Normen
AlVG 1977 §24 Abs2;
AlVG 1977 §25 Abs6;
AlVG 1977 §36c;
AlVG 1977 §50;
AlVG 1977 §51 Abs2;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018080088.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte bezog im Kalenderjahr 2014 vom 1. Februar bis zum 4. September und nach einem Kontrollmeldeversäumnis wieder vom 9. September bis zum 17. September Arbeitslosengeld. Er hatte bei der Antragstellung erklärt, als Zumba-Trainer selbständig erwerbstätig zu sein.
2 Im Jahr 2017 erhob die revisionswerbende regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice (im Folgenden: AMS) die Einkommensteuerdaten des Mitbeteiligten für das Jahr 2014, aus denen Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von EUR 8.912,35 sowie die Gewährung eines Pauschbetrages für Sonderausgaben in Höhe von EUR 60,-- ersichtlich waren. Da das durchschnittliche monatliche Einkommen damit über der für das Jahr 2014 maßgeblichen Geringfügigkeitsgrenze lag, widerrief das AMS mit Bescheid vom 15. September 2017 gemäß § 24 Abs. 2 AlVG die Zuerkennung des Arbeitslosengeldes für die Zeiträume 1. Februar bis 4. September und 9. September bis 17. September 2014 und verpflichtete den Mitbeteiligten gemäß § 25 Abs. 1 AlVG zur Rückzahlung des unberechtigt empfangenen Arbeitslosengeldes in Höhe von EUR 4.882,50.
3 In seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde machte der Mitbeteiligte vor allem geltend, dass der Widerruf und die Rückforderung des Arbeitslosengeldes mit dem erst am 19. September 2017 zugestellten Bescheid außerhalb der dreijährigen Frist nach § 24 Abs. 2 und § 25 Abs. 6 AlVG erfolgt seien, hätten doch die beiden beschwerdegegenständlichen Leistungszeiträume am 4. bzw. 17. September 2014 geendet.
4 Das AMS wies die Beschwerde mit Beschwerdevorentscheidung vom 21. Dezember 2017 als unbegründet ab. Der Revisionswerber stellte einen Vorlageantrag, in dem er ergänzend ausführte, dass das AMS bereits am 9. März 2017 vom Einkommensteuerbescheid 2014 Kenntnis erlangt habe.
5 Das Bundesverwaltungsgericht gab der Beschwerde mit dem angefochtenen Erkenntnis statt und behob den Bescheid des AMS "in der Fassung der Beschwerdevorentscheidung" ersatzlos.
6 Es stellte fest, dass das AMS "laut nachgewiesenen eigenen Angaben spätestens am 08.08.2017" Kenntnis vom Einkommensteuerbescheid 2014 erlangt habe und dass der Widerrufs- und Rückforderungsbescheid am 19. September 2017 zugestellt worden sei.
7 In rechtlicher Hinsicht folgerte das Bundesverwaltungsgericht, dass sich der "Widerrufs- und Rückforderungszeitraum" vom 19. September 2014 bis 19. September 2017 "beläuft". Der Mitbeteiligte habe das "gegenständliche Arbeitslosengeld" im Zeitraum vom 1. Februar bis 4. September 2014 und 9. September bis 17. September 2014 bezogen. "Sohin" seien der Widerruf und die Rückforderung gemäß § 24 Abs. 2 und § 25 Abs. 6 AlVG bereits verjährt.
8 Die Frist zur Erlassung eines Widerrufsbzw. Rückforderungsbescheides verlängere sich auch nicht nach § 25 Abs. 6 letzter Satz AlVG, weil der Einkommensteuerbescheid 2014 bereits am 30. Jänner 2017 erlassen worden sei und das AMS die Pflicht gehabt habe, diesen abzufragen und nicht darauf zu warten, bis der Mitbeteiligte ihn vorlege.
9 Da der Widerruf und die Rückforderung somit verjährt seien, sei das Vorliegen einer selbständigen Erwerbstätigkeit des Mitbeteiligten in den gegenständlichen Zeiträumen nicht zu prüfen.
10 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. Dabei begnügte es sich mit einer formelhaften Begründung, wonach es u.a. an keiner Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehle und auch keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vorlägen.
Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision des AMS. Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, erwogen:
11 Das AMS bringt zur Zulässigkeit der Revision vor, dass das Bundesverwaltungsgericht entgegen den gesetzlichen Regelungen eine Pflicht des AMS zur amtswegigen Ermittlung der Einkommensteuerdaten angenommen habe und trotz Verletzung der Vorlagepflichten durch den Mitbeteiligten eine Verjährung von Widerrufs- und Rückforderungsansprüchen eintreten habe lassen. Folge man dieser nicht näher begründeten Rechtsansicht, dann seien die Regelungen betreffend die Vorlagepflicht und die Rechtsfolgen bei deren Verletzung obsolet. Zu den maßgeblichen, am 1. Mai 2018 in Kraft getretenen Verjährungsregeln des § 24 Abs. 2 und § 25 Abs. 6 AlVG gebe es noch keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.
12 Die Revision ist aus den vom AMS geltend gemachten Gründen zulässig. Entgegen der Begründung des Bundesverwaltungsgerichts zur Nichtzulassung der Revision fehlt es an jeglicher Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den genannten, durch das SVÄG 2017, BGBl. I Nr. 38, neu geschaffenen Verjährungsbestimmungen. Es kann auch keine Rede von einer so eindeutigen Rechtslage sein, dass es einer höchstgerichtlichen Klarstellung nicht bedürfte.
13 Durch das SVÄG 2017, BGBl. I Nr. 38, wurden dem § 24 Abs. 2 AlVG folgende - den bisherigen letzten Satz ersetzende - Sätze angefügt:
"Der Widerruf oder die Berichtigung ist nach Ablauf von drei Jahren nach dem jeweiligen Anspruchs- oder Leistungszeitraum nicht mehr zulässig. Wird die Berichtigung vom Leistungsempfänger beantragt, ist eine solche nur für Zeiträume zulässig, die zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht länger als drei Jahre zurück liegen. Die Frist von drei Jahren nach dem Anspruchs- oder Leistungszeitraum verlängert sich, wenn die zur Beurteilung des Leistungsanspruches erforderlichen Nachweise nicht vor Ablauf von drei Jahren vorgelegt werden (können), bis längstens drei Monate nach dem Vorliegen der Nachweise."
14 § 25 Abs. 6 AlVG in der Fassung des SVÄG 2017 lautet wie folgt:
"(6) Eine Verpflichtung zum Ersatz des unberechtigt Empfangenen einschließlich der Aberkennung des Anspruches auf Arbeitslosengeld gemäß Abs. 2 besteht nur, wenn eine solche innerhalb von drei Jahren nach dem jeweiligen Leistungszeitraum verfügt wird. Eine Verfügung zur Nachzahlung ist nur für Zeiträume zulässig, die nicht länger als drei Jahre zurück liegen. Wird eine Nachzahlung beantragt, so ist eine solche nur für Zeiträume zulässig, die nicht länger als drei Jahre vor dem Zeitpunkt der Antragstellung liegen. Die Frist von drei Jahren nach dem Anspruchs- oder Leistungszeitraum verlängert sich, wenn die zur Beurteilung des Leistungsanspruches erforderlichen Nachweise nicht vor Ablauf von drei Jahren vorgelegt werden (können), bis längstens drei Monate nach dem Vorliegen der Nachweise."
15 Die ErlRV 1474 BlgNR 25. GP 4 führen dazu Folgendes aus:
"Für länger zurück liegende Ansprüche auf Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung soll eine generelle Verjährungsfrist von drei Jahren gelten, nach deren Ablauf eine Änderung nicht mehr möglich ist, weder zu Gunsten noch zu Lasten der LeistungsbezieherInnen. Bei Anträgen von Leistungsbezieher/inne/n soll die Verjährungsfrist für Zeiträume gelten, die länger als drei Jahre vor dem Zeitpunkt der Antragstellung liegen, und damit unabhängig von der Erledigungsdauer gelten. Bei Nichtvorlage erforderlicher Nachweise durch die arbeitslose Person ist eine Verlängerung der Frist für den Widerruf bzw. die Rückforderung erforderlich, damit ein Widerruf oder eine allfällige Rückforderung nicht durch Verzögerung der Vorlage von Nachweisen (zB Steuerbescheide), die das Arbeitsmarktservice zur Prüfung der Rechtmäßigkeit des Anspruches benötigt, vereitelt werden kann. Ebenso soll die Frist verlängert werden, wenn eine Vorlage von Nachweisen nicht früher möglich ist, etwa weil der maßgebliche Steuerbescheid noch nicht erlassen wurde."
