VwGH Ra 2019/18/0322

VwGHRa 2019/18/032223.1.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Juli 2019, W218 2173914-1/15E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: S N), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
BFA-VG 2014 §9 Abs3
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019180322.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird im Anfechtungsumfang (Spruchpunkt A.III.) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 24. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, welchen er im Wesentlichen damit begründete, dass seine Familie jeden Sommer ihr Dorf aus Angst vor den Taliban verlassen habe müssen, weil diese alle Bewohner getötet und die Häuser niedergebrannt hätten. Da sein Bruder getötet worden sei, sei der Mitbeteiligte aus Angst, ebenfalls getötet zu werden, geflohen. 2 Mit Bescheid vom 18. September 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise legte das BFA mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt IV.).

3 Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies die vom Mitbeteiligten gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. als unbegründet ab (Spruchpunkt A.I. und II.), stellte fest, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und erteilte dem Mitbeteiligten den Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" (Spruchpunkt A.III). Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig (Spruchpunkt B.).

4 Begründend führte das BVwG insbesondere aus, das Fluchtvorbringen des Mitbeteiligten habe sich als abstrakt, nicht asylrelevant und nicht glaubhaft erwiesen; eine Verfolgung aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit liege nicht vor. Die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat sei möglich und zumutbar. Hinsichtlich der Rückkehrentscheidung führte das BVwG aus, der Mitbeteiligte habe einen hohen Grad der Integration sowohl in sprachlicher, gesellschaftlicher als auch in wirtschaftlicher Hinsicht erreicht. Er sei unbescholten und verfüge über gute Deutschkenntnisse, einen Pflichtschulabschluss sowie eine Lehrstelle. Zudem sei ihm eine Beschäftigungsbewilligung erteilt worden. Eine Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK falle zu seinen Gunsten aus, weshalb ihm gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen sei. 5 Gegen den Spruchpunkt A.III. des Erkenntnisses wendet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision.

6 Zur Zulässigkeit führt die Revision zusammengefasst unter Verweis auf näher bezeichnete Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aus, das BVwG habe in seiner Interessenabwägung hinsichtlich der Rückkehrentscheidung dem Kriterium des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG nicht die ihm zukommende Bedeutung beigemessen. Die während des unsicheren Aufenthaltes erlangte Integration des Mitbeteiligten sei in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt worden und das Bewusstsein eines unsicheren Aufenthaltes würde die Integration eines Fremden maßgeblich relativieren. Auch liege lediglich ein "typisches Privatleben" des Mitbeteiligten und keine außergewöhnliche Konstellation, wonach trotz des erst etwa vierjährigen Aufenthaltes die privaten Interessen des Mitbeteiligten das öffentliche Interesse überwögen, vor.

7 Der Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung.

 

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

9 Die Revision ist zulässig, sie ist auch begründet.

10 Ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen

unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, ist nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles zu beurteilen. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 5.6.2019, Ra 2019/18/0078, mwN).

11 Liegt - wie im vorliegenden Fall - eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vor, so wird nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes allerdings regelmäßig erwartet, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen (vgl. etwa VwGH 18.9.2019, Ra 2019/18/0212, mwN). 12 Eine solche außergewöhnliche Konstellation lässt sich - wie die Amtsrevision zu Recht aufzeigt - aus den Feststellungen des BVwG betreffend den Mitbeteiligten, der sich seit etwa vier Jahren im Bundesgebiet aufhält, nicht ableiten. Auch unter Berücksichtigung der der Interessenabwägung des BVwG nach Art. 8 EMRK zugrunde gelegten Integrationsbemühungen des Mitbeteiligten besteht allein dadurch noch keine derartige Verdichtung seiner persönlichen Interessen, dass bereits von "außergewöhnlichen Umständen" gesprochen werden kann und ihm schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Verbleib in Österreich ermöglicht werden müsste (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0289, samt zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, mwN). Dass die vom Mitbeteiligten gesetzten Integrationsschritte eine außergewöhnliche Konstellation bilden, lässt das angefochtene Erkenntnis nicht erkennen.

13 Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. grundlegend VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, mwN). Dieser Umstand ist bei der Interessenabwägung nicht außer Acht zu lassen.

14 Da das angefochtene Erkenntnis von diesen rechtlichen Leitlinien abgewichen ist, war es - im Anfechtungsumfang - schon aus diesem Grund in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 23. Jänner 2020

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