B-VG Art144 Abs1 / Anlassfall
Spruch:
Die beschwerdeführende Partei ist durch die angefochtenen Bescheide wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung in ihren Rechten verletzt worden.
Die Bescheide werden aufgehoben.
Die Landeshauptstadt Graz ist schuldig, der beschwerdeführenden Partei zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 6.840,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Mit sechsundzwanzig im Instanzenzug ergangenen Bescheiden der Berufungskommission der Landeshauptstadt Graz (jeweils) vom 26. März 2008 wurden die gemäß §9 Abs3 des Steiermärkischen Abfallwirtschaftsgesetzes 2004 (StAWG 2004) iVm §6 Abs10 der Verordnung des Gemeinderates der Landeshauptstadt Graz vom 16. November 2006, mit der eine Abfuhrordnung erlassen wird (Grazer AbfO 2006), gestellten Anträge der beschwerdeführenden Partei um Reduzierung der bereitgestellten Behältervolumen und/oder der Anzahl der Entleerungen pro Woche gemäß §§6 Abs1 und 9 Abs1 StAWG 2004 abgewiesen. Da das Eigentum an Abfällen gemäß §11 Abs1 Grazer AbfO 2006 (bereits) mit dem Einbringen in ein Sammelbehältnis der öffentlichen Müllabfuhr auf den Abfallwirtschaftsverband der Landeshauptstadt Graz übergehe, könne die seitens der beschwerdeführenden Partei eigenmächtig und verordnungswidrig veranlasste "Nachsortierung" zu keiner Änderung des Behältervolumens und/oder der Abfuhrintervalle führen.
2. Gegen diese (sechsundzwanzig) Bescheide richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in Rechten wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnungsbestimmung, nämlich des §11 Abs1 Grazer AbfO 2006, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Bescheide begehrt wird.
3. Die belangte Behörde erstattete eine Gegenschrift, in der sie den Beschwerdebehauptungen entgegentritt und die Abweisung der Beschwerde sowie den "Ersatz der normalmäßigen Kosten (Schriftsatz und Vorlageaufwand)" beantragt.
4. Die beschwerdeführende Partei replizierte.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 17. Juni 2009, V6-10/09, die Bestimmung des §11 Abs1, die Wortfolge "nach den Abs1 und 2" im §11 Abs3 und die Wortfolge "nach Abs1 und 2" im §11 Abs4 der Verordnung des Gemeinderates der Landeshauptstadt Graz vom 16. November 2006, mit der eine Abfuhrordnung erlassen wird (Grazer AbfO 2006), kundgemacht im Amtsblatt der Landeshauptstadt Graz Nr. 11 vom 29. November 2006, als gesetzwidrig aufgehoben.
2. Gemäß Art139 Abs6 B-VG wirkt die Aufhebung einer Verordnung auf den Anlassfall zurück. Es ist daher hinsichtlich des Anlassfalles so vorzugehen, als ob die als gesetzwidrig erkannte Norm bereits zum Zeitpunkt der Verwirklichung des dem Bescheid zugrunde liegenden Tatbestandes nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte.
Dem in Art139 Abs6 B-VG genannten Anlassfall (im engeren Sinn), anlässlich dessen das Verordnungsprüfungsverfahren tatsächlich eingeleitet worden ist, sind all jene Beschwerdefälle gleichzuhalten, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Verordnungsprüfungsverfahren (bei Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung) beim Verfassungsgerichtshof bereits anhängig waren (VfSlg. 10.616/1985, 10.736/1985, 10.954/1986); darüber hinaus muss der das (jeweilige) Verwaltungsverfahren einleitende Antrag vor Bekanntmachung des dem unter Pkt. II.1. genannten Erkenntnis zugrunde liegenden Prüfungsbeschlusses des Verfassungsgerichtshofes gestellt worden sein (VfSlg. 17.687/2005).
3. Die nichtöffentliche Beratung im Verordnungsprüfungsverfahren begann am 17. Juni 2009; der dieses Verordnungsprüfungsverfahren einleitende Beschluss wurde am 15. Jänner 2009 bekannt gemacht. Die vorliegende Beschwerde ist beim Verfassungsgerichtshof am 9. Mai 2008 eingelangt, war also zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung schon anhängig; da die ihr zugrunde liegenden, die einzelnen Verwaltungsverfahren auslösenden Anträge ausweislich der Verwaltungsakten auch vor Bekanntgabe des Prüfungsbeschlusses gestellt worden sind, sind die ihr zugrunde liegenden Fälle somit einem Anlassfall gleichzuhalten.
Die belangte Behörde wendete bei Erlassung der angefochtenen Bescheide die als gesetzwidrig aufgehobene Verordnungsbestimmung des §11 Abs1 Grazer AbfO 2006 an. Es ist nach Lage des Falles offenkundig, dass diese Verordnungsanwendung für die Rechtsstellung der beschwerdeführenden Partei nachteilig war. Die beschwerdeführende Partei wurde somit wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung in ihren Rechten verletzt.
Die Bescheide waren daher aufzuheben.
III. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde gemäß §19 Abs4 Z3 VfGG abgesehen.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VfGG. In den der beschwerdeführenden Partei zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 360,- sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 4.680,- enthalten. Kosten an die belangte Behörde als Ersatz des Vorlage- und Schriftsatzaufwands sind nicht zuzusprechen, weil dies im VfGG nicht vorgesehen ist und eine sinngemäße Anwendung des §48 Abs2 VwGG im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof nicht in Betracht kommt (zB VfSlg. 15.727/2000, 16.080/2001, 18.277/2007).
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