Normen
StGG Art8
StPO §177 Abs1 Z1
StPO §177 Abs2
StGG Art8
StPO §177 Abs1 Z1
StPO §177 Abs2
Spruch:
I. Die Bf. ist durch ihre am 3. Oktober 1986 in Wien von einem Organ der Bundespolizeidirektion Wien verfügte Festnahme und anschließende Anhaltung in Haft bis 24 Uhr desselben Tages weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden.
Die Beschwerde wird in diesem Umfang abgewiesen.
II. Hingegen ist die Bf. durch ihre der Bundespolizeidirektion Wien zuzurechnende (weitere) Anhaltung in Haft bis 4. Oktober 1986, 12 Uhr 30, in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.
III. Die Verfahrenskosten werden gegeneinander aufgehoben.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1.1. L S beantragte in ihrer mit Berufung auf Art144 (Abs1) B-VG an den VfGH gerichteten Beschwerde die kostenpflichtige Feststellung, daß sie durch (der Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. zuzurechnende) Amtshandlungen, nämlich ihre polizeiliche Festnahme und Anhaltung in Haft am 3. und 4. Oktober 1986 in Wien, demnach durch Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG iVm Art5 EMRK) verletzt worden sei.
1.1.2. Die - durch die Finanzprokuratur vertretene belangte Bundespolizeidirektion Wien legte die Administrativakten vor und erstattete eine Gegenschrift, worin sie für die Abweisung der Beschwerde als unbegründet eintrat und die Verpflichtung der Bf. zum Ersatz der Verfahrenskosten begehrte.
1.2. Aus den Verwaltungsakten geht hervor, daß (Polizei-)Inspektor H H von der Bundespolizeidirektion Wien die Bf. am 3. Oktober 1986 etwa um 19 Uhr 50 in Wien 2., L-straße, wegen des Verdachtes des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§83, 84 Abs1 iVm Abs2 Z4 StGB aus dem Haftgrund des § 175 Abs1 Z1 StPO aus eigener Machtvollkommenheit festnahm; ferner ergeben die Akten, daß die Festgenommene anschließend in das Wachzimmer Wien 2., Praterstern, und von dort (gegen 21 Uhr 50) in das Bezirkspolizeikommissariat Leopoldstadt überstellt wurde, wo sie sich bis zu ihrer Entlassung um 12 Uhr 30 des nächsten Tages in (Verwaltungs-)Haft befand.
2. Über die Beschwerde wurde erwogen:
2.1.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für die Festnehmung und anschließende Verwahrung einer Person zutrifft (zB VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977).
2.1.2. Demgemäß ist festzuhalten, daß sich die Beschwerde gegen Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt iS des Art144 Abs1 B-VG wendet.
2.1.3. Da hier ein Instanzenzug nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde zulässig.
2.2.1. Auf Grund des vom VfGH durchgeführten Beweisverfahrens - namentlich der Aussagen des unbeteiligten Zeugen H F sowie des Zeugen H H - wurde als erwiesen festgestellt, daß sich die Bf. am 3. Oktober 1986 abends in Wien im Zuge eines polizeilichen Einschreitens gegen ihren Ehemann B F S - das Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Beschwerdesachen AZ B 1010 und 1011/86 bildet - in einer Art und Weise verhielt, die den Umständen nach als gewaltsame Mißhandlung des damals in Ausübung des Dienstes begriffenen Polizeibeamten H H (Schlag/Tritt gegen ein Bein mit Verletzungsspuren) gedeutet und aufgefaßt werden konnte.
2.2.2. Art8 StGG gewährt - ebenso wie Art5 EMRK (s. VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958 ua.):
2.2.2.1. Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, bestimmt in seinem §4, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen. Gesetzliche Bestimmungen iS des §4 leg.cit. sind ua. die §§175 bis 177 StPO.
