VfGH G27/82

VfGHG27/822.10.1982

UStG 1972; §6 Z10 wird nicht als verfassungswidrig aufgehoben

Normen

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
UStG 1972 §6 Z10
B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
UStG 1972 §6 Z10

 

Spruch:

§6 Z10 des Umsatzsteuergesetzes 1972, BGBl. 223, wird nicht als verfassungswidrig aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Beim VfGH ist zu Z B220/81 das Verfahren über eine auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde anhängig, die sich gegen den im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Finanzlandesdirektion für Wien, NÖ und Bgld. vom 2. März 1981 wendet. Mit diesem Bescheid wurde dem Beschwerdeführer - einem Tabaktrafikanten, der querschnittgelähmt ist - für die Jahre 1977 bis 1979 unter anderem Umsatzsteuer vorgeschrieben. Die Behörde folgte der Meinung des Beschwerdeführers, die in seiner Trafik getätigten Umsätze seien in - analoger - Anwendung des §6 Z10 des Umsatzsteuergesetzes 1972, BGBl. 223 (UStG 1972) steuerfrei, nicht und begründete dies wie folgt:

"Nach §6 Z10 UStG 1972 sind von den unter Abs1 Z1 und 2 fallenden Umsätzen die Umsätze der Blinden steuerfrei, wenn sie nicht mehr als drei sehende Arbeitnehmer beschäftigen und ... Nach ständiger Rechtsprechung des VwGH sind Befreiungsbestimmungen stets eng auszulegen (VwGH vom 30. März 1977, Zl. 1067/76). Darnach ist ein Analogieschluß betreffend die Befreiungsbestimmung des §6 Z10 UStG auf Nichtblinde, die jedoch durch ein Gebrechen den Blinden in der Behinderung in keiner Weise nachstehen, unzulässig. Die Berufung war daher in diesem Punkt als unbegründet abzuweisen."

2. a) Der VfGH hat aus Anlaß dieser Beschwerde beschlossen, gemäß Art140 Abs1 B-VG von Amts wegen die Verfassungsmäßigkeit des §6 Z10 UStG 1972 zu prüfen.

b) Diese Bestimmung hat mit ihrem Einleitungssatz folgenden Wortlaut:

"§6. Von den unter §1 Abs1 Z1 und 2 fallenden Umsätzen sind steuerfrei:

...

10. die Umsätze der Blinden, wenn sie nicht mehr als drei sehende Arbeitnehmer beschäftigen und die Voraussetzungen der Steuerfreiheit durch eine Bescheinigung über den Erhalt der Blindenbeihilfe oder durch eine Bestätigung der zuständigen Bezirksverwaltungsbehörde oder durch den Rentenbescheid oder eine Bestätigung des zuständigen Landesinvalidenamtes nachweisen. Nicht als Arbeitnehmer gelten die Ehefrau, die minderjährigen Abkömmlinge, die Eltern des Blinden und die Lehrlinge. Die Steuerfreiheit gilt nicht für die Umsätze von Gegenständen, die einer Verbrauchsteuer unterliegen, wenn der Blinde Schuldner der Verbrauchsteuer ist;

..."

c) Die belangte Behörde hat bei Erlassung des angefochtenen Bescheides §6 Z10 UStG 1972 angewendet. Der VfGH ist in dem dieses Gesetzesprüfungsverfahren einleitenden Beschluß vorläufig davon ausgegangen, daß auch er bei Entscheidung über die vorliegende - offenbar zulässige - Beschwerde diese Gesetzesbestimmung (würde sie nicht von ihm aufgehoben werden) anzuwenden hätte.

d) Der VfGH hat im Einleitungsbeschluß seine Bedenken, daß §6 Z10 UStG 1972 den auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitsgrundsatz verletze und deshalb verfassungswidrig sei, dahin umschrieben, daß er vorerst keine sachlichen Gründe dafür erkennen könne, weshalb Blinden die Befreiung von der Umsatzsteuer zugestanden wird, anderen Schwerstbehinderten jedoch nicht; oder anders gewendet, warum anderen Schwerstbehinderten die Steuerbegünstigung - um eine solche scheine es sich zu handeln (vgl. VfSlg. 8942/1980) - nicht in gleicher Weise wie Blinden gewährt wird.

3. Die Bundesregierung hat eine Äußerung erstattet, in der sie beantragt, die in Prüfung gezogene Gesetzesbestimmung nicht als verfassungswidrig aufzuheben.

II. Der VfGH hat erwogen:

1. Die vorläufige Annahme des VfGH im Einleitungsbeschluß, daß §6 Z10 UStG 1972 präjudiziell sei (I.2.c), hat sich als zutreffend erwiesen.

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist das Gesetzesprüfungsverfahren zulässig.

2. a) Die in Prüfung gezogene Gesetzesbestimmung erfaßt ihrem klaren Wortlaut und auch ihrer Entstehungsgeschichte nach (s. die folgende litb) ausschließlich Blinde. Es ist ausgeschlossen, sie analog auch auf andere Schwerstbehinderte anzuwenden.

b) Auch die Bundesregierung geht von diesem Inhalt des §6 Z10 UStG 1972 aus. Sie schildert - zutreffend - die Entstehungsgeschichte der Vorschrift wie folgt:

"Diese Bestimmung wurde mit Ausnahme des letzten Satzes aus dem Umsatzsteuergesetz 1959 (§4 Abs1 Z15 UStG 1959) übernommen. Die Regelung im Umsatzsteuergesetz 1959 wieder geht auf das deutsche Umsatzsteuergesetz 1934 bzw. auf die dazu ergangenen Umsatzsteuer-Durchführungsbestimmungen zurück. Die Aufnahme der Steuerbefreiung für blinde Unternehmer in das deutsche Umsatzsteuerrecht erfolgte 1923, und zwar auf Grund einer Entschließung des Reichstages. Diese Begünstigung sollte zunächst nur für Kriegsblinde Geltung haben. Auf Antrag des Reichsdeutschen Blindenverbandes wurden in der Folge auch die Zivilblinden in diese Steuerbegünstigung einbezogen."

c) Diese Entstehungsgeschichte der in Prüfung gezogenen Gesetzesbestimmung tut jedoch nicht dar, daß die Regelung sachlich begründet ist, zumal ein Gesetz jederzeit dem Gleichheitssatz entsprechen muß. Auch wenn das geprüfte Gesetz (oder sein Vorgänger) zum Zeitpunkt der Erlassung sachgerecht gewesen sein mag, ist damit noch nicht nachgewiesen, daß es dies auch im Prüfungszeitpunkt ist.

Ebensowenig überzeugend ist der weitere von der Bundesregierung ins Treffen geführte Umstand, daß Blinden auch auf anderen Rechtsgebieten eine Sonderstellung eingeräumt ist: Soweit diese anderen Regelungen überhaupt mit der in Prüfung gezogenen vergleichbar sind, müßte erst deren Verfassungsmäßigkeit festgestellt werden; solche Untersuchungen sind aber nicht Gegenstand dieses Gesetzesprüfungsverfahrens.

d) Die Bundesregierung weist auch darauf hin, daß eine Auswertung der Umsatzsteuerbegünstigung des §6 Z10 UStG auf andere schwer behinderte Personen mit "enormen Abgrenzungsschwierigkeiten" verbunden wäre. Es wäre legistisch kaum zu bewältigen, den Kreis der Behinderten, der umsatzsteuerrechtlich den Blinden gleichzustellen wäre, zu umschreiben. Eine derartige Regelung brächte auch für die Vollziehung große Probleme mit sich.

Obzwar der Bundesregierung darin beizupflichten ist, daß es der Gleichheitsgrundsatz an sich zuläßt, auf die Praktikabilität des Gesetzes Bedacht zu nehmen, ist diese Erlaubnis doch nicht schrankenlos; sie findet ihre Grenze dort, wo anderen Überlegungen, die gegen die Regelung sprechen, größeres Gewicht beizumessen ist als den verwaltungsökonomischen Erwägungen.

e) Eine derartige sachwidrige Interessenabwägung hat hier nicht stattgefunden:

§6 Z10 UStG 1972 ist nicht isoliert zu betrachten; es darf nämlich nicht übersehen werden, daß diese Bestimmung nur für einen kleinen Kreis von Behinderten eine Steuerbegünstigung mit sich bringt und auf die individuellen Verhältnisse der Betroffenen nicht Bedacht nimmt, während andere Rechtsvorschriften (etwa die Behinderten- und Blindengesetze der Länder und das Einkommensteuergesetz) Hilfeleistungen an weite Kreise von Behinderten vorsehen, wobei sie deren jeweilige besondere Situation berücksichtigen.

Die in Prüfung gezogene umsatzsteuergesetzliche Bestimmung begünstigt einen blinden Unternehmer nur unter bestimmten Voraussetzungen, nämlich dann, wenn er keine oder nur in geringem Umfang Vorsteuer abziehen kann, praktisch also dann, wenn er im wesentlichen an Letztverbraucher verkauft und keine relativ aufwendigen Investitionen vornimmt (vgl. hiezu VfSlg. 8942/1980).

Vor diesem Hintergrund ergibt sich folgendes Bild:

Zunächst ist es nicht unsachlich, wenn der Gesetzgeber davon ausgeht, daß - im Gegensatz zu anderen vergleichbaren schwer Körperbehinderten - Blinde verhältnismäßig häufig selbständig erwerbstätig sind, und zwar typischerweise in Kleinbetrieben (mit nicht mehr als drei Arbeitnehmern), bei denen der Absatz an Letztverbraucher die Regel ist; für die Inhaber derartiger Betriebe bedeutet - wie dargetan - die Inanspruchnahme des §6 Abs10 UStG 1972 eine Steuerbegünstigung.

Weiters ist es nicht unsachlich, wenn der Gesetzgeber annimmt, daß ein blinder Kleingewerbetreibender (iS des §6 Abs10 UStG 1972) in der Regel für Tätigkeiten eine Hilfskraft anstellen und entlohnen muß, die ein nicht behinderter Unternehmer selbst besorgen kann. So hat beispielweise ein Trafikant nicht bloß einen Schriftverkehr mit den Finanzbehörden zu pflegen - worauf die Bundesregierung hinweist -, sondern auch umfangreiche andere Aufzeichnungen zu führen, so etwa über die von den Verlagen übernommenen und ihnen in der Folge als unverkauft zurückgegebenen zahlreichen verschiedenen Druckwerke; diese unvermeidliche, zeitaufwendige Arbeit muß ein blinder Trafikant stets einer Hilfskraft übertragen. In derselben Lage befinden sich andere schwer körperbehinderte Unternehmer zwar in vielen Fällen auch, aber doch nicht typischerweise wie die Gruppe der blinden Gewerbetreibenden.

f) Zusammenfassend ist festzuhalten, daß §6 Z10 UStG 1972 zwischen blinden und sonstigen schwer behinderten Umsatzsteuerpflichtigen sachlich differenziert.

3. Die im Einleitungsbeschluß gegen diese Gesetzesbestimmung enthaltenen Bedenken treffen also nicht zu.

§6 Z10 UStG 1972 war daher nicht als verfassungswidrig aufzuheben.

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