra 2018/01/0477;

17.12.2019, Ro 2019/01/0012-0013; 28.1.2020, Ra 2019/01/0466;

vgl. weiters jüngst VwGH 27.2.2020, Ra 2020/01/0050). 12 In dem diese Rechtsprechung zusammenfassend darstellenden Beschluss VwGH 18.2.2020, Ra 2020/01/0022, hat der Verwaltungsgerichtshof ausgeführt:

" ‚... Insbesondere verweist der Verwaltungsgerichtshof auf sein Erkenntnis vom 30. September 2019, Ra 2019/01/0281, in dem zusammenfassend festgehalten wird, dass nach den Vorgaben des EuGH im Urteil Tjebbes u.a. (Verweis auf die Rn. 40 und 44) zu prüfen ist, ob fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der österreichischen Staatsbürgerschaft ausnahmsweise unverhältnismäßig ist. Unter Berücksichtigung der (zu EuGH Tjebbes u.a.) ergangenen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (VfGH 17.6.2019, E 1832/2019, mit Verweis auf EGMR 21.6.2016, Ramadan, Appl. 76.136/12, Z. 90ff) ist die unionsrechtlich gebotene Abwägung vor dem Hintergrund von Art. 8 EMRK zu betrachten. Eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist jedoch im Allgemeinen nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG und daher vom Verwaltungsgerichtshof im Revisionsmodell nur aufzugreifen, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet hat und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten hat oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalls vorgenommen hat bzw. die Entscheidung auf einer verfahrensrechtlich nicht einwandfreien Grundlage erfolgte (vgl. die Rn. 11 bis 16 des zitierten Erkenntnisses Ra 2019/01/0281, mwN).

Weiter hat der Verwaltungsgerichtshof im Beschluss Ro 2019/01/0012 0013 auf die Rechtsprechung des VfGH hingewiesen, nach der es im Lichte des Art. 8 EMRK und des Gleichheitsgrundsatzes nicht zu beanstanden ist, wenn § 27 Abs. 1 StbG bei (Wieder‑)Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit für den Fall, dass der Betroffene die ihm eingeräumte Möglichkeit zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft nicht wahrnimmt, davon ausgeht, dass die öffentlichen Interessen an der Vermeidung mehrfacher Staatsangehörigkeiten überwiegen (vgl. VfGH 17.6. 2019, E 1302/2019). Zur Bedeutung des Rechts auf Achtung des Familienlebens (nach Art. 7 GRC) bei der Verhältnismäßigkeitsprüfun g nach dem Urteil Tjebbes u.a. verweist der zitierte Beschluss Ro 2019/01/0012-0013 auf die Rn. 45 dieses Urteils.'

24 In der dortigen Revisionssache hat der Verwaltungsgerichtshof eine einzelfallbezogene Verhältnismäßigkeitsprüfung als nicht unvertretbar angesehen, bei der unter anderem berücksichtigt wurde, dass der Betroffene aus freien Stücken, ohne die ihm eingeräumte Möglichkeit der Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft wahrzunehmen, eine fremde Staatsangehörigkeit angenommen hat. Im Beschluss vom 17. Dezember 2019, Ro 2019/01/0012 bis 0013, hat der Verwaltungsgerichtshof ausgeführt, das Verwaltungsgericht habe die Rechtsprechung des VfGH (in VfGH 17.6.2019, E 1302/2019) beachtet, wenn es in der dortigen Revisionssache (welche die Erstreckung des Verlustes der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 29 StbG betraf) entscheidend darauf abgestellt hat, dass die Betroffenen zu keiner Zeit selbstständig eine Willenserklärung im Sinne des § 27 StbG abgegeben hätten (und demgemäß auch keinen Antrag auf Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft stellten).

25 Diese Rechtsprechung lässt erkennen, dass der Verwaltungsgerichtshof neben der vom VfGH in seiner Rechtsprechung VfGH 17.6.2019, E 1302/2019, vertretenen verfassungsrechtlichen Sicht (weiterhin) eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nach den Kriterien des EuGH in der Rechtssache Tjebbes u.a., für unionsrechtlich geboten hält. Eine solche unionsrechtlich gebotene Prüfung erfordert eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umständen des Einzelfalles durchgeführte Gesamtbetrachtung. 26 Bei einer solchen Gesamtbetrachtung wird jedoch regelmäßig der vom VfGH aus verfassungsrechtlicher Sicht angeführte Umstand, dass der Betroffene die ihm eingeräumte Möglichkeit zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft (nach § 28 Abs. 1 StbG) nicht wahrgenommen hat, von maßgeblicher Bedeutung sein. Dieser Umstand entbindet das Verwaltungsgericht aber nicht von der unionsrechtlich gebotenen Gesamtbetrachtung, ob fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der österreichischen Staatsbürgerschaft ausnahmsweise

unverhältnismäßig ist. ..."

Verhältnismäßigkeitsprüfung im vorliegenden Fall:

13 Vorweg ist (neuerlich) hervorzuheben, dass nach den Vorgaben des EuGH im Urteil Tjebbes u.a. zu prüfen ist, ob fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der österreichischen Staatsbürgerschaft ausnahmsweise unverhältnismäßig ist. Dies bedeutet, dass das Unionsrecht dem exlege eintretenden Verlust der Staatsbürgerschaft nach § 27 Abs. 1 StbG nur bei Vorliegen besonders gewichtiger bzw. außergewöhnlicher Umstände (des Privat- und Familienlebens des Betroffenen) entgegen steht.

14 Vorliegend hat das LVwG die Unverhältnismäßigkeit des Verlusts der österreichischen Staatsbürgerschaft lediglich mit "besonderen Schwierigkeiten" des Mitbeteiligten, seine familiären Kontakte aufrecht zu erhalten und seine berufliche Tätigkeit auszuüben, begründet.

15 Es hat dabei aber nicht ansatzweise dargelegt, worin diese Schwierigkeiten für den Mitbeteiligten im Fall des Verlusts der österreichischen Staatsbürgerschaft konkret bestehen, zumal es im Revisionsfall - entgegen der Auffassung des LVwG - auch entscheidend ins Gewicht fällt, dass sich der Mitbeteiligte bereits in der Vergangenheit bis zu fünf Monate im Jahr nicht in Österreich aufgehalten hat.

16 In diesem Zusammenhang weist die Amtsrevision auch zutreffend darauf hin, dass sich das LVwG mit der Frage, inwieweit dem Mitbeteiligten die Möglichkeit der Erlangung eines Aufenthaltstitels - und damit der Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens in Österreich - offensteht, nicht auseinander gesetzt hat.

17 Nicht zuletzt hat das LVwG dem Umstand, dass der Mitbeteiligte die nigerianische Staatsangehörigkeit aus freien Stücken angenommen hat, ohne die ihm eingeräumte Möglichkeit (der Beantragung) der Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 28 StbG wahrzunehmen, keine Beachtung geschenkt. Gerade diesem Umstand kommt nach der oberwähnten Rechtsprechung bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung aber maßgebliche Bedeutung zu.

18 Das LVwG ist aus den genannten Gründen von den vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätzen zur Verhältnismäßigkeitsprüfung abgewichen und hat seinen Anwendungsspielraum überschritten.

19 Das LVwG hat daher das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit behaftet, weshalb das Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

Wien, am 29. April 2020

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte