VwGH Ra 2020/01/0022

VwGHRa 2020/01/002218.2.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek und die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Fasching als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision der S S, vertreten durch Mag.a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 30. Juli 2019, Zl. VGW‑153/065/728/2019‑8, betreffend Staatsbürgerschaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Wiener Landesregierung), den Beschluss gefasst:

Normen

StbG 1985 §27
StbG 1985 §28 Abs1
StbG 1985 §29
62017CJ0221 Tjebbes VORAB

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020010022.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

Angefochtenes Erkenntnis

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde in der Sache gemäß § 27 Abs. 1 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG) festgestellt, dass die Revisionswerberin durch den Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit am 23. Mai 1995 die österreichische Staatsbürgerschaft verloren hat (I.). Weiters wurde die Revision für unzulässig erklärt (II.).

2 Begründend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, der 1963 als türkische Staatsangehörige in Istanbul geborenen Revisionswerberin sei 1992 die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen worden. Danach sei sie endgültig mit Wirksamkeit vom 28. Oktober 1994 aus dem türkischen Staatsverband entlassen worden. Auf ihren Antrag sei die Revisionswerberin mit näher zitiertem Beschluss des türkischen Ministerrats vom 23. Mai 1995 wieder in den türkischen Staatsverband aufgenommen worden. Mit Wirksamkeit vom 14. Februar 2000 sei die Revisionswerberin erneut aus dem türkischen Staatsverband ausgeschieden.

3 Da die Revisionswerberin unstrittig die türkische Staatsangehörigkeit im Jahr 1995 auf Grund eigener „positiver“ Willenserklärung wieder erworben habe, stehe fest, dass sie gemäß § 27 Abs. 1 StbG ex lege die österreichische Staatsbürgerschaft im Jahr 1995 verloren habe.

4 Auf Grund der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom 12. März 2019, C‑221/17, Tjebbes u.a., sei gegenständlich eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen. Dabei habe das Verwaltungsgericht die privaten Interessen der Revisionswerberin gegenüber den öffentlichen Interessen abzuwägen.

5 Zweifellos könne die Revisionswerberin ‑ wie festgestellt ‑ berücksichtigungswürdige private und familiäre Gründe geltend machen. Die Revisionswerberin habe (noch in der Türkei) von klein auf eine Ausbildung genossen, die eng mit der deutschen Sprache verbunden gewesen sei. Obwohl die Revisionswerberin seit beinahe 20 Jahren in der Türkei lebe und arbeite, sei sie sprachlich, kulturell wie auch beruflich eng mit Österreich bzw. Deutschland verbunden geblieben.

6 Im Einzelnen stellte das Verwaltungsgericht (unter anderem) fest, die Revisionswerberin lebe (mit ihrer jüngeren Tochter) in Istanbul, wo der Vater und die Schwester der Revisionswerberin lebten. 1993 habe die Revisionswerberin in Wien eine Eigentumswohnung erworben, die nach 1997 wiederholt vermietet worden sei. Seit zwei Jahren stehe die Wohnung leer und diene dem Aufenthalt der Revisionswerberin und ihrer beiden Töchter. Die beiden Töchter der Revisionswerberin besäßen die österreichische Staatsbürgerschaft. Die Revisionswerberin sei nach der Matura 1982 nach Wien gekommen, um dort zu studieren und habe nebenbei (näher bezeichnet) gearbeitet. Nach ihrer Übersiedlung (von Deutschland) in die Türkei Ende 1999 habe die Revisionswerberin 2003 in Deutschland ein näher bezeichnetes Handelsunternehmen gegründet. 2006 habe die Revisionswerberin in der Türkei einen „Verein für Reformpädagogik Alternativpädagogik“ gegründet und sei seit zwei Jahren Vereinsvorsitzende. Der Verein veröffentliche regelmäßig bildungskritische Schriftreihen („alternatif egitim“). 2008 habe die Revisionswerberin ein näher bezeichnetes Unternehmen in Istanbul gegründet. Im März 2019 habe die Revisionswerberin erneut in Deutschland ein Unternehmen gegründet. Die Revisionswerberin beabsichtige mit ihrer jüngeren Tochter im Herbst 2019 nach Wien zurückzukehren und dort beruflich Fuß zu fassen. Ihre Tochter wolle in Wien studieren, wenn ihr gesundheitlicher Zustand es erlaube. Sie leide zur Zeit an Panikattacken, weshalb sie in der Türkei in Behandlung stehe. Die Revisionswerberin wolle nicht mehr in der Türkei leben und auch nicht wieder die türkische Staatsangehörigkeit beantragen.

