Normen
B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
StGG Art9
HausRSchG §1
ÜG 1929 ArtII §4 Abs2
EMRK Art8
B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
StGG Art9
HausRSchG §1
ÜG 1929 ArtII §4 Abs2
EMRK Art8
Spruch:
Der Bf. ist dadurch, daß Organe der Bundespolizeidirektion Wien am 30. August 1986 gewaltsam in seine Wohnung eingedrungen sind, in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht nach Art8 MRK verletzt worden.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Bf., zu Handen des Beschwerdevertreters die mit S 11.000,-bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Der Bf. begehrt in seiner unter Berufung auf Art144 B-VG an den VfGH erhobenen Beschwerde die kostenpflichtige Feststellung, daß er dadurch, daß am 30. August 1986 Organe der Bundespolizeidirektion (BPD) Wien gewaltsam in seine Wohnung in Wien ..., eindrangen und dort eine Hausdurchsuchung durchführten, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Hausrecht verletzt worden sei.
2. Die - durch die Finanzprokuratur vertretene - BPD Wien legte als bel. Beh. den Administrativakt vor und stellte in der Gegenschrift den Antrag, die Beschwerde kostenpflichtig abzuweisen.
II. 1. Der VfGH stellt aufgrund des vorgelegten Verwaltungsaktes und des Vorbringens beider Parteien folgenden - hier maßgebenden - Sachverhalt fest:
Am 30. August 1986 um 20,20 Uhr erstattete der Lenker eines Kleinmotorrades bei der BPD Wien die Anzeige, daß sein Fahrzeug von einem PKW gestreift worden sei, wodurch er zu Sturz gekommen sei; er und seine Beifahrerin seien leicht verletzt worden. Der PKW habe kurz angehalten; sein Lenker sei aber gleich darauf, ohne sich um das Unfallgeschehen zu kümmern, weitergefahren.
Da den Polizeiorganen das Kennzeichnen des PKW bekanntgegeben wurde, konnte kurz darauf dessen Zulassungsbesitzer (es ist dies der Beschwerdeführer) eruiert werden. Zwei Sicherheitswachebeamte (SWB) erhielten den Auftrag, dessen Wohnung (...) aufzusuchen, um den Lenker des PKW zu erheben.
Als trotz mehrfacher Aufforderungen und heftigen Klopfens die Wohnungstüre nicht geöffnet wurde, ließen die SWB durch Feuerwehrorgane um etwa 21,30 Uhr die Wohnungstür gewaltsam öffnen; die SWB behaupten, sie hätten einen Unfall befürchtet. (Näheres s.u. III.3.b.aa).
Nachdem die Wohnungstüre geöffnet worden war, trat den Beamten aus einem Zimmer ein Mann, nämlich der Bf., entgegen. Nachdem er identifiziert, zum Unfall befragt und einem Alcotest unterzogen worden war, entfernten sich die Beamten, ohne in der Wohnung nach Personen oder Sachen gesucht zu haben.
2. Die Geschehnisse werden von den Parteien in hier wesentlichen Belangen übereinstimmend geschildert; diese Schilderungen decken sich mit dem Inhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes. Es konnte daher von der Aufnahme weiterer Beweise Abstand genommen werden.
Eine Divergenz besteht lediglich darin, daß in der Beschwerde behauptet wird, die SWB hätten in der Wohnung nach dem Bf. gesucht. Diese Behauptung ist nicht erwiesen. Dem VfGH erscheinen in diesem Zusammenhang die eigenen (niederschriftlichen) Angaben des Bf. vom 15. September 1986 vor der BPD Wien, Bezirkspolizeikommissariat Josefstadt bedeutsam:
"..... Das Rufen 'Polizei, öffnen Sie!' habe ich nicht
gehört. Auch die Feuerwehr ....... habe ich nicht gehört. Erst
als schließlich die Feuer(wehr)männer mittels Trennscheibe unsere Eingangstüre aus Stahl aufgeschnitten haben, erst dann habe ich die Wohnungstüre geöffnet."