2.2.2.2. Der VfGH geht in rechtlicher Beurteilung des festgestellten Sachverhaltes (s. Abschnitt 2.2.1.) aus dem Blickwinkel der geltend gemachten Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf persönliche Freiheit davon aus, daß die Bf. im Dienste der Strafjustiz ohne richterlichen Haftbefehl festgenommen und verwahrt wurde. Es ist daher zu prüfen, ob diese Freiheitsbeschränkung damals nach §177 (§10 Z1) StPO iVm §175 StPO zulässig war. Gemäß §177 Abs1 (§10 Z1) StPO darf die vorläufige Verwahrung einer Person, die eines Verbrechens oder eines - nicht den Bezirksgerichten zur Aburteilung zugewiesenen - Vergehens verdächtig ist, in dem hier vom einschreitenden Wachebeamten herangezogenen und damit (s. VfSlg. 5232/1966, 10229/1984, 10526/1987; vgl. auch VfSlg. 9393/1982) allein in Betracht kommenden Fall des Haftgrundes nach §175 Abs1 Z1 StPO - so ua. bei Betretung auf frischer Tat - zum Zweck der Vorführung vor den Untersuchungsrichter ausnahmsweise auch durch Organe der Sicherheitsbehörden ohne schriftliche Anordnung verfügt werden.
Auf dem Boden des festgestellten Sachverhaltes konnte nun jener Wachebeamte, der die Festnahme aussprach, vertretbarerweise annehmen, daß die Bf. ein den Gerichtshöfen erster Instanz zur Aburteilung zugewiesenes Vergehen begangen habe, nämlich das Vergehen der schweren Körperverletzung nach §§83, 84 Abs1 iVm Abs2 Z4 StGB, dessen sich ua. schuldig macht, wer einen Beamten während der Vollziehung seiner Aufgaben am Körper mißhandelt und dadurch fahrlässig verletzt oder an der Gesundheit schädigt. Daran ändert nichts, daß ein später gegen die Bf. beim Landesgericht für Strafsachen Wien zum AZ 7a E Vr 12.928/86 (auch wegen Verdachtes nach §§83, 84 Abs1 iVm Abs2 Z4 StGB) eingeleitetes Strafverfahren gemäß §412 StPO (mit Rücksicht auf die Rückkehr der Beschuldigten nach Großbritannien) abgebrochen und damit noch nicht beendet wurde, weil es hier nicht auf die Richtigkeit des erhobenen Vorwurfs ankommt; es genügt, wenn das amtshandelnde Sicherheitsorgan aus damaliger Sicht - nach Lage des Falles - mit gutem Grund (d.i. vertretbar) der - subjektiven - Auffassung sein durfte, daß die in Rede stehende Tat verübt worden sei.
2.2.2.3. Unter all diesen Bedingungen war die Festnahme der Bf. durch §177 Abs1 Z1 StPO voll gedeckt:
Da diese Amtshandlung auf Grund persönlicher Beobachtungen des einschreitenden (Sicherheitswache-)Beamten an Ort und Stelle stattfand und im engsten zeitlichen Zusammenhang mit der vertretbarerweise bejahten Tat stand, waren die Voraussetzungen für eine Festnehmung (durch Sicherheitsorgane aus Eigenmacht) wegen "Betretung auf frischer Tat" (: Verdacht nach §§83, 84 Abs1 iVm Abs2 Z4 StGB) iS der Bestimmungen der Strafprozeßordnung erfüllt.
2.2.2.4. Nach §177 Abs2 StPO ist jeder von Sicherheitsorganen aus eigener Macht in Verwahrung genommene Verdächtige durch die Sicherheitsbehörde unverzüglich zur Sache und zu den Voraussetzungen der Verwahrungshaft zu vernehmen und, wenn sich dabei ergibt, daß kein Grund zu einer weiteren Verwahrung besteht, sogleich freizulassen, sonst aber binnen 48 Stunden dem zuständigen Gericht einzuliefern.
