VfGH V121/11

VfGHV121/1111.6.2012

Gesetzwidrigkeit der Festlegung einer Geschwindigkeitsbeschränkung ab dem südlichen Ortsende von Scheiblingstein mangels Durchführung eines Ermittlungsverfahrens für die gebotene Interessenabwägung vor Verordnungserlassung

Normen

B-VG Art18 Abs2
GeschwindigkeitsbeschränkungsV der BH Wien-Umgebung vom 10.06.08 betr eine Geschwindigkeitsbeschränkung im Gemeindegebiet von Klosterneuburg
StVO 1960 §43 Abs1 litb Z1
B-VG Art18 Abs2
GeschwindigkeitsbeschränkungsV der BH Wien-Umgebung vom 10.06.08 betr eine Geschwindigkeitsbeschränkung im Gemeindegebiet von Klosterneuburg
StVO 1960 §43 Abs1 litb Z1

 

Spruch:

I. Punkt 1. der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Wien-Umgebung vom 10. Juni 2008, Z WUS1-V-0451, wonach das Befahren der L 120 ab dem südlichen Ortsende von Scheiblingstein (km 16,935) bis km 17,150 mit einer höheren Geschwindigkeit als 50 km/h verboten ist, wird als gesetzwidrig aufgehoben.

II. Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 31. Dezember 2012 in Kraft.

III. Die Niederösterreichische Landesregierung ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Landesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Anlassverfahren, Prüfungsbeschluss und Vorverfahren

1. Beim Verfassungsgerichtshof ist eine auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde gegen einen Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich (im Folgenden: UVS Niederösterreich) vom 22. Oktober 2010 anhängig, mit dem der Berufung des Beschwerdeführers keine Folge gegeben und das angefochtene Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Wien-Umgebung (im Folgenden: BH Wien-Umgebung) bestätigt wurde. Die BH Wien-Umgebung hatte mit Straferkenntnis vom 9. März 2010 über den Beschwerdeführer gemäß §52 lita Z10a iVm §99 Abs3 lita Straßenverkehrsordnung (im Folgenden: StVO) eine Verwaltungsstrafe in Höhe von € 110,- (Ersatzfreiheitsstrafe 36 Stunden) verhängt, weil er am 24. Juli 2009 im Gemeindegebiet von Klosterneuburg, Scheiblingstein auf der Tullnerstraße, 175,6 m vor ONr. 25 in Fahrtrichtung Tulln die erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 28 km/h überschritten hatte.

2. Aus Anlass dieser Beschwerde beschloss der Verfassungsgerichtshof am 19. September 2011 gemäß Art139 Abs1 B-VG die Gesetzmäßigkeit des Punktes 1. der Verordnung der BH Wien-Umgebung vom 10. Juni 2008, Z WUS1-V-0451, wonach das Befahren der L 120 ab dem südlichen Ortsende von Scheiblingstein (km 16,935) bis km 17,150 mit einer höheren Geschwindigkeit als 50 km/h verboten ist, von Amts wegen zu prüfen.

3. Die in Prüfung gezogene Verordnungsbestimmung

lautet:

"VERORDNUNG

Die Bezirkshauptmannschaft Wien-Umgebung ordnet gemäß §43 Abs1 litb Z1 der Straßenverkehrsordnung 1960 (StVO 1960) für das Gemeindegebiet von Klosterneuburg folgende Verkehrsbeschränkungen an:

1. Das Befahren der L 120 ab dem südlichen Ortsende von

Scheiblingstein (km 16,935) bis km 17,150 mit

einer

höheren Geschwindigkeit als 50 km/h ist verboten.

Diese Verkehrsbeschränkung ist kundzumachen durch Verkehrszeichen gemäß §52 Z10a StVO 1960 'Geschwindigkeitsbeschränkung (erlaubte Höchstgeschwindigkeit)' jeweils mit der Inschrift '50' und dem Zusatz 'Lärmschutz' und §52 Z10b StVO 1960 'Ende der Geschwindigkeitsbeschränkung' mit der Inschrift '50'.

2. [...]

Diese Verordnung tritt gemäß §44 Abs1 StVO 1960 mit Aufstellung der genannten Verkehrszeichen in Kraft.

Ergeht an:

1. - 5. [...]

Der Bezirkshauptmann:

[...]"

4. Seine Bedenken ob der Gesetzmäßigkeit der in Prüfung gezogenen Verordnungsbestimmung begründete der Verfassungsgerichtshof folgendermaßen: Er bezweifle, dass die verordnungserlassende Behörde alle für die gebotene Interessenabwägung relevanten Sachverhalte ausreichend ermittelt hat. Ebenso bestehen Bedenken, ob die erforderliche Interessenabwägung vorgenommen wurde, weil diese im Verordnungsakt nicht dokumentiert und somit für den Verfassungsgerichtshof nicht nachvollziehbar sei. Wie der Verfassungsgerichtshof aber in ständiger Rechtsprechung ausgesprochen habe, sei das Ermittlungs- und Anhörungsverfahren sowie die dem Gesetz entsprechende Interessenabwägung vor Erlassung einer Verordnung durchzuführen.

