Normen
FrPolG 2005 §76 Abs1;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
FrPolG 2005 §76 Abs1;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
Der Mitbeteiligte, ein - verschiedene Alias-Identitäten verwendender - Staatsangehöriger von Marokko, reiste im Jahr 2008 nach Österreich ein und beantragte hier am 22. Juni 2008 erfolglos die Gewährung von internationalem Schutz. Er wurde in diesem Verfahren erstinstanzlich am 6. Oktober 2008 und zweitinstanzlich am 22. März 2010 aus Österreich nach Marokko ausgewiesen.
Er war - vor der hier zu beurteilenden Maßnahme - während folgender Zeiträume in Schubhaft angehalten worden: Vom 14. Dezember 2009 (nach einer ersten Rückübernahme aus Deutschland) bis zum 18. Dezember 2009, danach vom 20. Dezember 2009 bis Mitte Juni 2010 und zuletzt (nach neuerlicher Rückübernahme aus Deutschland) vom 27. Juli bis zum 27. August 2010. Die Enthaftung an diesem Tag wurde zur Ermöglichung der freiwilligen Ausreise (nach Marokko) vorgenommen, die allerdings in die Schweiz erfolgte.
Nach seiner Rücküberstellung aus der Schweiz ordnete die Bundespolizeidirektion Schwechat über ihn mit - am selben Tag in Vollzug gesetztem - Bescheid vom 18. Jänner 2011 gemäß § 76 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG die Schubhaft zur Sicherung seiner Abschiebung an. Begründend verwies sie auf seine illegalen Ausreisen in andere Schengen-Staaten und die fehlende Bereitschaft, sich in ein Land zu begeben, in dem er sich legal aufhalten dürfte. Im Hinblick auf das frühere Verhalten komme die Anordnung eines gelinderen Mittels gemäß § 77 FPG nicht in Betracht, weil die Behörde keinen Grund zur Annahme habe, dass der Zweck der Schubhaft auch durch dessen Anwendung erreicht werden könne.
Während der Anhaltung in Schubhaft stellte der Mitbeteiligte am 22. Jänner 2011 neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz, den er damit begründete, weder in Schubhaft bleiben noch "nach Hause" fliegen zu wollen. Im Übrigen verwies er auf die bisher zu seiner Gefährdungssituation vorgetragenen Gründe und den "negativen Bescheid".
Am 27. Jänner 2011 teilte das Bundesasylamt mit, zu beabsichtigen, diesen Antrag wegen entschiedener Sache gemäß § 68 AVG zurückzuweisen und den faktischen Abschiebeschutz aufzuheben. Dieser zurückweisende Bescheid samt neuerlicher Ausweisung wurde mit 2. Februar 2011 erlassen. Am Tag darauf wurde dem Mitbeteiligten niederschriftlich mitgeteilt, dass die Schubhaft nunmehr als gemäß § 76 Abs. 2 Z. 2 FPG verhängt gelte.
Am 14. Februar 2011 erhob er Schubhaftbeschwerde, in der er unter anderem vorbrachte, die marokkanische Botschaft lehne es - wie ihm schon früher "im Zuge seiner Anhaltung in Schubhaft" mitgeteilt worden sei - ab, für ihn ein Heimreisezertifikat auszustellen. Er beantrage dazu seine Einvernahme durch die belangte Behörde in einer mündlichen Verhandlung. Bisher sei nämlich unerörtert geblieben, ob die marokkanische Botschaft in Wien ihre Praxis bezüglich der Ausstellung von Heimreisezertifikaten "seit Juni 2010" derart geändert habe, dass ex ante bei Schubhaftverhängung am 18. Jänner 2011 mit der Ausstellung der nötigen Dokumente für ihn zu rechnen (gewesen) sei. Insgesamt fehle, was sich schon bei den früheren Anhaltungen in Schubhaft gezeigt habe, seine Abschiebbarkeit, sodass sich auch die vorliegende Schubhaft als unzulässig erweise.
Mit Bescheid vom 16. Februar 2011 stellte die belangte Behörde - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - gemäß § 83 FPG fest, dass die Festnahme des Mitbeteiligen am 18. Jänner 2011, der Schubhaftbescheid vom selben Tag und seine bisherige Anhaltung in Schubhaft nicht rechtswidrig gewesen seien und dass auch die Voraussetzungen für die weitere Anhaltung des Mitbeteiligten in Schubhaft vorlägen.