7 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht weiter aus, das öffentliche Interesse bestehe an der Vermeidung von Doppelstaatsbürgerschaften in Österreich. Nach Verweis auf den Beschluss des Verfassungsgerichtshofes (VfGH) vom 26. Juni 2019, E 2283/2019, führte das Verwaltungsgericht aus, die Revisionswerberin habe gegenständlich von der Möglichkeit der Antragstellung zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft vor Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit nicht Gebrauch gemacht. Vielmehr habe sie auf eigenen Wunsch die türkische Staatsangehörigkeit wieder erworben, weshalb sie nun die Folgen des Verlustes der österreichischen Staatsbürgerschaft zu tragen habe. Der Rechtsauffassung des VfGH folgend falle somit die Interessenabwägung zu Ungunsten der Revisionswerberin aus. Der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft (und damit verbunden der Status als Bürgerin der Europäischen Union) erweise sich somit nicht als unverhältnismäßig.

Ablehnung durch den VfGH

8 Gegen dieses Erkenntnis erhob die Revisionswerberin zunächst Beschwerde an den VfGH. Der VfGH lehnte die Behandlung der Beschwerde mit Beschluss vom 3. Oktober 2019, E 3457/2019‑5, ab und führte begründend unter anderem aus:

„Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist dem Verwaltungsgericht insbesondere auch nicht entgegenzutreten, wenn es dabei von der Verhältnismäßigkeit des gemäß § 27 Abs. 1 StbG ex lege eintretenden Verlustes der Staatsbürgerschaft ausgeht (vgl. mwN VfGH 17.6.2019, E 1302/2019)“.

9 Mit Beschluss vom 23. Oktober 2019, E 3457/2019‑7, wurde die Beschwerde über nachträglichen Antrag gemäß Art. 144 Abs. 3 B‑VG dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

Sodann erhob die Revisionswerberin die vorliegende außerordentliche Revision.

Zulässigkeit

Allgemein

10 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

11 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

12 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

Zulässigkeitsvorbringen

13 Die Revision bringt in der alleine maßgeblichen Zulässigkeitsbegründung vor, das Verwaltungsgericht gebe durch den Verweis auf die zitierte Rechtsprechung des VfGH zu erkennen, dass in jenen Fällen, in denen die Betroffenen keinen Antrag nach § 28 StbG gestellt hätten, dem öffentlichen Interesse an der Vermeidung von Doppelstaatsbürgerschaften in Österreich stets ein solches Gewicht zukomme, dass die privaten und familiären Interessen nicht schwerer wiegen könnten, sodass immer von der Verhältnismäßigkeit des Eingriffes auszugehen sei. Dagegen vertrete der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung (Verweis auf VwGH 30.9.2019, Ra 2018/01/0477) offenkundig die Rechtsmeinung, dass der mit dem Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft verbundene Eingriff in das Privat‑ und Familienleben der Betroffenen selbst dann verhältnismäßig sein könne, wenn kein Antrag auf Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 28 StbG gestellt worden sei. Es sei die Verpflichtung der Behörde oder allenfalls des Verwaltungsgerichtes nach Durchführung einer rechtskonformen Interessenabwägung über die Zulässigkeit des Eingriffes zu befinden. Daher weiche das Verwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis von dieser Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab.

