VfGH E3529/2023 ua

VfGHE3529/2023 ua4.3.2024

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander betreffend die Abweisung von Anträgen auf internationalen Schutz von Staatsangehörigen der Russischen Föderation mangels Auseinandersetzung mit den Länderinformationen zur Wahrscheinlichkeit der Einberufung von Ärzten mit Spezialausbildung im militärischen Bereich auch wenn kein Einberufungsbefehl vorliegt; hohe Wahrscheinlichkeit der Begehung von Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Mitglied der Russischen Streitkräfte im Krieg in der Ukraine nach den Länderberichten gegeben; Erforderlichkeit der Prüfung der Möglichkeit der Beteiligung an Kriegsverbrechen sowie der individuellen ablehnenden Haltung zum Krieg in der Ukraine im fortgesetzten Verfahren vor dem BVwG

Rechtssatz

Das BVwG setzt sich nicht näher mit der Frage auseinander, ob dem Erstbeschwerdeführer vor dem Hintergrund seiner individuellen Situation als Arzt mit spezieller Ausbildung im militärischen Bereich im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation die Einberufung zu den Streitkräften der Russischen Föderation droht (woraus sich im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine für die Beurteilung des Antrages des Erstbeschwerdeführers auf internationalen Schutz im vorliegenden Fall wesentliche Konsequenzen ergeben können).

Für Ärzte mit spezieller Ausbildung im militärischen Bereich besteht eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, zum Militärdienst bei den Streitkräften der Russischen Föderation einberufen zu werden (ACCORD-Anfragebeantwortung vom 24.04.2023). Diese Anfragebeantwortung betreffend die Einberufung von Ärzten zum Militärdienst bei den Streitkräften der Russischen Föderation wurde vom Erstbeschwerdeführer im Verfahren vor dem BVwG vorgelegt. Sie findet im angefochtenen Erkenntnis jedoch keine Berücksichtigung, obwohl der Erstbeschwerdeführer als Arzt sowohl mit einem Abschluss einer militärmedizinischen Universität als auch mit einer Spezialisierung im Fachgebiet Anästhesie in mehrfacher Hinsicht das Profil eines Arztes erfüllt, für den eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit besteht, zum Militärdienst bei den Streitkräften der Russischen Föderation einberufen zu werden.

Indem das BVwG es somit allein unter Hinweis darauf, dass für den Erstbeschwerdeführer kein Einberufungsbefehl vorliegt, unterlassen hat, sich näher mit der Frage auseinanderzusetzen, ob dem Erstbeschwerdeführer vor dem Hintergrund seiner individuellen Situation als Arzt mit spezieller Ausbildung im militärischen Bereich zumindest mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Einberufung zu den Streitkräften der Russischen Föderation droht, hat es sein Erkenntnis schon in dieser Hinsicht mit Willkür belastet.

 

Bedeutung der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit der Einberufung zum Militärdienst für das fortgesetzte Verfahren des BVwG:

Die (bloße) Furcht vor der Ableistung des Militärdienstes bzw der bei seiner Verweigerung drohenden Bestrafung im Allgemeinen stellt keine asylrechtlich relevante Verfolgung dar, sondern kann nur bei Vorliegen eines Konventionsgrundes Asyl rechtfertigen. Auch die Gefahr einer allen Wehrdienstverweigerern bzw Deserteuren im Herkunftsstaat gleichermaßen drohenden Bestrafung kann asylrechtliche Bedeutung zukommen, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen dieses Verhaltens vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen jede Verhältnismäßigkeit fehlt. Einer Militärdienstverweigerung kommt auch dann Asylrelevanz zu, wenn eine asylwerbende Person Gefahr läuft, im Rahmen der Ableistung des Militärdienstes an der Begehung von Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit mitwirken zu müssen.

Aus Art9 Abs2 lite StatusRL geht hervor, dass "Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Artikels 12 Absatz 2 fallen", als Verfolgung im Sinne des Art1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention gelten. Gemäß Art12 Abs2 lita StatusRL ist ein Drittstaatsangehöriger von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass er "ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen".

Der EuGH hat entschieden (EuGH 26.02.2015, C-472/13, Shepherd), dass Art9 Abs2 lite StatusRL auch Fälle betrifft, in denen der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrende Antragsteller nur mittelbar an der Begehung solcher Verbrechen beteiligt wäre, wenn es bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheint, dass er durch die Ausübung seiner Funktionen eine für die Vorbereitung oder Durchführung der Verbrechen unerlässliche Unterstützung leisten würde. In Zusammenschau mit dem Urteil vom 19.11.2020, C-238/19, EZ, geht aus der Rsp weiter hervor, dass es "[…] allein den staatlichen Behörden [obliegt], unter gerichtlicher Kontrolle zu prüfen, ob die Ableistung des Militärdienstes durch den Antragsteller, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf der Grundlage von Art9 Abs2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95 [/EU] begehrt, diesen zwangsläufig oder zumindest sehr wahrscheinlich veranlassen würde, Verbrechen im Sinne von Art12 Abs2 dieser Richtlinie zu begehen."

