VfGH KI13/2020 ua, E2375/2020

VfGHKI13/2020 ua, E2375/202010.3.2021

Verletzung in verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechten wegen Anwendung einer Bestimmung des EpidemieG 1950 durch den zurückweisenden Beschluss eines Landesverwaltungsgerichts; Zurückweisung des Antrags auf Entscheidung eines nicht (mehr) bestehenden verneinenden Kompetenzkonfliktes mit einem Bezirksgericht

Normen

B-VG Art138 Abs1 Z2, Art140 Abs7
EpidemieG 1950 §7 Abs1a
VfGG §7 Abs2, §88

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VFGH:2021:KI13.2020

 

Spruch:

I. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Beschluss des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt worden.

Der Beschluss wird aufgehoben.

II. Der Antrag auf Entscheidung eines verneinenden Kompetenzkonfliktes wird zurückgewiesen.

III. Der Bund (Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde, Antrag und Vorverfahren

1. Der Magistrat der Stadt Wien (Magistratsabteilung 15 – Gesundheitsdienst) trug dem nunmehrigen Beschwerdeführer und Antragsteller am 6. März 2020 während seines Spitalsdienstes telefonisch die Absonderung in seiner Wohnung in Niederösterreich auf, weil er Kontakt mit einem mit dem neuartigen Coronavirus infizierten Patienten gehabt habe. Am 9. März 2020 informierte der Magistrat der Stadt Wien die Bezirkshauptmannschaft Bruck an der Leitha über den Sachverhalt.

2. Mit Mandatsbescheid vom 10. März 2020 ordnete die Bezirkshauptmannschaft Bruck an der Leitha gemäß §7 Abs1a Epidemiegesetz 1950 (EpiG) die Absonderung des nunmehrigen Beschwerdeführers bzw Antragstellers (rückwirkend) ab 9. März 2020 (nicht jedoch ab 6. März 2020) bis 16. März 2020 in seiner Wohnung an. Mit Vorstellung vom 16. März 2020 begehrte der Beschwerdeführer bzw Antragsteller die Änderung des Mandatsbescheides dahingehend, dass der Zeitpunkt des Beginns der Absonderung mit 6. März 2020 festgelegt werde (weil davon Ansprüche auf Vergütung nach dem EpiG abhängen würden). Die Bezirkshauptmannschaft Bruck an der Leitha gab diesem Antrag nicht Folge und bestätigte mit Bescheid vom 27. März 2020 den Mandatsbescheid vom 10. März 2020.

3. Mit Antrag vom 1. April 2020 wandte sich der nunmehrige Beschwerdeführer und Antragsteller daraufhin zunächst an das Bezirksgericht Bruck an der Leitha und begehrte unter Bezugnahme auf §7 Abs1a EpiG die Feststellung, dass seine Anhaltung "infolge behördlicher Anordnungen in der Zeit vom 6.3.2020 bis einschließlich 16.3.2020 erfolgte und entsprechend den Bestimmungen des Epidemiegesetz 1950 rechtskonform angeordnet wurde". Das Bezirksgericht Bruck an der Leitha wies diesen Antrag mit Beschluss vom 6. April 2020, Z 3 Ub 1/20y, wegen Unzulässigkeit des Rechtsweges zurück.

4. Weiters erhob der nunmehrige Beschwerdeführer und Antragsteller gegen den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Bruck an der Leitha vom 27. März 2020 mit Eingabe vom 22. April 2020 Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich und beantragte erneut die Abänderung der Absonderungsanordnung dahingehend, dass die Absonderung bereits am 6. März 2020 begonnen habe. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich übermittelte die Beschwerde zunächst "zuständigkeitshalber" an das Bezirksgericht Bruck an der Leitha, das diese jedoch mit Note vom 20. Mai 2020 seinerseits wegen Unzuständigkeit wieder an das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich retournierte. In der Folge wies das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich die Beschwerde mit Beschluss vom 29. Mai 2020, LVwG-AV-453/001-2020, wegen sachlicher Unzuständigkeit zurück und führte zur Begründung aus, dass gemäß §7 Abs1a EpiG idF der Novelle 2016 der Rechtszug gegen Absonderungsbescheide an das Landesverwaltungsgericht ausgeschlossen worden sei und die Angelegenheit vielmehr in die Zuständigkeit der Bezirksgerichte falle.

5. Gegen diesen Beschluss des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich richtet sich die vorliegende, auf Art144 B‑VG gestützte, zu E2375/2020 protokollierte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art83 Abs2 B‑VG), sowie in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.

6. Unter einem stellt der Beschwerdeführer einen auf Art138 Abs1 Z2 B‑VG gestützten, zu KI13/2020 protokollierten Antrag auf Entscheidung eines negativen Kompetenzkonfliktes zwischen dem Bezirksgericht Bruck an der Leitha (Beschluss vom 6. April 2020, Z 3 Ub 1/20y) und dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich (Beschluss vom 29. Mai 2020, LVwG-AV-453/001-2020) und begehrt die kostenpflichtige Aufhebung des der Kompetenzentscheidung des Verfassungsgerichtshofes entgegenstehenden Aktes.

7. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich hat seinen Gerichtsakt sowie den Verwaltungsakt der Bezirkshauptmannschaft Bruck an der Leitha vorgelegt, von der Erstattung einer Äußerung jedoch abgesehen. Das Bezirksgericht Bruck an der Leitha hat den Gerichtsakt vorgelegt und in der Sache auf die Begründung seines Beschlusses vom 6. April 2020 verwiesen.