14 Darüber hinaus fehle die verfahrensrechtlich einwandfreie Grundlage für die Beurteilung nach Art. 8 EMRK. So sei das Verwaltungsgericht nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (wiederum Verweis auf VwGH 30.9.2019, Ra 2018/01/0477) verpflichtet gewesen, die vom EuGH in der Rechtssache C‑221/17, Tjebbes u.a., in Rn. 46 genannten Kriterien heranzuziehen. Eine solche verfahrensrechtlich einwandfreie Grundlage fehle im angefochtenen Erkenntnis.

15 Die Revisionswerberin sei in Deutschland als Gewerbetreibende selbstständig erwerbstätig und nehme somit eine durch das Unionsrecht garantierte Grundfreiheit in Anspruch.

16 Darüber hinaus sei die Revisionswerberin Eigentümerin einer Wohnung in Wien. Bei Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft laufe sie Gefahr, diese Wohnung zu verlieren. Die Revisionswerberin gelte gemäß § 2 Z 1 Wiener Ausländergrunderwerbsgesetz als Ausländerin. Die Voraussetzung für eine Genehmigung nach § 1 Abs. 1 dieses Gesetzes liege bei der Revisionswerberin, welche sich gegenwärtig in der Türkei aufhalte und wegen der aus dem angefochtenen Erkenntnis resultierenden Staatenlosigkeit nicht aus der Türkei ausreisen und auch mangels Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet nicht nach Österreich einreisen dürfe, nicht vor.

17 Die Revisionswerberin sei auch eine politische Aktivistin in der Türkei. Sie sei Obfrau des Vereines „alternatif egitim“ und setze sich für eine westliche pädagogische Bildung in der Türkei ein. Die Revisionswerberin habe öffentlich das Bildungssystem der Regierung kritisiert und zahlreiche Auftritte in Print‑ und elektronischen Medien absolviert. Die österreichische Staatsbürgerschaft habe der Revisionswerberin einen Schutz vor möglichen Repressalien des türkischen Regimes geboten. Nunmehr bestehe für sie nicht mehr die Möglichkeit, konsularischen Schutz im Falle des willkürlichen Vorgehens des türkischen Staates zu genießen.

18 Weiters benötige die jüngere Tochter der Revisionswerberin, die unter Panikattacken leide, die Betreuung durch die Revisionswerberin. Die Tochter habe versucht, alleine in Berlin einem Studium nachzugehen, sei jedoch psychisch dazu nicht in der Lage gewesen, sodass sie in die Türkei zurückkehren habe müssen. Die Revisionswerberin habe zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses beabsichtigt, mit ihrer Tochter nach Wien zu ziehen, damit diese in Wien ihr Studium betreiben könne. Das angefochtene Erkenntnis gefährde somit auch das Wohlergehen der Familienangehörigen der Revisionswerberin.

19 Angesichts dieser Sachverhaltselemente könne dem öffentlichen Interesse an der Vermeidung von Doppelstaatsbürgerschaften keine solche Bedeutung zukommen, dass der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft für die Revisionswerberin verhältnismäßig wäre. Auch aus diesen Gründen sei die vorliegende Revision zulässig.

20 Mit diesem Vorbringen wird die Zulässigkeit der vorliegenden Revision nicht aufgezeigt:

Kriterien der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach EuGH Tjebbes u.a.

21 Die Revision bestreitet nicht, dass das Verwaltungsgericht vorliegend eine nach der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache C‑221/17, Tjebbes u.a., unionsrechtlich gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt hat (vgl. zu dieser Verpflichtung jüngst VwGH 28.1.2020, Ra 2019/01/0466, mit Verweis auf VwGH 17.12.2019, Ro 2019/01/0012‑0013, und VwGH 30.9.2019, Ra 2018/01/0477).

22 Die Revision wendet jedoch ein, die Durchführung der Verhältnismäßigkeitsprüfung habe nicht der einschlägigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entsprochen. Das Verwaltungsgericht hätte nicht der Rechtsprechung des VfGH folgend davon ausgehen dürfen, dass im Falle einer fehlenden Antragstellung auf Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 28 StbG stets und in jedem Fall von einer Verhältnismäßigkeit auszugehen sei.

