VfGH V331/2023

VfGHV331/202310.6.2024

Aufhebung einer Geschwindigkeitsbeschränkungsverordnung des Gemeinderats der Stadtgemeinde Kitzbühel mangels ordnungsgemäßer Kundmachung; signifikante Abweichung des Aufstellungsortes der Verkehrszeichen (36m) vom räumlichen Geltungsbereich der Verordnung

Normen

B-VG Art139 Abs1 Z1
StVO 1960 §43, §44, §52
GeschwindigkeitsbeschränkungsV des Gemeinderats der Stadtgemeinde Kitzbühel vom 22.09.2014
VfGG §7 Abs2

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VFGH:2024:V331.2023

 

Spruch:

I. Die Verordnung des Gemeinderates der Stadtgemeinde Kitzbühel vom 22. September 2014, Z2474/07, kundgemacht durch Anschlag an der Amtstafel der Stadtgemeinde Kitzbühel in der Zeit vom 30. September bis 16. Oktober 2014 sowie durch Anbringung von Straßenverkehrszeichen, wird als gesetzwidrig aufgehoben.

II. Die Tiroler Landesregierung ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches im Landesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Antrag

Mit dem vorliegenden, auf Art139 Abs1 Z1 B‑VG gestützten Antrag begehrt das Landesverwaltungsgericht Tirol, der Verfassungsgerichtshof möge die Verordnung des Gemeinderates der Stadtgemeinde Kitzbühel vom 30. September 2014 (gemeint wohl: vom 22. September 2014), 2474/07, als gesetzwidrig aufheben.

II. Rechtslage

1. Die Verordnung des Gemeinderates der Stadtgemeinde Kitzbühel vom 22. September 2014, 2474/07, hat folgenden Wortlaut (Zitat ohne die Hervorhebungen im Original):

"Verordnung

 

der Stadtgemeinde Kitzbühel, womit ein Verkehrsverbot – eine Verkehrsbeschränkung – ein Hinweis vorgeschrieben wird.

 

Gemäß §§43, 94 d der Straßenverkehrsordnung 1960, BGBl Nr 159/60 i.d.g.F. und §§16, 30 Tiroler Gemeindeordnung, LGBl Nr 36/2011 i.d.g.F. wird mit Beschluss des Gemeinderates der Stadt Kitzbühel vom 22.09.2014 im Interesse der Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs verordnet:

 

Geschwindigkeitsbeschränkung in Form einer 'Zonenbeschränkung von 30 km/h' auf den Gemeindestraßen Bichlnweg, Stockerdörfl, Lindnerfeld, Siedlung Badhaus, Winklernfeld und Hans-Brettauer-Weg gem. §43 Abs1 litb Z1 StVO.

(Änderung der Verordnung vom 18. November 2013, Zl 2474/07)

 

Verkehrszeichen:

Zonenbeschränkung und Ende einer Zonenbeschränkung (30 km/h Zone) (§52 a Z11a u. 11b StVO)

 

Aufstellungsort:

1) Auf dem Bichlnweg am Beleuchtungsmast vor der Zufahrt zu den Häusern Nr 11 bzw Nr 6 für die Fahrtrichtung Siedlungsgebiet nach der Abzweigung von der B161 am rechten Fahrbahnrand – hinterseitige Aufhebung, gem. Koordinaten Breitengrad 47˚26´14.65 Nord, Längengrad 12˚24´17.68 Ost.

2) Auf dem Bichlnweg in Fahrtrichtung B161 am östlichen Widerlager der Brücke über den Winklerbach am Standort des Vorschriftszeichens 'Wartepflicht bei Gegenverkehr' – hinterseitige Aufhebung, gem. der Koordinaten Breitengrad 47˚26´8.42 Nord, Längengrad 12˚24´54.49 Ost.

 

Diese Verordnung ist gemäß §44 Straßenverkehrsordnung 1960 durch die ordnungsgemäße Anbringung der oben genannten Straßenverkehrszeichen kundzumachen und tritt mit der Errichtung der vorgeschriebenen Zeichen in Kraft.