In ihrer Begründung bejahte die belangte Behörde das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 76 Abs. 1 FPG sowie die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der verhängten Schubhaft. Der Mitbeteiligte sei bereits mehrfach untergetaucht und dabei von der Zielsetzung geleitet gewesen, im Gebiet der Schengen-Staaten, gegebenenfalls auch im Bundesgebiet, zu verbleiben. Das Risiko eines weiteren Untertauchens müsse daher als äußerst hoch eingestuft werden. Der Mitbeteiligte bediene sich mehrerer Alias-Namen und verschiedener Geburtsdaten. Er habe soziale Anknüpfungspunkte oder Grundlagen für die Sicherung seines Fortkommens im Bundesgebiet nicht einmal behauptet. Von der Abhaltung einer mündlichen Verhandlung habe abgesehen werden können, weil der maßgebliche Sachverhalt "bereits auf Grund der Aktenlage klar vorlag" und keine Umstände hervorgetreten seien, die durch "weitere Hinterfragung" im Rahmen einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu klären gewesen wären.
Mit Erkenntnis vom 20. März 2012, Zl. 2011/21/0067, dem die weiteren Einzelheiten des Verfahrens entnommen werden können, hob der Verwaltungsgerichtshof diesen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auf. Er verwies darauf, dass der Mitbeteiligte bereits in seiner Administrativbeschwerde - unter Hinweis auf die im Jahr 2010 erfolgten Enthaftungen - vorgebracht habe, infolge der unverändert aufrechten administrativen Praxis der marokkanischen Botschaft in Wien tatsächlich nicht abschiebbar zu sein. Zur Klärung dieser Frage habe er die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor der belangten Behörde beantragt. Dessen ungeachtet und ungeachtet der bisherigen, erfolglos gebliebenen Anhaltungen sei die belangte Behörde über dieses Vorbringen ohne Vornahme von Ermittlungen und ohne Begründung hinweggegangen.
Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 11. Mai 2012 stellte die belangte Behörde - neuerlich ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung und ohne Beweisaufnahme - gemäß § 83 FPG fest, dass der Schubhaftbescheid vom 18. Jänner 2011 und die Anhaltung des Mitbeteiligten in Schubhaft ab diesem Tag (bis zur Enthaftung am 11. März 2011) rechtswidrig gewesen seien. Begründend führte sie nach wörtlicher Wiedergabe des genannten Inhaltes des erwähnten Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes nur aus, es habe "nunmehr ein der Rechtsansicht des Verwaltungsgerichtshofes entsprechender Ersatzbescheid zu ergehen".
Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch den Mitbeteiligten in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
Die Amtsbeschwerde macht geltend, dass die - von der Bundespolizeidirektion Schwechat unverzüglich in die Wege geleitete - Ausstellung eines Ersatzreisedokumentes für den Mitbeteiligten nach dem (näher dargestellten) Stand der behördlichen Erhebungen im Jänner 2011 keinesfalls von vornherein aussichtslos gewesen sei. Dies hätte die belangte Behörde erheben und feststellen müssen, was dazu geführt hätte, die Schubhaft als gerechtfertigt und notwendig anzusehen. Als die marokkanische Vertretungsbehörde für den Mitbeteiligten, ungeachtet dieser Prognose, bis zum 11. März 2011 kein Ersatzreisedokument ausgestellt habe, sei die Schubhaft aufgehoben worden.
Mit dieser Argumentation ist die Beschwerdeführerin im Recht:
Die belangte Behörde hat nämlich neuerlich eine - unter Eingehen auf die divergierende Argumentation der Bundespolizeidirektion Schwechat schon in ihrer Stellungnahme zur Administrativbeschwerde einerseits und des Mitbeteiligten andererseits vorzunehmende - Prüfung unterlassen, ob der Mitbeteiligte nach der administrativen Praxis der marokkanischen Botschaft in Wien ab dem 18. Jänner 2011 tatsächlich abschiebbar gewesen wäre.
Der angefochtene Bescheid, mit dem die belangte Behörde den Inhalt des Vorerkenntnisses verkannt hat, war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Wien, am 13. Dezember 2012
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