Die Behauptung in der Beschwerdeschrift, die Beamten hätten in der Wohnung nach dem Bf. gesucht, ist damit widerlegt. Von einem "Suchen" nach ihm kann nicht gesprochen werden, da er den SWB ohnehin sofort aus eigenem entgegentrat. Für die Beamten bestand keinerlei Veranlassung, in der Wohnung nach anderen Personen oder nach Sachen zu suchen.
III. Der VfGH hat erwogen:
1. Der Bf. bekämpft das gewaltsame Eindringen von Polizeiorganen in seine Wohnung. Diese Maßnahme ist ein in Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt ergangener Verwaltungsakt, der nach Art144 Abs1 zweiter Satz B-VG beim VfGH bekämpfbar ist (vgl. zB VfSlg. 10272/1984).
Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde zulässig.
2.a) Unter Unverletzlichkeit des Hausrechts iS des vom Bf. relevierten Grundrechts des Art9 StGG ist (nur) der Schutz gegen willkürliche Hausdurchsuchungen zu verstehen.
Als "Hausdurchsuchung" definiert §1 HausrechtsG, RGBl. 88/1862, eine "Durchsuchung der Wohnung oder sonstiger zum Hauswesen gehöriger Räumlichkeiten". Nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH ist für das Wesen einer Hausdurchsuchung charakteristisch, daß nach Personen oder Sachen, von denen unbekannt ist, wo sie sich befinden, gesucht wird. Ein bloßes Betreten einer Wohnung, etwa um zu sehen, von wem sie bewohnt wird oder zur Feststellung der Räume nach Größe, Zahl und Beschaffenheit ist nicht als Hausdurchsuchung zu beurteilen (siehe VfSlg. 10272/1984 und die dort zitierte weitere Vorjudikatur).
b) Die einschreitenden SWB konnten unter den gegebenen Umständen (s.u. III.3.b) mit Sicherheit annehmen, daß sich der Bf. in seiner Wohnung aufhalte.
Nach dem (gewaltsamen) Öffnen der Wohnungstüre suchten die Beamten weder nach Personen noch nach Sachen (s.o. II.).
Da also keine "Suche", wie sie nach der ständigen Judikatur des VfGH für eine Hausdurchsuchung unerläßlich ist, stattfand, kann eine Verletzung des Art9 StGG keinesfalls vorliegen.
3.a) Jedoch greift das Grundrecht nach Art8 MRK - jedenfalls im hier allein maßgebenden Zusammenhang - über den Schutzbereich des Art9 StGG hinaus, indem es unabhängig von den Bedingungen einer behördlichen Hausdurchsuchung "jedermann .... (den) Anspruch auf Achtung ..... seiner Wohnung (des Hausrechts s. VfSlg. 8461/1978) ...." gewährleistet (Abs1 des Art8 MRK) und den "Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts" nur unter taxativ umschriebenen Voraussetzungen gestattet (Abs2 des Art8 MRK). So muß ein derartiger Eingriff zum ersten gesetzlich vorgesehen sein und zum zweiten eine Maßnahme darstellen,
"die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist."
b) Eine gesetzliche Grundlage für den hier beschwerdeverfangenen Eingriff schon iS der ersten Voraussetzung des Art8 Abs2 MRK besteht aber nicht:
aa) Im Bericht der Sicherheitsorgane hatte es, anscheinend im Blick auf ArtII §4 Abs2 V-ÜG 1929, BGBl. 393, geheißen, zur Zeit des angefochtenen Verwaltungsaktes sei die Gefahr eines Unfalles (in der Wohnung) zu befürchten gewesen.