Der diesbezügliche Aufstellungsort ist vom Straßenerhalter bzw dessen Organ der Behörde mitzuteilen, damit sie in die Lage versetzt wird, den Aktenvermerk (§16 AVG 1950) über das Inkrafttreten der Verordnung zu verfassen.

Die Anbringungspflicht und Tragung der Kosten für die Einrichtung zur Regelung und Sicherung des Verkehrs wird durch §32 StVO bestimmt.

 

Ergeht an:

[…]

 

[…]

Bürgermeister

 

Angeschlagen am: 30.09.2014

Abgenommen am: 16.10.2014"

 

2. Die für die Beurteilung der Gesetzmäßigkeit der angefochtenen Verordnung anzuwendenden Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 6. Juli 1960, mit dem Vorschriften über die Straßenpolizei erlassen werden (Straßenverkehrsordnung 1960 – StVO. 1960), BGBl 159/1960, lauten in der jeweils maßgeblichen Fassung wie folgt (Zitat ohne die Hervorhebungen im Original):

 

"§43. Verkehrsverbote, Verkehrserleichterungen und Hinweise.

 

(1) Die Behörde hat für bestimmte Straßen oder Straßenstrecken oder für Straßen innerhalb eines bestimmten Gebietes durch Verordnung

a) […]

b) wenn und insoweit es die Sicherheit, Leichtigkeit oder Flüssigkeit des sich bewegenden oder die Ordnung des ruhenden Verkehrs, die Lage, Widmung, Pflege, Reinigung oder Beschaffenheit der Straße, die Lage, Widmung oder Beschaffenheit eines an der Straße gelegenen Gebäudes oder Gebietes oder wenn und insoweit es die Sicherheit eines Gebäudes oder Gebietes und/oder der Personen, die sich dort aufhalten, erfordert,

1. dauernde oder vorübergehende Verkehrsbeschränkungen oder Verkehrsverbote, insbesondere die Erklärung von Straßen zu Einbahnstraßen, Maß-, Gewichts- oder Geschwindigkeitsbeschränkungen, Halte- oder Parkverbote und dergleichen, zu erlassen,

2. […]

c)–d) […].

 

(1a)–(11) […]

 

§44. Kundmachung der Verordnungen.

 

(1) Die im §43 bezeichneten Verordnungen sind, sofern sich aus den folgenden Absätzen nichts anderes ergibt, durch Straßenverkehrszeichen oder Bodenmarkierungen kundzumachen und treten mit deren Anbringung in Kraft. Der Zeitpunkt der erfolgten Anbringung ist in einem Aktenvermerk (§16 AVG) festzuhalten. […]

 

(1a)–(5) […]"

 

III. Antragsvorbringen und Vorverfahren

1. Dem Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Dem Beschwerdeführer im Verfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol wurde mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Kitzbühel vom 18. April 2023 eine Übertretung des §52 lita Z11a StVO 1960 zur Last gelegt, weil er am 15. Juli 2022, um 16.54 Uhr, in Kitzbühel, Kitzbühel Bichlnweg, Siedlung Badhaus 10, ein nach dem Kennzeichen näher bestimmtes Kraftfahrzeug in Fahrtrichtung Westen gelenkt und dabei die durch Zonenbeschränkung im Ortsgebiet in diesem Bereich kundgemachte zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h überschritten habe. Über den Beschwerdeführer wurde daher gemäß §99 Abs3 lita StVO 1960 eine Geld- und Ersatzfreiheitsstrafe verhängt.

2. Aus Anlass des Beschwerdeverfahrens gegen dieses Straferkenntnis stellt das Landesverwaltungsgericht Tirol den vorliegenden Antrag und bringt zu dessen Zulässigkeit vor, dass es die angefochtene Verordnung im Beschwerdeverfahren anzuwenden habe.

