VfGH G54/10

VfGHG54/1026.2.2011

Keine verfassungswidrige Ungleichbehandlung von Fremden untereinander durch eine Regelung des Fremdenpolizeigesetzes 2005 über die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen gemeinschaftsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger; Anwendbarkeit der Regelung aufgrund richtlinienkonformer Interpretation auf alle Unionsbürger unabhängig von der Dauer ihres Aufenthaltes

Normen

FremdenpolizeiG 2005 §2 Abs4 Z15, §86
Unionsbürger-Richtlinie 2004/38/EG vom 29.04.04 Art6, Art7, Art27, Art28
FremdenpolizeiG 2005 §2 Abs4 Z15, §86
Unionsbürger-Richtlinie 2004/38/EG vom 29.04.04 Art6, Art7, Art27, Art28

 

Spruch:

Der Antrag wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Sachverhalt, Antragsvorbringen und Vorverfahren

1.1. Beim Unabhängigen Verwaltungssenat Wien (im Folgenden: UVS Wien) ist ein Berufungsverfahren gegen einen Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 3. August 2009 anhängig, mit dem über einen französischen Staatsangehörigen gemäß §86 Abs1 iVm §63 Abs1 des Bundesgesetzes über die Ausübung der Fremdenpolizei, die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel, BGBl. I 100/2005 idgF (im Folgenden: FPG), ein auf zehn Jahre befristetes Aufenthaltsverbot erlassen wurde.

1.2. Der UVS Wien führt zu dem diesem Verfahren zu Grunde liegenden Sachverhalt aus, dass der am 18. Jänner 1982 geborene Berufungswerber am 8. Mai 2009 aus Deutschland kommend nach Österreich eingereist sei und hier weder einen Haupt- noch einen Nebenwohnsitz habe. Darüber hinaus habe er auch keine familiären oder beruflichen Bindungen zu Österreich. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 29. Juni 2009 sei über den Berufungswerber wegen des Verbrechens des versuchten gewerbsmäßigen Diebstahls eine bedingte Freiheitsstrafe im Ausmaß von acht Monaten verhängt worden. Bei seiner niederschriftlichen Befragung durch die Fremdenpolizei am 2. Juni 2009 habe der Berufungswerber u.a. angegeben, nicht im Besitz von Barmitteln zu sein und in Österreich weder gemeldet noch versichert zu sein. Daraufhin wurde mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 3. August 2009 über den Berufungswerber gemäß §86 Abs1 iVm §63 Abs1 FPG ein auf zehn Jahre befristetes Aufenthaltsverbot verhängt und ihm gemäß §86 Abs3 FPG ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat gewährt.

2. Aus Anlass dieses Verfahrens stellte der UVS Wien am 18. Mai 2010 den auf Art140 B-VG gestützten Antrag,

"die Wortfolge 'gemeinschaftsrechtlich aufenthaltsberechtigte' in §86 Abs1 Fremdenpolizeigesetz - FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 122/2009 (FrÄG 2009) zuletzt geändert mit BGBl. Nr. 135/2009"

als verfassungswidrig aufzuheben. Die angefochtene Wortfolge würde eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung von Fremden untereinander bewirken, weil die Verhängung eines Aufenthaltsverbots über gemeinschaftsrechtlich nicht aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger bereits bei Vorliegen der Voraussetzungen des §60 Abs1 und 2 FPG zulässig sei, während über Familienangehörige dieser EWR-Bürger nur bei Vorliegen der strengeren Voraussetzungen des §86 Abs1 FPG ein Aufenthaltsverbot verhängt werden dürfe.

3. Die mitbeteiligte Partei erstattete eine Äußerung, in der darauf hingewiesen wird, dass das Unionsrecht der Anwendung der angefochtenen Wortfolge entgegensteht.

4. Die Bundesregierung tritt in ihrer Äußerung dem UVS Wien in der Sache entgegen und beantragt die Abweisung des Antrages.