23 Auf die Kriterien der unionsrechtlich gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung und die Rechtsprechung des VfGH im Beschluss vom 17. Juni 2019, E 1302/2019, ist der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung bereits eingegangen. So hat der Verwaltungsgerichtshof im zitierten Beschluss vom 28. Jänner 2020, Ra 2019/01/0466, Rn. 22 ‑ 25, wie folgt festgehalten:

Zu den Kriterien der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach EuGH Tjebbes u.a.

Auch die zweite von der Revision (zu ihrer Zulässigkeit) vorgebrachte Rechtsfrage ist bereits durch Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes geklärt.

So hat der Verwaltungsgerichtshof im zitierten Beschluss, auf dessen Begründung auch insoweit gemäß § 43 Abs. 2 iVm 9 VwGG verwiesen werden kann, die bestehende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Durchführung der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach EuGH Tjebbes u.a. wiedergegeben.

Insbesondere verweist der Verwaltungsgerichtshof auf sein Erkenntnis vom 30. September 2019, Ra 2019/01/0281, in dem zusammenfassend festgehalten wird, dass nach den Vorgaben des EuGH im Urteil Tjebbes u.a. (Verweis auf die Rn. 40 und 44) zu prüfen ist, ob fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der österreichischen Staatsbürgerschaft ausnahmsweise unverhältnismäßig ist. Unter Berücksichtigung der (zu EuGH Tjebbes u.a.) ergangenen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (VfGH 17.6.2019, E 1832/2019, mit Verweis auf EGMR 21.6.2016, Ramadan, Appl. 76.136/12, Z. 90ff) ist die unionsrechtlich gebotene Abwägung vor dem Hintergrund von Art. 8 EMRK zu betrachten. Eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist jedoch im Allgemeinen nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG und daher vom Verwaltungsgerichtshof im Revisionsmodell nur aufzugreifen, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet hat und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten hat oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalls vorgenommen hat bzw. die Entscheidung auf einer verfahrensrechtlich nicht einwandfreien Grundlage erfolgte (vgl. die Rn. 11 bis 16 des zitierten Erkenntnisses Ra 2019/01/0281, mwN).

Weiter hat der Verwaltungsgerichtshof im Beschluss Ro 2019/01/0012 0013 auf die Rechtsprechung des VfGH hingewiesen, nach der es im Lichte des Art. 8 EMRK und des Gleichheitsgrundsatzes nicht zu beanstanden ist, wenn § 27 Abs. 1 StbG bei (Wieder‑)Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit für den Fall, dass der Betroffene die ihm eingeräumte Möglichkeit zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft nicht wahrnimmt, davon ausgeht, dass die öffentlichen Interessen an der Vermeidung mehrfacher Staatsangehörigkeiten überwiegen (vgl. VfGH 17.6. 2019, E 1302/2019). Zur Bedeutung des Rechts auf Achtung des Familienlebens (nach Art. 7 GRC) bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach dem Urteil Tjebbes u.a. verweist der zitierte Beschluss Ro 2019/01/0012‑0013 auf die Rn. 45 dieses Urteils.“

24 In der dortigen Revisionssache hat der Verwaltungsgerichtshof eine einzelfallbezogene Verhältnismäßigkeitsprüfung als nicht unvertretbar angesehen, bei der unter anderem berücksichtigt wurde, dass der Betroffene aus freien Stücken, ohne die ihm eingeräumte Möglichkeit der Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft wahrzunehmen, eine fremde Staatsangehörigkeit angenommen hat. Im Beschluss vom 17. Dezember 2019, Ro 2019/01/0012 bis 0013, hat der Verwaltungsgerichtshof ausgeführt, das Verwaltungsgericht habe die Rechtsprechung des VfGH (in VfGH 17.6.2019, E 1302/2019) beachtet, wenn es in der dortigen Revisionssache (welche die Erstreckung des Verlustes der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 29 StbG betraf) entscheidend darauf abgestellt hat, dass die Betroffenen zu keiner Zeit selbstständig eine Willenserklärung im Sinne des § 27 StbG abgegeben hätten (und demgemäß auch keinen Antrag auf Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft stellten).