16 Die dreijährige Frist für den Widerruf (bzw. die Berichtigung) und die Rückforderung von Leistungen verlängert sich also, wenn die zur Beurteilung des Leistungsanspruchs erforderlichen Nachweise nicht innerhalb dieser Frist vorgelegt werden - sei es, weil sie noch nicht vorhanden sind, sei es, weil die arbeitslose Person ihre Verpflichtung zur Vorlage verletzt hat. Die Verlängerung der Frist erfolgt um "längstens drei Monate nach dem Vorliegen der Nachweise". Dabei kommt es darauf an, dass die Nachweise dem AMS tatsächlich vorliegen: Das Gesetz stellt weder darauf ab, ob das AMS sich durch eigene Abfragen schon früher entsprechende Kenntnisse verschaffen hätte können, noch normiert es eine weitere Fristverlängerung, wenn die Nachweise dem AMS zwar vorliegen, die arbeitslose Person aber ihrer Mitwirkungspflicht (vgl. §§ 36c und 50 AlVG) nicht nachgekommen ist.
17 Bezogen auf den vorliegenden Fall ist das Bundesverwaltungsgericht daher zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Verlängerung der Frist für den Widerruf und die Rückforderung allein deshalb nicht eingetreten sei, weil das AMS schon innerhalb dieser Frist die Möglichkeit zu einer Abfrage des Einkommensteuerbescheides 2014 gehabt hätte. Zu solchen (regelmäßigen) Abfragen war das AMS nicht verpflichtet, vielmehr hätte der (dazu ausdrücklich aufgeforderte) Mitbeteiligte gemäß § 36c Abs. 1 AlVG den Einkommensteuerbescheid vorzulegen gehabt.
18 Tatsächlich lagen die Einkommensteuerdaten dem AMS nach dessen Angaben am 8. August 2017, nach den Behauptungen des Mitbeteiligten schon am 9. März 2017 vor. Das Bundesverwaltungsgericht hat diesen Daten - auf Basis seiner falschen Rechtsansicht - keine Bedeutung zugemessen, sondern ist von einem Vorliegen "spätestens" am 8. August 2017 ausgegangen. Dem strittigen Zeitpunkt des Vorliegens der Einkommensteuerdaten kommt aber entscheidende Bedeutung zu:
19 In diesem Zusammenhang ist zunächst zu klären, ob einerseits eine Auslegung der §§ 24 Abs. 2 und 25 Abs. 6 VwGG geboten ist, wonach eine Verlängerung der Frist von "drei Jahren nach dem Anspruchs- oder Leistungszeitraum" auch dann stattfindet, wenn die Vorlage der Nachweise innerhalb der letzten drei Monate der Dreijahresfrist erfolgt, und was andererseits unter dem "Anspruchs- oder Leistungszeitraum" zu verstehen ist.
20 Die erste Frage stellt sich vor dem Hintergrund des Gesetzeszwecks, eine Vereitelung von Widerruf und Rückforderung durch Verzögerung der Vorlage von Nachweisen zu verhindern. Der Gesetzgeber hat offenbar eine Frist von drei Monaten ab Vorliegen der Nachweise als grundsätzlich ausreichend, aber auch als erforderlich angesehen, um dem AMS die nötigen (Verfahrens‑)Schritte für den Widerruf bzw. die Rückforderung zu ermöglichen. Werden nun aber Nachweise etwa erst am letzten Tag der Dreijahresfrist vorgelegt, so führt das nach dem vom Gesetzeswortlaut zunächst nahegelegten Verständnis zu keiner Verlängerung der Frist, obwohl das AMS keine realistische Chance hat, den Widerruf bzw. die Rückforderung - die ja die Erlassung von Bescheiden voraussetzen - durchzuführen. Dieses - Missbrauch ermöglichende und sachlich nicht zu rechtfertigende - Ergebnis kann dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden. Vielmehr deutet nicht zuletzt auch die Formulierung "längstens drei Monate" darauf hin, dass dem AMS auch in dem dargestellten Fall drei Monate ab Vorlage für die Erlassung eines Widerrufs- oder Rückforderungsbescheides in Bezug auf den Leistungszeitraum zur Verfügung stehen soll, wodurch sich freilich die Gesamtfrist um weniger als drei Monate verlängert.