II. Rechtslage

1. Die Art2, 3, 6, 7, 27 und 28 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG, ABl. 2004

L 158, S 77 (im Folgenden: RL), lauten auszugsweise:

"Artikel 2

Begriffsbestimmungen

Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

1. 'Unionsbürger' jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt;

2. bis 3. …"

"Artikel 3

Berechtigte

(1) Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.

(2) …"

"KAPITEL III

Aufenthaltsrecht

Artikel 6

Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten

(1) Ein Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht.

(2) …"

"Artikel 7

Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate

(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er

a) Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder

b) für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder

c) - bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften oder seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist und

- über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, oder

d) ...

(2) - (4) …"

"KAPITEL VI

Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechtsaus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheitoder Gesundheit

Artikel 27

Allgemeine Grundsätze

(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.

(2) Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.

(3) - (4) …"

"Artikel 28

Schutz vor Ausweisung

(1) Bevor der Aufnahmemitgliedstaat eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, berücksichtigt er insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Aufnahmemitgliedstaat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat.

(2) Der Aufnahmemitgliedstaat darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die das Recht auf Daueraufenthalt in seinem Hoheitsgebiet genießen, eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügen.

(3) …"

2. Die §§2, 84 und 86 FPG lauten auszugsweise (die angefochtene Wortfolge ist durch Unterstreichung hervorgehoben):

"§2. (1) bis (3) …

(4) Im Sinn dieses Bundesgesetzes ist

1. bis 7. …

8. EWR-Bürger: ein Fremder, der Staatsangehöriger einer Vertragspartei des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Abkommen) ist;

9. bis 14. …

15. gemeinschaftsrechtliches Aufenthaltsrecht: das auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie gewährte Recht eines EWR-Bürgers und seiner Angehörigen sich im Bundesgebiet für mehr als drei Monate oder auf Dauer aufzuhalten;

16. bis 17. …

18. Freizügigkeitsrichtlinie: die Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG, ABl. Nr. L 158 vom 30.04.2004 S. 77 in der Fassung der Berichtigung ABl. Nr. L 229 vom 29.06.2004 S. 35;

19. bis 21. …

(5) …"

"10. Hauptstück Sonderbestimmungen für

gemeinschaftsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger

und Schweizer Bürger sowie für begünstigteDrittstaatsangehörige

und Familienangehörige von nicht gemeinschaftsrechtlich

aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern, Schweizern und Österreichern EWR-Bürger und Schweizer Bürger

§84. EWR-Bürger und Schweizer Bürger genießen Sichtvermerksfreiheit und haben das Recht auf Aufenthalt für einen Zeitraum von drei Monaten. Darüber hinaus besteht ein Aufenthaltsrecht nach Maßgabe des 4. Hauptstückes des 2. Teiles des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes."

"Sonderbestimmungen für den Entzug der

Aufenthaltsberechtigung und für verfahrensfreie Maßnahmen

§86. (1) Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen gemeinschaftsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige ist zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes ihren Aufenthalt ununterbrochen seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, das Aufenthaltsverbot wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.

(2) bis (6) …"

3. Die §§51, 52 und 53a Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz, BGBl. I 100/2005 idF BGBl. I 122/2009 (im Folgenden: NAG), lauten auszugsweise:

"4. Hauptstück Gemeinschaftsrechtliches Aufenthaltsrecht Gemeinschaftsrechtliches Aufenthaltsrecht von

EWR-Bürgern für mehr als drei Monate

§51. (1) Auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie sind EWR-Bürger zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie

1. in Österreich Arbeitnehmer oder Selbständige sind;

2. für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen müssen, oder

3. als Hauptzweck ihres Aufenthalts eine Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung bei einer öffentlichen Schule oder einer rechtlich anerkannten Privatschule oder Bildungseinrichtung absolvieren und die Voraussetzungen der Z2 erfüllen.