5. Die Niederösterreichische Landesregierung hat eine Äußerung erstattet, in der ausgeführt wird, dass es Ermittlungen und eine Interessenabwägung vor Erlassung der Verordnung gegeben habe, diese aber zum Teil nicht im Verordnungsakt dokumentiert seien. Es sei ein Ortsaugenschein unter Anwesenheit des Bezirkshauptmannes von Wien-Umgebung und Beamten der PI Weidling durchgeführt worden. Weiters habe es Gespräche mit dem Amtssachverständigen für Lärmtechnik gegeben, die ergeben hätten, dass eine Messung der Lärmbelästigung durch beschleunigende Fahrzeuge mit einem erheblichen Kosten- und Zeitaufwand verbunden sei. Die Stellungnahme des Amtssachverständigen zum Nachweis der Rechtfertigung sei nunmehr mit 6. Dezember 2011 nachgeholt worden. Die Niederösterreichische Landesregierung nimmt in ihrer Äußerung eine Interessenabwägung vor, weist aber darauf hin, dass auch vor Verordnungserlassung eine Interessenabwägung vorgenommen worden sei, die aber nicht im Verordnungsakt dokumentiert worden sei. Mit der Äußerung vorgelegt wurden umfangreiche Verordnungsakten, die jedoch nicht ausschließlich die in Prüfung gezogene Bestimmung betreffen, sondern die gesamte Strecke der L 120.

II. Erwägungen

1. Da der Beschwerdeführer im zu B1739/10 protokollierten Anlassverfahren wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h im Gemeindegebiet von Klosterneuburg, Scheiblingstein auf der Tullnerstraße, 175,6 m vor ONr. 25 in Fahrtrichtung Tulln bestraft wurde, ist die in Prüfung gezogene Verordnungsstelle in diesem Beschwerdeverfahren präjudiziell. Da auch die übrigen Prozessvoraussetzungen vorliegen, ist das Verordnungsprüfungsverfahren gemäß Art139 Abs1 B-VG zulässig.

2. Der Verfassungsgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die Behörde vor Erlassung einer Verkehrsbeschränkung die im Einzelnen umschriebenen Interessen daran mit dem Interesse an der ungehinderten Benützung der Straße abzuwägen und dabei die (tatsächliche) Bedeutung des Straßenzuges zu berücksichtigen hat (vgl. etwa VfSlg. 13.482/1993). Die sohin gebotene Interessenabwägung erfordert sowohl die nähere sachverhaltsmäßige Klärung der Gefahren oder Belästigungen für Bevölkerung und Umwelt, vor denen die Verkehrsbeschränkung schützen soll, als auch eine Untersuchung der Verkehrsbeziehungen und der Verkehrserfordernisse durch ein entsprechendes Anhörungs- und Ermittlungsverfahren (vgl. etwa VfSlg. 17.572/2005). Das entsprechende Ermittlungsverfahren sowie die dem Gesetz entsprechende Interessenabwägung sind jedenfalls vor Erlassung einer Verordnung durchzuführen, weil in die Grundlage der Entscheidung des Verordnungsgebers ein vollständiges Bild über die Tatsachenlage und die Artikulation bestimmter Interessen einfließen können soll. Eine nachträglich vorgenommene Rechtfertigung vermag die Gesetzwidrigkeit einer Verordnung nicht zu beseitigen (vgl. VfSlg. 18.401/2008).

2.1. Aus den vorgelegten Verordnungsakten ergibt sich zwar einerseits, worin grundsätzlich die besonderen Gefahren und Belästigungen auf der (gesamten) L 120 - insbesondere im Hinblick auf die starke Benützung durch Motorradfahrer - bestehen, anderseits aber auch, dass diesen Problemen bisher durch verschiedene Maßnahmen, wie etwa verstärkte Verkehrskontrollen, begegnet werden konnte. In der von der Niederösterreichischen Landesregierung zitierten Stellungnahme des lärmtechnischen Amtssachverständigen vom 25. Juni 2002 wird festgehalten, dass eine Reduzierung der Lärmimmissionen vor allem vom Fahrverhalten der Lenker abhängig sei und nicht schon (allein) durch eine Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit erreicht werden könne. Zur in Prüfung gezogenen Verordnungsbestimmung ist im Verordnungsakt weder die Stellungnahme des lärmtechnischen Amtssachverständigen noch eine Interessenabwägung dokumentiert.

2.2. Das Verordnungsprüfungsverfahren hat somit nicht ergeben, dass die verordnungserlassende Behörde vor Erlassung der in Prüfung gezogenen Verordnungsbestimmung ein ausreichendes Ermittlungsverfahren durchgeführt hat. Daran ändert auch das Vorbringen der Niederösterreichischen Landesregierung, es habe ein Gespräch mit dem lärmtechnischen Sachverständigen über die mögliche Berechnung der Lärmimmissionen bzw. deren Reduzierung stattgefunden, sowie es sei eine Interessenabwägung vorgenommen worden, aber beides nicht dokumentiert worden, nichts. Da die BH Wien-Umgebung vor Verordnungserlassung kein ausreichendes Ermittlungsverfahren durchgeführt hat, und somit auch die gemäß §43 StVO gebotene Interessenabwägung nicht vorgenommen werden konnte, ist die in Prüfung gezogene Verordnung gesetzwidrig. Die nachträgliche Einholung einer schriftlichen Stellungnahme des lärmtechnischen Amtssachverständigen am 6. Dezember 2011 sowie die nachträglich vorgenommene Interessenabwägung in der Äußerung vom 20. Dezember 2011 vermögen die Gesetzwidrigkeit der in Prüfung gezogenen Verordnungsbestimmung nicht zu beseitigen (vgl. VfSlg. 18.401/2008).

III. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen

Da das Verordnungsprüfungsverfahren ergeben hat, dass die in Prüfung gezogene Verordnungsbestimmung gesetzwidrig ist, war diese als gesetzwidrig aufzuheben.

Die Bestimmung einer Frist für das Außerkrafttreten der aufgehobenen Verordnungsstelle gründet sich auf Art139 Abs5 letzter Satz B-VG.

Die Verpflichtung der Niederösterreichischen Landesregierung zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung und des damit im Zusammenhang stehenden weiteren Ausspruchs erfließt aus Art139 Abs5 erster Satz B-VG und §60 Abs2 VfGG.

Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

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