VwGH Ra 2017/19/0205

VwGHRa 2017/19/020520.9.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Mag. Rossmeisel als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen die Spruchpunkte A.II. und A.III. des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 24. April 2017, W255 2144239-1/14E, betreffend Zuerkennung von subsidiärem Schutz und Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 (Mitbeteiligter: M Q in N), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §8 Abs1;
MRK Art3;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird in seinen Spruchpunkten A.II. und A.III. wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte am 16. Juni 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen Antrag wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Bescheid vom 22. Dezember 2016 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ab. Die Behörde erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn gestützt auf § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) eine Rückkehrentscheidung, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung fest.

2 In seiner Begründung führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - betreffend die Verweigerung der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten aus, zwar sei in Bezug auf die Heimatprovinz des Mitbeteiligten von einer relevanten Gefährdungslage auszugehen. Dies gelte aber nicht auch für Kabul. Die Regierung halte die Kontrolle über Kabul und die Transitrouten. Die afghanischen Sicherheitskräfte seien in der Lage, die größeren Bevölkerungszentren effektiv zu beschützen. Angriffe der Taliban richteten sich überwiegend gegen "hochrangige" Ziele, wie Regierungsgebäude und ausländische Sicherheitskräfte. Es sei nicht glaubhaft, dass der Mitbeteiligte über keinerlei Verwandtschaft in Afghanistan oder in Kabul verfüge. Außerdem könnten Schutzsuchende aufgrund der islamischen Traditionen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Unterstützung in Moscheen und anderen staatlichen Einrichtungen erhalten. Zudem würden komplementäre Auffangmöglichkeiten in Lagern existieren. Überdies sei es einem Erwachsenen zumutbar, sich in der Hauptstadt seines Heimatlandes Kenntnisse der örtlichen Gegebenheiten anzueignen. Der Mitbeteiligte sei arbeitsfähig, was es ihm ermögliche, (Hilfs‑)Arbeiten jeglicher Art zu verrichten und damit seine grundlegendsten Bedürfnisse abzudecken.

3 Das Bundesverwaltungsgericht wies die gegen den genannten Bescheid erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten, soweit ihm der Status des Asylberechtigten nicht zuerkannt wurde, ab (Spruchpunkt A.I.). Es erkannte dem Mitbeteiligten allerdings den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt A.II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung mit Gültigkeit bis 29. März 2018 (Spruchpunkt A.III.).

Die Revision erklärte das Bundesverwaltungsgericht nach Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

4 In der Begründung zu den unter A.II. und A.III. getätigten Aussprüchen ging das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass dem Mitbeteiligten im Fall der Rückkehr in seine Heimatprovinz (Ghazni) wegen der dort herrschenden Sicherheitslage, insbesondere infolge der Kampfhandlungen mit den Taliban, ein reales Risiko der Verletzung seiner aus Art. 3 EMRK resultierenden Rechte drohe.

Dem Mitbeteiligten sei es aber auch nicht zumutbar, in andere Landesteile zu übersiedeln, weil er ein junger Erwachsener mit nur dreijähriger Schulbildung sei, der bisher bloß Hilfstätigkeiten verrichtet habe. In Afghanistan habe er nur seine ersten fünf oder sechs Lebensjahre verbracht. Er habe sich seit mehr als zehn Jahren nicht mehr in Afghanistan und dort nie außerhalb seiner Herkunftsprovinz aufgehalten. Er verfüge über keine sozialen oder familiären Kontakte in Afghanistan, zumal seine Familie in den Iran gereist sei. Der Mitbeteiligte wäre bei einer Rückkehr auf sich allein gestellt, verfüge über keine ausreichenden Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten und könne weder schreiben noch lesen. Aus den Quellen zur Lage in Afghanistan sei ersichtlich, dass sich neben einer prekären Sicherheitslage insbesondere die Versorgung mit Wohnraum und Nahrungsmitteln für alleinstehende Rückkehrer ohne familiären Rückhalt in Kabul als unzureichend darstelle. Auch der gesundheitliche Zustand des Mitbeteiligten sei zu beachten, zumal ihm eine - aber nicht akute -

Folgeoperation seines Schädels empfohlen worden sei. Aus den Länderfeststellungen zum Herkunftsstaat gehe nicht hervor, das Rückkehrern automatisch eine Wohngelegenheit zur Verfügung gestellt werde, sondern vielmehr, dass die Verwirklichung grundlegender sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisse, wie etwa der Zugang zu Arbeit, Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung, häufig nur sehr eingeschränkt möglich sei. Dem Mitbeteiligten würde aufgrund dieser Umstände vor dem Hintergrund der Erkenntnisquellen unter Berücksichtigung seiner individuellen Umstände eine reale Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung drohen. Es sei davon auszugehen, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten in sein Heimatland ihn in seinen Rechten nach Art. 3 EMRK verletzen würde.