(2) bis (3) …"

"Aufenthaltsrecht für Angehörige von EWR-Bürgern

§52. (1) Auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie sind EWR-Bürger, die Angehörige von gemeinschaftsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern (§§51 und 53a) sind, zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie

1. bis 5. …

(2) ..."

"Bescheinigung des Daueraufenthalts von EWR-Bürgern

§53a. (1) EWR-Bürger, denen das gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht zukommt (§§51 und 52), erwerben unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen gemäß §§51 oder 52 nach fünf Jahren rechtmäßigem und ununterbrochenem Aufenthalt im Bundesgebiet das Recht auf Daueraufenthalt. …

(2) bis (5) ..."

III. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit des Antrages

1.1. Zur Präjudizialität der angefochtenen Wortfolge führt der UVS Wien aus:

"Der Berufungswerber ist französischer Staatsangehöriger und somit EWR-Bürger. Daher ist gemäß der in Verfassungsrang stehenden Rechtsvorschrift des §9 Abs1 Z1 FPG die Zuständigkeit des UVS Wien zur Absprache über die gegenständliche Berufung gegeben.

Der Unabhängige Verwaltungssenat Wien hat im Rahmen der Berufungsentscheidung zu prüfen, ob das über Herrn K. verhängte Aufenthaltsverbot an den Kriterien des §86 Abs1 FPG zu messen ist, was nur dann der Fall sein kann, wenn es sich beim Berufungswerber um einen 'gemeinschaftsrechtlich aufenthaltsberechtigten' EWR-Bürger handelt, oder ob - in diese Richtung weist die Aktenlage - der für sonstige Fremde (dazu zählen auch EWR-Bürger, die zwar zur Einreise in das Bundesgebiet und zum Aufenthalt bis zu drei Monaten berechtigt sind, denen aber kein darüber hinausgehendes 'gemeinschaftsrechtliches Aufenthaltsrecht' im Sinne des §2 Abs4 Z15 FPG zukommt) geltende Maßstab des §60 Abs1 und 2 FPG heranzuziehen ist. Die angefochtene Wortfolge in §86 Abs1 FPG ist daher für die Entscheidung des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien präjudiziell."

1.2. Dem tritt die Bundesregierung in ihrer Äußerung nicht entgegen, sondern geht davon aus, dass die angefochtene Bestimmung präjudiziell sei und auch die übrigen Prozessvoraussetzungen vorliegen.

1.3. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung den antragstellenden UVS an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses UVS in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art140 B-VG bzw. des Art139 B-VG nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die - angefochtene - generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden UVS im Anlassfall bildet (vgl. etwa VfSlg. 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).

Es ist jedenfalls denkmöglich, dass der UVS Wien die angefochtene Wortfolge in dem dem Antrag zu Grunde liegenden Verfahren anzuwenden hat.

1.4. Da auch die übrigen Prozessvoraussetzungen vorliegen, ist der Antrag zulässig.

2. In der Sache

2.1. Gemäß Art2 Z1 der RL ist Unionsbürger jede Person, die Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats der Europäischen Union ist. Gemäß Art3 Abs1 der RL gilt diese u.a. für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält. Gemäß Art27 Abs1 der RL dürfen die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers ausschließlich aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränkt werden. Art27 Abs2 der RL legt fest, dass bei der Verhängung von (fremdenpolizeilichen) Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren ist und ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen berücksichtigt werden darf. Strafrechtliche Verurteilungen des Betroffenen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen. Art28 Abs1 der RL normiert, dass der Aufnahmemitgliedstaat insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Aufnahmemitgliedstaat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat berücksichtigt, bevor er eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt. Schließlich kommt einem Unionsbürger, der sich in einem Mitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, gemäß Art6 Abs1 und Art7 Abs1 der RL ein Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat zu, sofern er die in den zitierten Bestimmungen näher ausgeführten Voraussetzungen erfüllt.

