VwGH Ra 2016/20/0063

VwGHRa 2016/20/00638.9.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Beck sowie die Hofräte Mag. Eder und Mag. Straßegger, die Hofrätin Dr. Leonhartsberger und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Harrer, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22. Februar 2016, Zl. W217 2119069-1/11E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: M in W), zu Recht erkannt:

Normen

32011L0095 Status-RL Art8 ;
AsylG 2005 §11 Abs1;
AsylG 2005 §11 Abs2;
AsylG 2005 §8 Abs1;
EURallg;
MRK Art3;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 8. Jänner 2015 nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz. Befragt zu jenen Gründen, aus denen er sein Heimatland verlassen habe, gab er im Rahmen seiner Vernehmung zusammengefasst an, er sei aufgrund seiner negativen Äußerungen über die Taliban von einem Mitglied ebendieser mit einem Messer attackiert und später mit dem Tode bedroht worden.

2 Mit Bescheid vom 14. Dezember 2015 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag sowohl gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 55 und § 57 AsylG 2005 nicht erteilt und gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) erlassen sowie festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.).

3 Hinsichtlich der Versagung von subsidiärem Schutz führte die Verwaltungsbehörde - soweit für den vorliegenden Fall relevant - aus, der Mitbeteiligte habe vor seiner Ausreise in Kabul gelebt und an der Universität Kabul ungehindert studiert. Es stehe dem Mitbeteiligten somit frei, weiterhin in Kabul zu leben.

4 Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

5 Hinsichtlich der Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides) stellte das Bundesverwaltungsgericht das Verfahren infolge Zurückziehung der Beschwerde mit Beschluss vom 17. Februar 2016 gemäß § 28 Abs. 1 iVm. § 31 Abs. 1 VwGVG ein.

6 Mit Erkenntnis vom 22. Februar 2016 wurde der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt II des angefochtenen Bescheides stattgegeben und dem Mitbeteiligten gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt A/I.). Gleichzeitig wurde ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt A/II.) sowie der Spruchpunkt III des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 5 VwGVG ersatzlos behoben (Spruchpunkt A/III.). Weiters wurde ausgesprochen, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

7 Begründend stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, der Mitbeteiligte sei Schiite, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, und stamme aus dem Dorf Nauamad, Distrikt Dahan-e Ghori, Provinz Baghlan. Der Mitbeteiligte habe in Afghanistan niemals außerhalb der Provinz Baghlan gelebt. Sein Vater sei bereits verstorben; seine Mutter, sein Bruder, seine Schwester und Cousins würden nach wie vor in der Provinz Baghlan leben. Er habe einen Schulabschluss der 8. Klasse und verfüge über keine Berufserfahrung. In der Folge traf das Bundesverwaltungsgericht Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat des Mitbeteiligten, insbesondere zur Provinz Baghlan. Zu Kabul zitierte das Bundesverwaltungsgericht den Bericht eines Ländersachverständigen, wonach tausende Rückkehrer als Arbeitslose und ohne Zukunftsperspektive leben würden. Ein Teil versuche ins Ausland zu gelangen, ein anderer Teil gerate in die Drogenszene und ein anderer Teil schließe sich bewaffneten Gruppen an. Nur jene Personen, die einen familiären Rückhalt hätten, könnten wirtschaftlich überleben, wenn ihre Familien zur Mittelschicht des Landes gehörten. Der Ländersachverständige habe beobachten können, dass tausende Personen in verschiedenen Bezirken von Kabul auf der Straße stünden und darauf warten würden, von Arbeitgebern für Tageslohnarbeit mitgenommen zu werden. Diese Menschen würden für ihr tägliches Brot kämpfen.

8 Beweiswürdigend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, der Mitbeteiligte habe in der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargelegt, dass er nie in Kabul gelebt habe. Dieses Vorbringen erscheine deshalb glaubwürdig, weil der Mitbeteiligte zum Zeitpunkt seiner Flucht (im Jahr 2014) 18 Jahre alt gewesen sei und somit jedenfalls kein Studium absolvieren habe können. Auch seine Angaben zu seiner schulischen Ausbildung, seiner beruflichen Tätigkeit sowie seiner familiären Situation seien nachvollziehbar gewesen. Die Lage im Herkunftsstaat ergebe sich aus den Länderinformationen, welche eine ausgewogene Darstellung verschiedenster Berichte enthalten würden; diesen sei auch nicht entgegengetreten worden.

9 In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass es sich beim Mitbeteiligten zwar um einen arbeitsfähigen und gesunden Mann handle, bei dem die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden könne, es müsse aber maßgeblich berücksichtigt werden, dass ihm aufgrund der getroffenen Feststellungen zur Sicherheitslage in seiner Heimatprovinz Baghlan eine Rückkehr dorthin nicht möglich wäre, um auf das dortige soziale und familiäre Netzwerk zurückgreifen zu können. Weitere Verwandte habe der Mitbeteiligte in Afghanistan nicht. Im Falle einer Rückkehr wäre er daher vorerst auf sich alleine gestellt und gezwungen, nach einem Wohnraum zu suchen, ohne jedoch über ausreichende Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten in Kabul zu verfügen. Für alleinstehende Rückkehrer ohne familiären Rückhalt stelle sich die Versorgung mit Wohnraum und Nahrungsmitteln meist nur unzureichend dar. Angesichts der derzeitigen politischen Lage in Afghanistan sei zudem ausreichende staatliche Unterstützung sehr unwahrscheinlich. Eine innerstaatliche Fluchtalternative, etwa in der Hauptstadt Kabul, würde dem Mitbeteiligten unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände und des Fehlens eines unterstützenden sozialen oder familiären Netzwerks sowie auch im Hinblick auf die allgemein schlechte Versorgungslage somit nicht zur Verfügung stehen. Dabei sei auch zu bedenken, dass der Mitbeteiligte über keine Berufserfahrung verfüge. Im gegenständlichen Fall könne daher nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Mitbeteiligte im Fall der Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr im Sinn des Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre, welche unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse des Mitbeteiligten und der derzeit in Afghanistan vorherrschenden Versorgungsbedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen würde.