Das Landesverwaltungsgericht Tirol legt die Bedenken, die es zur Antragstellung beim Verfassungsgerichtshof bestimmt haben, im Wesentlichen wie folgt dar: Im Zuge des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens habe sich unter Einbeziehung von straßenbautechnischen Amtssachverständigen zweifelsfrei ergeben, dass sich die Straßenverkehrszeichen "ZONENBESCHRÄNKUNG" (§52 lita Z11a StVO 1960) und "ENDE DER ZONENBESCHRÄNKUNG" (§52 lita Z11b StVO 1960) zur Tatzeit nicht an dem in der angefochtenen Verordnung unter Punkt 1 genannten Aufstellungsort, sondern 36 Meter davon entfernt befunden hätten. Der Bürgermeister der Stadtgemeinde Kitzbühel habe diese Abweichung sowie den Umstand, dass die angefochtene Verordnung zum Tatzeitpunkt in Geltung gestanden sei, in seinem Schreiben vom 4. August 2023 bestätigt. Die angefochtene Verordnung sei daher gesetzwidrig, weil sie nicht ordnungsgemäß iSd §44 Abs1 StVO 1960 kundgemacht worden sei.

3. Die verordnungserlassende Behörde hat die Akten betreffend das Zustandekommen der zur Prüfung gestellten Verordnung vorgelegt und die folgende Äußerung erstattet:

"1.) […] wird mitgeteilt, dass hinsichtlich der Kundmachung der Verordnung des Gemeinderates der Stadtgemeinde Kitzbühel vom 30.09.2014 über eine Geschwindigkeitsbeschränkung in Form einer 'Zonenbeschränkung von 30 km/h' auf den Gemeindestraßen Bichlnweg, Stockerdörfl, Lindnerfeld, Siedlung Badhaus, Winklernfeld und Hans-Brettauer-Weg insofern ein Fehler unterlaufen ist, als die kundgemachte Zonenbeschränkung tatsächlich ca 36 Meter vom verordneten Aufstellungspunkt zu 1.) der Verordnung abweicht. Dieses Verkehrszeichen wurde somit irrtümlich an einem anderen Beleuchtungsmast befestigt, als dies gemäß verkehrstechnischem Gutachten und der Verordnung hätte erfolgen müssen.

 

2.) Die Verordnung vom 30.09.2014 stand zum Tatzeitpunkt des […] bekämpften Straferkenntnisses […] in Geltung. Eine Änderung der Verordnung vom 30.09.2014 erfolgte nicht.

 

[…]"

 

4. Die Tiroler Landesregierung hat von der Erstattung einer Äußerung abgesehen und mitgeteilt, dass sie über keine auf die angefochtene Verordnung Bezug habenden Akten verfügt.

IV. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit des Antrages

1.1. Der Verfassungsgerichtshof vertritt zu Art89 Abs1 B‑VG beginnend mit dem Erkenntnis VfSlg 20.182/2017 die Auffassung, dass eine "gehörig kundgemachte" generelle Norm – also eine an einen unbestimmten, externen Personenkreis adressierte, verbindliche Anordnung von Staatsorganen – bereits dann vorliegt, wenn eine solche Norm ein Mindestmaß an Publizität und somit rechtliche Existenz erlangt (VfSlg 20.182/2017). Es ist nicht notwendig, dass die Kundmachung der Norm in der rechtlich vorgesehenen Weise erfolgt. Demnach haben auch Gerichte gesetzwidrig kundgemachte Verordnungen gemäß Art139 B‑VG anzuwenden und diese, wenn sie Bedenken gegen ihre rechtmäßige Kundmachung haben, vor dem Verfassungsgerichtshof anzufechten. Bis zur Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof sind sie für jedermann verbindlich (vgl VfSlg 20.251/2018).

Die angefochtene Verordnung wurde ausweislich der vorgelegten Akten durch Anschlag an der Amtstafel der Stadtgemeinde Kitzbühel in der Zeit vom 30. September bis 16. Oktober 2014 sowie durch Anbringung von Straßenverkehrszeichen kundgemacht, sodass sie mit verbindlicher Wirkung für jedermann zustande gekommen ist.

1.2. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B‑VG bzw des Art140 Abs1 Z1 lita B‑VG nur dann wegen Fehlens der Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).

Im Verfahren hat sich nichts ergeben, was am Vorliegen dieser Voraussetzung zweifeln ließe.

1.3. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich der Antrag insgesamt als zulässig.