II. Rechtslage

§7 des Epidemiegesetzes 1950 (EpiG), BGBl 186/1950, idF BGBl I 63/2016 lautete im maßgeblichen Zeitraum:

"Absonderung Kranker.

 

§7. (1) Durch Verordnung werden jene anzeigepflichtigen Krankheiten bezeichnet, bei denen für kranke, krankheitsverdächtige oder ansteckungsverdächtige Personen Absonderungsmaßnahmen verfügt werden können.

 

(1a) Zur Verhütung der Weiterverbreitung einer in einer Verordnung nach Abs1 angeführten anzeigepflichtigen Krankheit können kranke, krankheitsverdächtige oder ansteckungsverdächtige Personen angehalten oder im Verkehr mit der Außenwelt beschränkt werden, sofern nach der Art der Krankheit und des Verhaltens des Betroffenen eine ernstliche und erhebliche Gefahr für die Gesundheit anderer Personen besteht, die nicht durch gelindere Maßnahmen beseitigt werden kann. Die angehaltene Person kann bei dem Bezirksgericht, in dessen Sprengel der Anhaltungsort liegt, die Überprüfung der Zulässigkeit und Aufhebung der Freiheitsbeschränkung nach Maßgabe des 2. Abschnitts des Tuberkulosegesetzes beantragen. Jede Anhaltung ist dem Bezirksgericht von der Bezirksverwaltungsbehörde anzuzeigen, die sie verfügt hat. Das Bezirksgericht hat von Amts wegen in längstens dreimonatigen Abständen ab der Anhaltung oder der letzten Überprüfung die Zulässigkeit der Anhaltung in sinngemäßer Anwendung des §17 des Tuberkulosegesetzes zu überprüfen, sofern die Anhaltung nicht vorher aufgehoben wurde.

 

(2) Kann eine zweckentsprechende Absonderung im Sinne der getroffenen Anordnungen in der Wohnung des Kranken nicht erfolgen oder wird die Absonderung unterlassen, so ist die Unterbringung des Kranken in einer Krankenanstalt oder einem anderen geeigneten Raume durchzuführen, falls die Überführung ohne Gefährdung des Kranken erfolgen kann.

 

(3) Zum Zwecke der Absonderung sind, wo es mit Rücksicht auf die örtlichen Verhältnisse geboten erscheint, geeignete Räume und zulässig erkannte Transportmittel rechtzeitig bereitzustellen, beziehungsweise transportable, mit den nötigen Einrichtungen und Personal ausgestattete Barackenspitäler einzurichten.

 

(4) Abgesehen von den Fällen der Absonderung eines Kranken im Sinne des Abs2 kann die Überführung aus der Wohnung, in der er sich befindet, nur mit behördlicher Genehmigung und unter genauer Beobachtung der hiebei von der Behörde anzuordnenden Vorsichtsmaßregeln erfolgen.

 

(5) Diese Genehmigung ist nur dann zu erteilen, wenn eine Gefährdung öffentlicher Rücksichten hiedurch nicht zu besorgen steht und der Kranke entweder in eine zur Aufnahme solcher Kranker bestimmte Anstalt gebracht werden soll oder die Überführung nach der Sachlage unbedingt geboten erscheint."

 

III. Erwägungen

1. Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde gegen den Beschluss des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich vom 29. Mai 2020 erwogen:

1.1. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 10. März 2020, G380/2020 ua, §7 Abs1a zweiter Satz EpiG, BGBl 186/1950, idF BGBl I 63/2016 als verfassungswidrig aufgehoben und unter anderem gemäß Art140 Abs7 B‑VG ausgesprochen, dass die aufgehobene Bestimmung in dem beim Verfassungsgerichtshof zu E2375/2020, KI13/2020, anhängigen Verfahren nicht mehr anzuwenden ist.

1.2. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich stützte seinen in Beschwerde gezogenen Beschluss unter anderem auf §7 Abs1a zweiter Satz EpiG idF BGBl I 63/2016.

1.3. Es ist nach Lage des Falles nicht ausgeschlossen, dass diese Gesetzesanwendung für die Rechtsstellung des Beschwerdeführers nachteilig war. Der Beschwerdeführer wurde somit wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt.

1.4. Der angefochtene Beschluss des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich vom 29. Mai 2020 ist daher aufzuheben.

2. Da somit im Zeitpunkt der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes schon aus diesem Grund kein Kompetenzkonflikt iSd Art138 Abs1 Z2 B‑VG (mehr) vorliegt, ist der unter einem gestellte Antrag auf Entscheidung eines negativen Kompetenzkonfliktes als unzulässig zurückzuweisen.

IV. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch den angefochtenen Beschluss des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt worden.

2. Der Beschluss ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Der Antrag auf Entscheidung eines negativen Kompetenzkonfliktes ist als unzulässig zurückzuweisen.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten. Dem Kostenzuspruch steht nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer das Land Niederösterreich und nicht den Bund als den zum Kostenersatz zu verpflichtenden Rechtsträger benennt, weil die Bezeichnung des Rechtsträgers, in dessen Namen das Verwaltungsgericht gehandelt hat, keinen notwendigen Bestandteil eines Kostenbegehrens iSd §88 VfGG darstellt (VfSlg 17.140/2004; 18.239/2007; VfGH 26.11.2020, E2355/2020).

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