Diesen gesetzlichen Vorschriften wurde hier nicht entsprochen. Vielmehr kam es zu einer unnötigen, durch die Umstände nicht gerechtfertigten Verzögerung der behördlichen Einvernahme und Entlassung der Festgenommenen aus der (Verwaltungs-)Haft, wie folgende Überlegungen zeigen:
Obwohl das Gesetz die "unverzügliche" sicherheitsbehördliche Vernehmung (des Festgenommenen) gebietet, wurde die Bf. vom Ort der Festnahme nicht zur zuständigen Sicherheitsbehörde (hier: zur Bundespolizeidirektion Wien Bezirkspolizeikommissariat Leopoldstadt), sondern in ein Wachzimmer gebracht, wofür damals kein stichhaltiger Grund bestand. Der - zur Vernehmung verpflichteten - Behörde wurde die Festgenommene nach der Aktenlage um etwa 21 Uhr 50 vorgeführt. Dann erst konnten dort die (vor der Einvernahme erforderlichen) Erhebungen zur Person - im konkreten Fall: ua. die Beischaffung des Reisepasses aus der Wohnung der (keinen Ausweis mit sich tragenden) Bf. - in Gang gesetzt werden. Bei gesetzmäßiger Vorgangsweise wäre die Bf. jedoch bereits um etwa 20 Uhr abends im Polizeikommissariat eingetroffen. Da die Einholung des Reisepasses (nach der unbedenklichen Einlassung der bel. Beh. in der Gegenschrift (S 7)) etwa eineinviertel Stunden dauerte und während dieser Zeit alle sonst notwendigen Personserhebungen ("Priorierung") unter den konkreten Umständen durchaus möglich gewesen wären, hätte die Bf. bei Beobachtung der in Haftsachen gebotenen und unerläßlichen Schnelligkeit - nach Beschaffenheit dieses in einer Großstadt spielenden Falles - bis spätestens Mitternacht (behördlich) einvernommen und danach - da (ersichtlich) kein Grund zu weiterer Verwahrung bestand sogleich aus der Haft entlassen werden müssen. Es war demnach gesetz- und verfassungswidrig, ihre Enthaftung viele Stunden über diesen Zeitpunkt, und zwar bis 12 Uhr 30 des nächsten Tages hinauszuzögern (VfSlg. 8816/1980, 10448/1985; vgl. auch VfSlg. 7081/1973).
Der Einwand der bel. Beh., daß der zur Vernehmung der Bf. berufene Konzeptsbeamte des in Wien eingerichteten Zentraljournaldienstes bei seinem Dienstantritt am Samstag, dem 4. Oktober 1986, 8 Uhr, mit Arbeit überhäuft gewesen sei, geht jedenfalls ins Leere, weil die Amtshandlung nach dem Gesagten zu diesem Zeitpunkt schon seit etwa acht Stunden hätte beendet sein sollen und eine Überlastung des in den Abendstunden zur Vernehmung zuständigen Beamten gar nicht behauptet wurde. Dies ganz abgesehen davon, daß es jedenfalls zu Lasten der bel. Beh. ginge, wenn es im Bereich der Bundespolizeidirektion Wien an den zur Sicherung einer unverzögerten Behandlung von Haftsachen auch an Wochenenden unerläßlichen organisatorischen und personellen Maßnahmen gefehlt hätte.
2.2.2.5. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die Bf. im Grundrecht auf persönliche Freiheit zwar nicht durch ihre Festnahme und Verwahrung bis etwa 24 Uhr des 3. Oktober 1986, wohl aber durch ihre (weitere) Anhaltung bis 12 Uhr 30 des nächsten Tages verletzt wurde (Punkte I. und II. des Spruchs).
Demgemäß mußte spruchgemäß entschieden werden.
2.3. Die Kostenentscheidung (Punkt III. des Spruchs) beruht auf §88 VerfGG 1953 iVm §43 Abs1 ZPO.
2.4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöfentlicher Sitzung ergehen.
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