2. In der Sache

2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung gemäß Art139 B‑VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken zu beschränken (vgl VfSlg 11.580/1987, 14.044/1995, 16.674/2002). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Verordnung aus den im Antrag dargelegten Gründen gesetzwidrig ist (VfSlg 15.644/1999, 17.222/2004).

2.2. Der Antrag ist begründet.

Das Landesverwaltungsgericht Tirol macht geltend, dass die angefochtene Verordnung nicht ordnungsgemäß kundgemacht sei, weil sich die Straßenverkehrszeichen gem. §52 lita Z11a und Z11b StVO 1960 nicht an dem unter Punkt 1 der angefochtenen Verordnung festgelegten Aufstellungsort, sondern ca 36 Meter davon entfernt befinden würden.

2.2.1. Gemäß §44 Abs1 StVO 1960 sind die in §43 StVO 1960 bezeichneten Verordnungen, sofern sich aus den folgenden Absätzen nichts anderes ergibt, durch Straßenverkehrszeichen oder Bodenmarkierungen kundzumachen und treten mit deren Anbringung in Kraft.

2.2.2. Der Vorschrift des §44 Abs1 StVO 1960 ist immanent, dass die bezüglichen Straßenverkehrszeichen dort angebracht sind, wo der räumliche Geltungsbereich der Verordnung beginnt und endet. Zwar ist zur Kundmachung von Verkehrsbeschränkungen keine "zentimetergenaue" Aufstellung der Verkehrszeichen erforderlich, jedoch wird dieser Vorschrift nicht Genüge getan und liegt ein Kundmachungsmangel vor, wenn der Aufstellungsort vom Ort des Beginns bzw Endes des verordneten Geltungsbereiches einer Verkehrsbeschränkung signifikant abweicht (vgl zB VwGH 25.6.2014, 2013/07/0294 sowie VfSlg 20.251/2018, jeweils mwN).

2.2.3. Mit Verordnung des Gemeinderates der Stadtgemeinde Kitzbühel vom 22. September 2014, 2474/07, wurde für die Gemeindestraßen Bichlnweg, Stockerdörfl, Lindnerfeld, Siedlung Badhaus, Winklernfeld und Hans-Brettauer-Weg (laut verkehrstechnischem Gutachten vom 14. Juni 2014: "Badhaussiedlung") eine Geschwindigkeitsbeschränkung in Form einer Zonenbeschränkung von 30 km/h verordnet. Laut Verordnungstext (Punkt 1) hat die Kundmachung dieser Zonenbeschränkung ua "[a]uf dem Bichlnweg am Beleuchtungsmast vor der Zufahrt zu den Häusern Nr 11 bzw Nr 6 für die Fahrtrichtung Siedlungsgebiet nach der Abzweigung von der B161 am rechten Fahrbahnrand – hinterseitige Aufhebung, gem. Koordinaten Breitengrad 47˚26´14.65 Nord, Längengrad 12˚24´17.68 Ost" zu erfolgen. Die verordnungserlassende Behörde hat das Vorbringen des Landesverwaltungsgerichtes Tirol, wonach die Kundmachung der Zonenbeschränkung 36 Meter von diesem in der Verordnung festgelegten Ort entfernt erfolgt ist, bestätigt.

2.2.4. Auch wenn die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zur Kundmachung von Verordnungen iSd §44 Abs1 StVO 1960 je nach örtlichen Verkehrsverhältnissen eine bestimmte Fehlertoleranz vorsieht und die Aufstellung der entsprechenden Verkehrszeichen nicht "zentimetergenau" zu erfolgen hat, bewirkt die festgestellte signifikante Abweichung von 36 Metern im vorliegenden Fall eine nicht gesetzmäßige Kundmachung (vgl VfSlg 20.251/2018 mwN). Die angefochtene Verordnung erweist sich daher als gesetzwidrig.

V. Ergebnis

1. Die Verordnung des Gemeinderates der Stadtgemeinde Kitzbühel vom 22. September 2014, 2474/07, ist daher als gesetzwidrig aufzuheben.

2. Die Verpflichtung der Tiroler Landesregierung zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung erfließt aus Art139 Abs5 erster Satz B‑VG und §59 Abs2 VfGG iVm §2 Abs1 litj Tir Landes-VerlautbarungsG 2021.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

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