2.2. Die Art27 und 28 der RL wurden durch §86 FPG in innerstaatliches Recht umgesetzt. Im Unterschied zur allgemeinen Regelung des §60 Abs1 FPG kann über gemeinschaftsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger demnach ausschließlich dann ein Aufenthaltsverbot verhängt werden, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist, wobei das persönliche Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, darstellen muss. Weder strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen begründen, noch sind vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen zulässig.

2.3. Die Wortfolge "gemeinschaftsrechtlich aufenthaltsberechtigte" in §86 FPG ist nach Ansicht des UVS Wien so zu lesen, dass ein Aufenthaltsverbot, das gegen EWR-Bürger erlassen wird, nur dann an den Kriterien des §86 FPG zu messen ist, wenn sich der Betroffene mehr als drei Monate in einem Mitgliedstaat aufhält. Bei Angehörigen von EWR-Bürgern hingegen sei ein Aufenthaltsverbot auch bei einem Aufenthalt bis zu drei Monaten auf §86 FPG zu stützen, weshalb insoweit EWR-Bürger gegenüber Angehörigen von EWR-Bürgern benachteiligt seien.

2.4. Die Bundesregierung hält dem entgegen, die Legaldefinition der Wortfolge "gemeinschaftsrechtlich aufenthaltsberechtigte" (§2 Abs4 Z15 FPG) decke "in Bezug auf §86 FPG […] nur einen Teil des unionsrechtlich Gebotenen ab". Im Wege einer historischen, systematischen und unionsrechtskonformen Interpretation sei die angefochtene Wortfolge daher so zu verstehen, dass §86 FPG auf alle Unionsbürger unabhängig von der Dauer ihres Aufenthaltes anzuwenden sei.

2.5. Mit dieser Auffassung ist die Bundesregierung im Recht. Art27 der RL normiert für die Vornahme fremdenpolizeilicher Maßnahmen keine zeitliche Beschränkung im Hinblick auf die Dauer des Aufenthalts. Diese Bestimmung wurde durch §86 FPG in innerstaatliches Recht umgesetzt. Im Lichte des Art27 der RL ist §86 FPG, und insbesondere die Wortfolge "gemeinschaftsrechtlich aufenthaltsberechtigte", - ungeachtet der Legaldefinition des §2 Abs4 Z15 FPG, die eine zeitliche Einschränkung auf einen Aufenthalt von mehr als drei Monaten vornimmt, - dahingehend zu verstehen, dass §86 FPG für alle Unionsbürger unabhängig von der Dauer ihres Aufenthalts gilt (zum Gebot einer richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts vgl. VfSlg. 14.391/1995), also unabhängig davon, ob sich das Aufenthaltsrecht des EWR-Bürgers in Österreich auf Art6 (§84 FPG) oder Art7 (§§51 bis 57 NAG) der RL stützt oder ob er sich in Österreich aufhält, ohne die Voraussetzungen für einen Aufenthalt für mehr als drei Monate zu erfüllen.

2.6. Auf Grund der vorzunehmenden richtlinienkonformen Interpretation (vgl. III. 2.5.) erweisen sich die Bedenken des UVS Wien als unzutreffend. Bei der Verhängung eines Aufenthaltsverbotes wird nämlich zwischen nicht aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern und Familienangehörigen von in Österreich aufhältigen EWR-Bürgern tatsächlich nicht unterschieden, weil §86 Abs1 FPG sowohl auf Familienangehörige von in Österreich aufhältigen EWR-Bürgern als auch auf die in Österreich aufhältigen EWR-Bürger selbst anzuwenden ist. Die vom UVS Wien zur Begründung seines Antrages ins Treffen geführte Ungleichbehandlung besteht somit nicht.

IV. Ergebnis und damit zusammenhängende Erwägungen

1. Der Antrag ist daher als unbegründet abzuweisen.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte