VwGH Ra 2016/19/0209

VwGHRa 2016/19/020920.9.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl und den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Rossmeisel sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Juli 2016, W217 1424992-2/15E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: A A S in H, vertreten durch die Mag. Wolfgang Auner Rechtsanwalts-Kommandit-Partnerschaft KG in 8700 Leoben, Parkstraße 1/I), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §8 Abs1;
MRK Art3;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte am 23. August 2011 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er brachte im Wesentlichen vor, er sei gezwungen worden, mit den Taliban zusammenzuarbeiten und sei geflohen, als er Selbstmordattentäter hätte werden sollen.

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit - im zweiten Rechtsgang ergangenen - Bescheid vom 7. Jänner 2016 mit Spruchpunkt I. bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 3 Asylgesetz 2005 in Verbindung mit § 6 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab. Mit Spruchpunkt II. wurde der Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 3a in Verbindung mit § 9 Abs. 2 AsylG 2005 abgewiesen und ausgesprochen, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Mitbeteiligten nach Afghanistan gemäß den genannten Bestimmungen unzulässig sei. Mit Spruchpunkt III. sprach das BFA aus, dass kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt werde.

3 Die Nicht-Zuerkennung des Status des Asylberechtigten stützte das BFA auf das Vorliegen eines Asylausschlussgrundes. Der Mitbeteiligte habe selbst angegeben, dass er den Taliban angehört habe bzw. für diese tätig gewesen sei. Recherchen hätten ergeben, dass der Mitbeteiligte gemeinsam mit seinem Bruder "Operationen" (offenbar gemeint: militärische) durchgeführt habe und in zahlreiche Angriffe involviert gewesen sei. Dass die Herrschaft der radikal-islamischen Taliban in Afghanistan vor allem durch besondere Grausamkeiten und systematisch ausgeübte Gewalt gegen die Zivilbevölkerung geprägt gewesen sei und die Taliban während ihrer Herrschaft systematisch und wiederholt Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinn des internationalen Rechts begangen hätten, gelte als unbestritten. Selbst wenn der Mitbeteiligte behaupte, nie an bewaffneten Auseinandersetzungen teilgenommen bzw. Waffen aktiv gegen Menschen eingesetzt zu haben, müsse ihm entgegengehalten werden, dass die Recherchen etwas anderes ergeben hätten, zumal er immerhin seitens des afghanischen Staates gesucht werde. Abgesehen davon stelle die vom Mitbeteiligten genannte Tätigkeit für die Taliban (Waffenlieferungen) jedenfalls eine Form der "sonstigen Beteiligung" an Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinn des Art. 12 Abs. 3 der Statusrichtlinie dar. Es würden somit ernsthafte Gründe für den begründeten Verdacht vorliegen, dass der Mitbeteiligte vor Verlassen seines Herkunftsstaates an Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinn der Art. 1 Abschnitt F lit. a der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und Art. 12 Abs. 2 lit. a in Verbindung mit Abs. 3 der Statusrichtlinie beteiligt gewesen sei.

4 Zur Nicht-Zuerkennung von subsidiärem Schutz führte das BFA aus, dass der Mitbeteiligte seitens des afghanischen Staates als staatsgefährdende Person auf Grund der Mitgliedschaft bei den Taliban gesucht werde. Wie aus den Feststellungen ersichtlich sei, stellten Folter und Misshandlungen von Häftlingen ein ernstzunehmendes Problem in vielen Haftanstalten Afghanistans dar. Obwohl die Verfassung solche Praktiken verbiete, gebe es Berichte, die besagten, dass Beamte, Sicherheitskräfte, Justizwachebeamte und die Polizei Misshandlungen durchführen würden. Daher bedeute die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Mitbeteiligten in seinen Herkunftsstaat eine reale Verletzung von Art. 2, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK, sodass der Antrag nicht schon gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 abzuweisen gewesen sei.

Die Mitgliedschaft des Mitbeteiligten bei den Taliban und die von ihm genannten Tätigkeiten für die Taliban müsse jedenfalls als eine Form der "sonstigen Beteiligung" an Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinn des Art. 12 Abs. 3 der Statusrichtlinie angesehen werden, weshalb der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 8 Abs. 3a in Verbindung mit § 9 Abs. 2 AsylG 2005 hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten wegen Vorliegen von Ausschlussgründen abzuweisen gewesen sei.

5 Der Mitbeteiligte erhob gegen alle Spruchpunkte dieses Bescheides Beschwerde und begründete dies im Wesentlichen damit, dass das BFA zu Unrecht vom Vorliegen von Ausschlussgründen ausgegangen sei und präzise Feststellungen zu diesen fehlten.

6 Im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zog der Mitbeteiligte seine Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des Bescheides (Abweisung seines Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten) zurück. Das Bundesverwaltungsgericht stellte daraufhin mit Beschluss vom 19. Juli 2016 das Verfahren hinsichtlich dieses Spruchpunktes gemäß § 13 Abs. 7 AVG in Verbindung mit § 28 Abs. 1 und § 31 Abs. 1 VwGVG ein.