Die Revision sei - so das Bundesverwaltungsgericht abschließend - nicht im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, weil sich das Verwaltungsgericht "bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage" habe stützen können.

5 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erhob gegen dieses Erkenntnis, soweit dem Mitbeteiligten der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm infolge dessen eine Aufenthaltsberechtigung erteilt wurde, Revision.

 

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Amtsrevision nach Vorlage derselben und der Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht und nach Einleitung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das Bundesverwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen. Das Bundesverwaltungsgericht zeige nämlich nur die bloße Möglichkeit, nicht aber eine reale Gefahr der Verletzung von Art. 3 EMRK auf. Das Bundesverwaltungsgericht setze sich auch nicht mit dem Umstand auseinander, dass Unterstützungsleistungen durch Familienangehörige auch dann erfolgen könnten, wenn diese räumlich getrennt leben würden. Der Mitbeteiligte sei volljährig, gesund und arbeitsfähig, spreche Dari und sei mit den kulturellen und sprachlichen Gepflogenheiten in Afghanistan vertraut, weshalb keine solchen Umstände vorliegen würden, nach denen für ihn die Inanspruchnahme der innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul unzumutbar wäre.

8 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch berechtigt. 9 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich - unter Hinweis auf

seine bisherige Rechtsprechung sowie die ständige Judikatur des EGMR - (etwa) in seinem Erkenntnis vom 19. Juni 2017, Ra 2017/19/0095, mit dem Kriterium des Vorliegens einer "realen Gefahr" einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung - im Besonderen betreffend die Lage in Afghanistan - auseinandergesetzt.

Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird daher insoweit auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen.

10 Aus den dort genannten Gründen (vgl. dazu aus jüngster Zeit auch das hg. Erkenntnis vom 8. August 2017, Ra 2017/19/0118, das sich zudem mit aktuellen Empfehlungen des UNHCR zu Afghanistan auseinandersetzt) erweist sich auch im vorliegenden Fall die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.

11 Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt darauf hingewiesen, dass er nicht verkennt, dass die Lage in Afghanistan sowohl hinsichtlich der Sicherheitslage in einzelnen Landesteilen als auch der wirtschaftlichen Situation angespannt ist. Davon zu unterscheiden ist aber das Prüfungskalkül des Art. 3 EMRK, das für die Annahme einer solchen Menschenrechtsverletzung das Vorhandensein einer die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz bedrohenden Lebenssituation unter exzeptionellen Umständen fordert (vgl. auch dazu das bereits erwähnte Erkenntnis Ra 2017/19/0095, Rz 18).

12 Das Verwaltungsgericht hat - wie schon in den zitierten gleichgelagerten Fällen - mit seinen Feststellungen zwar eine schwierige Lebenssituation für den Mitbeteiligten im Fall seiner Rückführung in den Herkunftsstaat - hier: in Bezug auf eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul - aufgezeigt; dies vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht und im Besonderen betreffend die Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche. Dabei stellte es primär auf das Fehlen sozialer oder familiärer Kontakte in Afghanistan und das Fehlen ausreichender Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten in Kabul ab.

Die Annahme, im gegenständlichen Fall sei unter Berücksichtigung der den Mitbeteiligten betreffenden individuellen Umstände davon auszugehen, es bestehe im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan auch in Kabul die reale Gefahr der Verletzung des Art. 3 EMRK, ist aber eine rechtliche Beurteilung, die in den Feststellungen keine Deckung findet (vgl. dazu auch das oben angeführte Erkenntnis vom 8. August 2017).

Eine nähere Begründung, weshalb indes der Gesundheitszustand des Mitbeteiligten zu einer anderen Beurteilung zu führen hätte, bleibt das Verwaltungsgericht schuldig. Vielmehr geht es selbst davon aus, dass der Gesundheitszustand des Mitbeteiligten, der sich nach den Feststellungen in Griechenland eine - nicht näher beschriebene - "Schädelverletzung" zugezogen habe, "weitgehend" stabil sei. Die in Aussicht genommene Folgeoperation, die lediglich Erwähnung findet und zu der gleichfalls keine näheren Feststellungen getroffen wurden, bezeichnete das Verwaltungsgericht zudem als "nicht akut".

13 Nach dem Gesagten hat das Verwaltungsgericht die zu Spruchpunkt A.II. getroffene Entscheidung mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, weshalb dieser Ausspruch aus dem genannten Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war. Dies hat zur Folge, dass dem Spruchpunkt A.III. die rechtliche Grundlage entzogen ist, weshalb auch dieser Ausspruch wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG zu beheben war.

Wien, am 20. September 2017

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