In Bezug auf den Krieg in der Ukraine besteht vor dem Hintergrund aktueller Länderberichte eine hohe Wahrscheinlichkeit, als Mitglied der Streitkräfte der Russischen Föderation an der Begehung von Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt zu werden. Aus dem am 16.03.2023 veröffentlichten Bericht der vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen eingesetzten Untersuchungskommission zum Ukraine-Krieg geht hervor, dass im Krieg in der Ukraine insbesondere von den Streitkräften der Russischen Föderation zahlreiche Kriegsverbrechen verübt werden (Report of the Independent International Commission of Inquiry on Ukraine to the Human Rights Council).

Das BVwG wird vor diesem Hintergrund im fortgesetzten Verfahren Feststellungen darüber zu treffen haben, welche Auswirkungen eine Einberufung des Erstbeschwerdeführers zum Militärdienst bei den Streitkräften der Russischen Föderation im Krieg in der Ukraine zur Folge hätte, insbesondere, ob der Erstbeschwerdeführer im Falle seiner Einberufung zum Militärdienst im Krieg in der Ukraine Gefahr liefe, als Arzt mit spezieller Ausbildung im militärischen Bereich unmittelbar oder mittelbar an der Begehung von Kriegsverbrechen oder Menschenrechtsverletzungen beteiligt zu werden.

Auch bei Vorliegen einer Verfolgungshandlung iSd Art9 Abs2 lite StatusRL muss nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Art9 Abs3 StatusRL eine Verknüpfung zwischen den in Art2 litd bzw Art10 StatusRL genannten Verfolgungsgründen und den in Art9 StatusRL genannten Verfolgungshandlungen (oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Verfolgungshandlungen) bestehen. Das Bestehen einer Verknüpfung zwischen den in Art2 litd und Art10 StatusRL genannten Verfolgungsgründen und der Strafverfolgung oder Bestrafung iSv Art9 Abs2 lite StatusRL kann nicht allein deshalb als gegeben angesehen werden, weil Strafverfolgung oder Bestrafung an die Verweigerung des Militärdienstes anknüpfen. Allerdings spricht eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art9 Abs2 lite StatusRL genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art2 litd StatusRL bzw Art10 StatusRL aufgezählten Verfolgungsgründe in Zusammenhang steht (Rsp des EuGH im Kontext des Bürgerkrieges in Syrien). Es ist Sache der zuständigen nationalen Behörden, in Anbetracht sämtlicher von der um Asyl werbenden Person vorgetragenen Anhaltspunkte die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen

 

Das BVwG hat im angefochtenen Erkenntnis die Verknüpfung einer Verfolgungshandlung iSd Art9 Abs2 lite StatusRL mit einem der fünf in Art2 litd StatusRL bzw Art10 StatusRL aufgezählten Verfolgungsgründe verneint, weil der Erstbeschwerdeführer keine grundlegend ablehnende Haltung gegenüber den Streitkräften der Russischen Föderation verinnerlicht habe. Das Vorbringen des Erstbeschwerdeführers zu seiner ablehnenden Haltung zum Krieg in der Ukraine sei unglaubwürdig, weil der Erstbeschwerdeführer bereits sein gesamtes Leben mit den Streitkräften der Russischen Föderation in Verbindung stehe.

Diese Begründung ist jedoch nicht tragfähig, hat der Erstbeschwerdeführer im Verfahren doch nie behauptet, eine generell ablehnende Haltung gegenüber den Streitkräften der Russischen Föderation verinnerlicht zu haben. Vielmehr hat der Erstbeschwerdeführer vorgebracht, Gegner des aktuellen russischen Regimes bzw der aktuellen russischen Regierung zu sein und den Krieg in der Ukraine abzulehnen. Die Schlussfolgerung des BVwG, wonach das Vorbringen des Erstbeschwerdeführers betreffend seine ablehnende Haltung in Bezug auf den Krieg in der Ukraine unglaubwürdig sei, weil der Erstbeschwerdeführer bereits sein gesamtes Leben mit den Streitkräften der Russischen Föderation in Verbindung stehe, ist unschlüssig, weil grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Erstbeschwerdeführer trotz seiner Vergangenheit bei den Streitkräften der Russischen Föderation den Krieg in der Ukraine ablehnt und sich nicht an Kriegsverbrechen beteiligen möchte.

Das BVwG wird sich daher näher mit dem Vorbringen der ablehnenden Haltung in Bezug auf den Krieg in der Ukraine auseinanderzusetzen und in einer Gesamtbetrachtung aller relevanten Umstände die Glaubwürdigkeit dieses Vorbringens zu ermitteln haben.

Asylrecht — Entscheidungsbegründung — Wehrpflicht — EU-Recht Richtlinie — Vorabentscheidung — Ermittlungsverfahren — Rückkehrentscheidung

 

Normen

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §2, §3, §8, §10, §34, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
Statusrichtlinie 2011/95/EU Art2, Art9, Art10, Art12
VfGG §7 Abs1

E3529/2023 uaVfGH04.03.2024

Dokumentnummer

JFR_20240304_23E03529_01

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