7 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 19. Juli 2016 gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde hinsichtlich der übrigen Spruchpunkte des angefochtenen Bescheids statt, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 zu (Spruchpunkt A.I.) und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt A.II.). Unter einem sprach es aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

8 Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, es könne nicht festgestellt werden, dass der Mitbeteiligte das in der Anfragenbeantwortung der Staatendokumentation genannte Mitglied der Taliban sei, das an mehreren bewaffneten Angriffen beteiligt gewesen sei und als staatsgefährdende Person in Afghanistan gesucht werde. Ebenso stehe nicht fest, dass der Mitbeteiligte freiwillig Mitglied der Taliban gewesen sei und an zahlreichen "Operationen" mitgewirkt habe. Das Bundesverwaltungsgericht stützte sich dabei im Wesentlichen auf ein von einem Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung erstattetes Gutachten, wonach der Mitbeteiligte keine vertraute Person innerhalb der Taliban gewesen sei oder freiwillig an deren "Operationen" teilgenommen habe.

9 Eine Rückverbringung des Mitbeteiligten nach Afghanistan stehe im Widerspruch zu § 8 Abs. 1 AsylG 2005, weil die Sicherheitslage in der Herkunftsprovinz des Mitbeteiligten nach wie vor sehr prekär sei. Die Herkunftsprovinz stehe unter dem Einfluss der Taliban. Ebenso verfüge der Mitbeteiligte über kein familiäres oder soziales Netz in Kabul, weshalb es mehr als fraglich sei, ob er sich dort eine neue Existenz aufbauen könne. Es könne daher nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass er in Afghanistan einer realen Gefahr im Sinn des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ausgesetzt wäre, welche unter Berücksichtigung seiner dargelegten persönlichen Verhältnisse und der derzeit in Afghanistan vorherrschenden Versorgungsbedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Handlung darstellen würde.

10 Gegen dieses Erkenntnis erhob das BFA Amtsrevision, die das Bundesverwaltungsgericht gemeinsam mit den Verfahrensakten dem Verwaltungsgerichtshof vorlegte.

 

11 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens und Erstattung einer Revisionsbeantwortung durch den Mitbeteiligten erwogen:

12 Die Revision ist in Hinblick auf das Vorbringen des BFA betreffend die Voraussetzungen zur Gewährung von subsidiärem Schutz zulässig und auch begründet.

13 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich - unter Hinweis auf seine bisherige Rechtsprechung sowie die ständige Judikatur des EGMR - (etwa) in seinem Erkenntnis vom 19. Juni 2017, Ra 2017/19/0095, mit dem Kriterium des Vorliegens einer "realen Gefahr" einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung - im Besonderen betreffend die Lage in Afghanistan - auseinandergesetzt.

14 Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird daher insoweit auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen.

15 Schon aus den dort genannten Gründen sowie jenen des hg. Erkenntnisses vom 8. August 2017, Ra 2017/19/0118, das sich zudem mit den auch im angefochtenen Erkenntnis und der Revisionsbeantwortung angesprochenen aktuellen Empfehlungen des UNHCR zu Afghanistan auseinandergesetzt hat, und auf dessen Entscheidungsgründe sohin gleichfalls gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, erweist sich auch im vorliegenden Fall die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.

16 Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt darauf hingewiesen, dass er nicht verkennt, dass die Lage in Afghanistan sowohl hinsichtlich der Sicherheitslage in einzelnen Landesteilen als auch der wirtschaftlichen Situation angespannt ist. Davon zu unterscheiden ist aber das Prüfungskalkül des Art. 3 EMRK, das für die Annahme einer solchen Menschenrechtsverletzung das Vorhandensein einer die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz bedrohenden Lebenssituation unter exzeptionellen Umständen fordert (vgl. auch dazu das bereits erwähnte Erkenntnis Ra 2017/19/0095, Rz 18).

17 Das Bundesverwaltungsgericht hat - wie schon in den zitierten gleichgelagerten Fällen - mit seinen Feststellungen zwar eine schwierige Lebenssituation für den Mitbeteiligten im Fall seiner Rückführung in den Herkunftsstaat - hier: in Bezug auf eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul - aufgezeigt; dies vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht (im Besonderen betreffend die Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche) und nur sehr allgemein bezüglich der "prekären" Sicherheitslage. Es stellte primär auf das Fehlen sozialer oder familiärer Unterstützung in Afghanistan und das Fehlen ausreichender Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten in Kabul ab.

18 Die Annahme, im gegenständlichen Fall sei unter Berücksichtigung der den Mitbeteiligten betreffenden individuellen Umstände davon auszugehen, es bestehe im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan auch in Kabul die reale Gefahr der Verletzung des Art. 3 EMRK, ist aber eine rechtliche Beurteilung, die in den Feststellungen keine Deckung findet (vgl. dazu auch das oben angeführte Erkenntnis Ra 2017/19/0118).

19 Nach dem Gesagten hat das Bundesverwaltungsgericht die zu Spruchpunkt A.I. getroffene Entscheidung mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, weshalb dieser Ausspruch aus dem genannten Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war. Dies hat zur Folge, dass dem Spruchpunkt A.II. die rechtliche Grundlage entzogen ist, weshalb auch dieser Ausspruch wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG zu beheben war.

20 Bei diesem Ergebnis muss auf das Revisionsvorbringen, wonach auf Grund des Gleichklangs der Ausschlussgründe des Art. 1 Abschnitt F der Genfer Flüchtlingskonvention hinsichtlich Asyl und hinsichtlich subsidiären Schutzes für die Frage, ob ein Fremder von der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ausgeschlossen sei, eine Bindungswirkung an eine allfällige rechtskräftige Abweisung eines Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 iVm § 6 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 wegen des Vorliegens von Ausschlussgründen nach Art 1 Abschnitt F GFK bestehe, nicht mehr eingegangen werden.

Wien, am 20. September 2017

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