In der "Verkehrsunfallsanzeige" des Wachzimmers Blindengasse vom 30. August 1986 wird hiezu ausgeführt:
"Von der Funkstelle/ID wurde eine Sofortfahndung nach dem Pkw des Bet. 1 durchgegeben und der Stkw A/1 nach Wien (Wohnadresse des Fahrzeughalters) entsandt. Von der Besatzung des A/1, Insp. G DNr. ... und Insp. E DNr. ... wurde folgendes wahrgenommen: Vorerst brannte in der Wohnung Licht. Als sie klopften erlosch das Licht und es konnte deutlich das Schreien eines Kleinkindes vernommen werden. Als die Türe auch nach weiterem heftigen Klopfen und durch lautes Rufen `Polizei, öffnen sie` nicht geöffnet wurde, wurde nach Rücksprache mit ZJ Koär E, von diesem angeordnet, daß auf Grund des vorliegenden Sachverhaltes ein Unfall in der Wohnung zu befürchten sei. Daraufhin wurde von der Besatzung des A/1 die Feuerwehr zwecks Wohnungsöffnung angefordert. In weiterer Folge traf auch ich, ML und Fahrer Insp. M Z mit dem Stkw H/1 in der ... ein. Weiters war noch Sekteor 1 anwesend. Gleichzeitig traf auch die Feuerwehr Zentrale BR P ein. Von der Feuerwehr wurde auch noch versucht von einem gegenüber der Wohnung hofseitig liegenden Balkon mittels Megaphon die in der Wohnung Anwesenden anzusprechen und mittels Scheinwerfer in die Wohnung geleuchtet. Trotz dieser Versuche und trotz heftigsten Klopfens wurde die Wohnungstüre nicht geöffnet. Schließlich wurde sie von der Feuerwehr mittels Trennscheibe, da es sich um eine Stahltür handelte, geöffnet. Die Tür wurde dabei stark beschädigt. Bei der Nachschau in der Wohnung kam uns der Bet. 1 mit einem Pyjama bekleidet entgegen ......"
Die bel. Beh. hielt die Behauptung der Unfallsgefahr in der Gegenschrift aufrecht. Sie begründete dies damit, es sei schon mehrmals vorgekommen, daß Kraftfahrzeuglenker, die einen Verkehrsunfall verursacht und anschließend Fahrerflucht begangen hatten, bzw. bei denen sich der Verdacht der Alkoholbeeinträchtigung hätte ergeben können, diesen Verkehrsunfall als Motiv für suizidäres Handeln genommen hätten.
bb) Nach dem in der Wachemeldung geschilderten Sachverhalt konnten die SWB nicht ernstlich eine konkrete Gefahr für die Sicherheit der Wohnungsbenützer annehmen; vielmehr konnten sie (nur) darauf schließen, daß sich in der Wohnung tatsächlich die der Fahrerflucht verdächtige Person aufhalte, die sich offenbar vor den nachforschenden Polizeiorganen verbergen wollte. Das Ziel der SWB war von Anfang an offenkundig, mit dieser Person in Kontakt zu kommen; um es zu erreichen, schien ihnen das Eindringen in die Wohnung erforderlich, sodaß sich die Angaben, es sei eine Gefahr für die Wohnungsbenützer zu vermuten gewesen, als bloße Schutzbehauptung herausstellt.
Auch die in der Gegenschrift verwendeten Argumente allein - ohne Hinzutreten weiterer konkreter Hinweise auf das Vorliegen einer Gefahr iS des VÜG 1929 - reichen jedenfalls für die Begründung eines derart schwerwiegenden Eingriffs in die Privatsphäre nicht hin.
Schon deshalb scheidet ArtII §4 Abs2 V-ÜG 1929 als Rechtsgrundlage des hier bekämpften Verwaltungsaktes von vornherein aus.
cc) Eine andere gesetzliche Bestimmung, die das Vorgehen der SWB decken würde, gibt es - auch nach den Behauptungen der bel. Beh. - nicht.
c) Es ist also festzuhalten, daß der Bf. als Wohnungsberechtigter durch den bekämpften, nach Art und Zweckbestimmung sein Hausrecht mißachtenden behördlichen Zwangsakt, nämlich das gewaltsame Eindringen in seine versperrte Wohnung gegen seinen erkennbaren Willen im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht nach Art8 MRK verletzt wurde (vgl. dazu die ähnliche Fälle betreffenden Erk. VfSlg. 10272/1984 sowie VfGH 29.9.1985 B643/82).
Aus diesen Erwägungen war spruchgemäß zu erkennen.
4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG.
In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von S 1.000,-- enthalten.
IV. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
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