21 Zur zweitgenannten Rechtsfrage steht das AMS sowohl in der Revision als auch in der Begründung der Beschwerdevorentscheidung - im Einklang mit einem entsprechenden Ministerialerlass - auf dem Standpunkt, dass mit "Anspruchs- oder Leistungszeitraum" grundsätzlich der jeweilige Kalendermonat eines Leistungsbezugs, bei selbständig Erwerbstätigen aber - wegen der Maßgeblichkeit des jahresbezogenen Umsatz- und Einkommensteuerbescheides - das gesamte Kalenderjahr zu verstehen sei. Demgegenüber geht der Mitbeteiligte (ebenso wie implizit das Bundesverwaltungsgericht) davon aus, dass "Anspruchs- oder Leistungszeitraum" nur der jeweilige Kalendertag sei.
22 Weder dem Gesetz noch den Gesetzesmaterialien lässt sich eine Definition des "Anspruchs- oder Leistungszeitraums" entnehmen. Da Geldleistungen nach dem AlVG gemäß dessen § 51 Abs. 2 grundsätzlich monatlich ausgezahlt werden, liegt es aber nahe, unter "Anspruchs- oder Leistungszeitraum" im Sinn der §§ 24 Abs. 2 und 25 Abs. 6 AlVG ebenfalls den (Kalender‑)Monat (bzw. den Teil eines Monats) zu verstehen, für den ein Anspruch auf die Leistung besteht bzw. für den eine solche bezogen wird. Eine "jahresweise" Betrachtungsweise ist dagegen auch bei selbständig Erwerbstätigen nicht erforderlich: Wird ein Nachweis verspätet vorgelegt, der sich auf ein gesamtes Kalenderjahr bezieht, so verlängert sich die ab jedem Anspruchs- bzw. Leistungsmonat dieses Kalenderjahres zu berechnende Frist um die drei Monate nach Vorliegen des Nachweises, sodass eine Rückforderung für den gesamten betroffenen Zeitraum ermöglicht wird.
23 Im vorliegenden Fall sind die maßgeblichen Leistungszeiträume die Monate Februar bis August 2014 sowie der September 2014 bis zum 17. dieses Monats. Die dreijährige Frist der §§ 24 Abs. 2 und 25 Abs. 6 AlVG für den Widerruf und die Rückforderung würde daher regulär jeweils bis zum Ende der Monate Februar bis August 2017 sowie bis zum 17. September 2017 laufen. Ausgehend vom Vorliegen der Einkommensteuerdaten am 9. März 2017 (laut Vorbringen des Mitbeteiligten) wäre die Frist hinsichtlich der Monate Februar, März, April und Mai 2014 am 9. Juni 2017 abgelaufen, hinsichtlich der übrigen Monate wäre es beim regulären Fristende geblieben; ausgehend vom Vorliegen der Einkommensteuerdaten erst am 8. August 2017 (laut Angaben des AMS) wäre die Frist am 8. November 2017 abgelaufen. Unter Annahme einer Kenntnis der Einkommensteuerdaten am 8. August 2017 wären der Widerruf und die Rückforderung mit am 19. September 2017 zugestelltem Bescheid daher zur Gänze rechtzeitig gewesen.
24 Das Bundesverwaltungsgericht ist hingegen auf Grund seiner falschen Rechtsansicht davon ausgegangen, dass das Widerrufs- und Rückforderungsrecht jedenfalls verjährt war, und hat in der Folge auch keine Feststellungen zum Zeitpunkt des tatsächlichen Vorliegens der Einkommensteuerdaten beim AMS getroffen.
25 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am 14. November 2018
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