25 Diese Rechtsprechung lässt erkennen, dass der Verwaltungsgerichtshof neben der vom VfGH in seiner Rechtsprechung VfGH 17.6.2019, E 1302/2019, vertretenen verfassungsrechtlichen Sicht (weiterhin) eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nach den Kriterien des EuGH in der Rechtssache Tjebbes u.a., für unionsrechtlich geboten hält. Eine solche unionsrechtlich gebotene Prüfung erfordert eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umständen des Einzelfalles durchgeführte Gesamtbetrachtung.

26 Bei einer solchen Gesamtbetrachtung wird jedoch regelmäßig der vom VfGH aus verfassungsrechtlicher Sicht angeführte Umstand, dass der Betroffene die ihm eingeräumte Möglichkeit zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft (nach § 28 Abs. 1 StbG) nicht wahrgenommen hat, von maßgeblicher Bedeutung sein. Dieser Umstand entbindet das Verwaltungsgericht aber nicht von der unionsrechtlich gebotenen Gesamtbetrachtung, ob fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der österreichischen Staatsbürgerschaft ausnahmsweise unverhältnismäßig ist.

Verhältnismäßigkeitsprüfung im vorliegenden Einzelfall

27 In Entsprechung dieser Leitlinien hat sich das Verwaltungsgericht vorliegend, dem VfGH in dessen Beschluss vom 17. Juni 2019, E 1302/2019, folgend, auf den Umstand gestützt, dass die Revisionswerberin die ihr eingeräumte Möglichkeit zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft nicht wahrgenommen hat. Zusätzlich hat das Verwaltungsgericht jedoch die (wie dargelegt, im angefochtenen Erkenntnis festgestellten) berücksichtigungswürdigen privaten und familiären Gründe der Revisionswerberin in seine einzelfallbezogene Gesamtbetrachtung einbezogen.

28 Die von der Revision gegen diese Verhältnismäßigkeitsprüfung ins Treffen geführten Umstände lassen diese nicht als unvertretbar erscheinen:

29 So bringt die Revision nicht vor, dass es der Revisionswerberin unzumutbar wäre, einen Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet zu beantragen (vgl. im Übrigen zu § 19 Abs. 8 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz [NAG] VwGH 28.5.2015, Ra 2015/22/0029).

30 Ausgehend davon lässt auch die Behauptung der Revision, das angefochtene Erkenntnis gefährde das Wohlergehen der jüngeren Tochter der Revisionswerberin, welche im Übrigen österreichische Staatsbürgerin ist, die Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht als unvertretbar erscheinen.

31 Soweit die Revision behauptet, die Revisionswerberin sei politische Aktivistin in der Türkei und benötige Schutz vor „möglichen Repressalien des türkischen Regimes“, insbesondere konsularischen Schutz „im Falle des willkürlichen Vorgehens des türkischen Staates“ ist darauf hinzuweisen, dass es sich nach der Rechtsprechung des EuGH nicht um nur hypothetische oder potentielle Folgen handeln darf (vgl. VwGH 30.9.2019, Ra 2019/01/0281, Rn. 11, mit Verweis auf EuGH 12.3.2019, C‑221/17, Tjebbes u.a., Rn. 44).

32 Letztlich lässt auch die Behauptung der Revision, die Revisionswerberin laufe Gefahr, ihre Wohnung in Wien zu verlieren, eine Unvertretbarkeit der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht erkennen, zumal das Verwaltungsgericht festgestellt hat, dass die Revisionswerberin diese Wohnung vor dem Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft erworben hat (vgl. § 1 Abs. 1 Wiener Ausländergrunderwerbsgesetz, der u.a. auf den Erwerb des Eigentums abstellt; vgl. so auch VwGH 26.4.2018, Ra 2018/11/0069).

33 Daher ist die einzelfallbezogene Verhältnismäßigkeitsprüfung des Verwaltungsgerichtes in der vorliegenden Rechtssache im Ergebnis nicht als unvertretbar zu erkennen.

Ergebnis

34 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

35 Von der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 VwGG abgesehen werden.

Wien, am 18. Februar 2020

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