10 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

11 Zu ihrer Zulässigkeit bringt die Revision vor, das Bundesverwaltungsgericht sei von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen. Es habe anhand der getroffenen Feststellungen zu den individuellen Verhältnissen des Mitbeteiligten sowie zur Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan bloß die Möglichkeit, nicht aber die maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK aufgezeigt. Damit verfehle es den für die Beurteilung einer realen Gefahr der Verletzung von Art. 3 EMRK relevanten Wahrscheinlichkeits- und Prognosemaßstab. Das Bundesverwaltungsgericht habe es unterlassen Feststellungen zu treffen, die notwendig gewesen wären, um eine mängelfreie Gefährdungsprognose nach Art. 3 EMRK durchführen zu können. Aus dem angefochtenen Erkenntnis ergebe sich weder, ob dem Mitbeteiligten im Fall der Rückkehr eine Unterkunft grundsätzlich zur Verfügung stünde, noch ob er gegebenenfalls auf komplementäre Auffangmöglichkeiten, etwa in Lagern, zurückgreifen könnte.

12 Weiters verletze das Bundesverwaltungsgericht seine Begründungspflicht. Das Bundesverwaltungsgericht verneine das Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul oder einer anderen Region Afghanistans unter anderem mit der Begründung, dass dem Mitbeteiligten außerhalb seiner Heimatprovinz kein familiäres Netzwerk zur Verfügung stünde. Das angefochtene Erkenntnis enthalte jedoch keine Begründung, weshalb eine räumliche Trennung die Angehörigen des Mitbeteiligten, die in Baghlan eine Landwirtschaft betreiben würden, außer Stande setzen sollte, ihn etwa finanziell zu unterstützen. Weiters gehe es in seiner rechtlichen Beurteilung davon aus, dass sich die Versorgung mit Wohnraum und Nahrungsmitteln für alleinstehende Rückkehrer ohne familiären Rückhalt meist nur als unzureichend darstelle. Aus den Feststellungen ergebe sich jedoch bloß, dass die Grundversorgung in Afghanistan zwar mit Schwierigkeiten und praktischen Hürden verbunden sei, sehr wohl aber grundsätzlich gesichert sei.

 

13 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens und Erstattung einer Revisionsbeantwortung durch den Mitbeteiligten erwogen:

14 Die Amtsrevision ist zulässig und auch berechtigt.

15 § 8 AsylG 2005 lautet auszugsweise:

"Status des subsidiär Schutzberechtigten

§ 8. (1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,

1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder

2. (...)

wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

(3) Anträge auf internationalen Schutz sind bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht."

§ 11 AsylG 2005 hat folgenden Wortlaut:

"Innerstaatliche Fluchtalternative

§ 11. (1) Kann Asylwerbern in einem Teil ihres

Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.

(2) Bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen."

16 Nach der hg. Rechtsprechung ist bei der Prüfung betreffend die Zuerkennung von subsidiärem Schutz eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 25. Mai 2016, Ra 2016/19/0036, mit weiteren Nachweisen).

17 Zusammengefasst geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden könne, dass der Mitbeteiligte einer realen Gefahr im Sinn des Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre.

18 Dazu ist zunächst festzuhalten, dass die Prüfung des Vorliegens einer realen Gefahr im Sinn des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 eine rechtliche Beurteilung darstellt, die auf Basis der getroffenen Feststellungen zu erfolgen hat.

19 Das Bundesverwaltungsgericht hat mit seinen Feststellungen zwar die Möglichkeit einer schwierigen Lebenssituation für den Mitbeteiligten im Fall seiner Rückführung in den Herkunftsstaat aufgezeigt, dies bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht. Die reale Gefahr existenzbedrohender Verhältnisse und somit einer Verletzung des Art. 3 EMRK im Sinn der obigen Rechtsgrundsätze wird damit aber in Bezug auf Kabul nicht dargetan (vgl. das zu einem gleichgelagerten Begründungsduktus des Bundesverwaltungsgerichtes ergangene gleichfalls Kabul betreffende oben schon zitierte hg. Erkenntnis vom 25. Mai 2016).

20 Vor dem Hintergrund der Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes, wonach es sich bei dem Mitbeteiligten um einen jungen, gesunden und arbeitsfähigen Mann handelt, lässt das angefochtene Erkenntnis auch eine ausreichende Beschäftigung mit dem der innerstaatlichen Fluchtalternative innewohnenden Zumutbarkeitskalkül vermissen, welches nähere Feststellungen über die zu erwartende konkrete Lage des Mitbeteiligten in Kabul erfordert hätte (vgl. das ebenfalls zu Kabul ergangene hg. Erkenntnis vom 23. Februar 2016, Ra 2015/20/0233). Dass der Mitbeteiligte in diesem Zusammenhang bisher keine Berufserfahrung habe und nicht über ausreichende Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten in Kabul verfüge, reicht am Boden der bisherigen Feststellungen zur Situation in Kabul für die Annahme der Unzumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht aus.

21 Somit ist das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen. Die Entscheidung war daher - zur Gänze, weil die übrigen Spruchpunkte des angefochtenen Erkenntnisses ihre rechtliche Grundlage verloren haben - wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 8. September 2016

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