B-VG Art144 Abs1 / Anlaßfall
Spruch:
Die Beschwerdeführer sind durch den angefochtenen Bescheid wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Das Land Niederösterreich ist schuldig, den Beschwerdeführern zu Handen ihres Rechtsvertreters die mit € 2.143,68 bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1.1. Die Beschwerdeführer sind gemeinsam Eigentümer einer Liegenschaft im Gebiet der Marktgemeinde Arbesbach. Mit Bescheid vom 9. April 1999 trug ihnen der Bürgermeister den Anschluß ihrer Liegenschaft an den Schmutzwasserkanal auf.
Mit Bescheid vom 8. Oktober 1999 (ausgefertigt unter dem Datum des 12. Oktober 1999) wies der Gemeinderat eine gegen diesen Bescheid gerichtete Berufung der Beschwerdeführer ab.
1.2. Dagegen erhoben die Beschwerdeführer eine Vorstellung an die Niederösterreichische Landesregierung, die mit Bescheid vom 21. März 1999 abgewiesen wurde. Begründend berief sich die Landesregierung auf §62 Abs2 der Niederösterreichischen Bauordnung 1996 (in der Folge: NÖ BauO 1996).
2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz und auf Unverletzlichkeit des Eigentums sowie die Verletzung in Rechten durch Anwendung verfassungswidriger Gesetze behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.
3. Die belangte Behörde hat die Akten des Verwaltungsverfahrens vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie für die Abweisung der Beschwerde eintritt.
Die Marktgemeinde Arbesbach hat keine Äußerung erstattet.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:
1. Der erstinstanzliche Bescheid stammt vom 9. April 1999; zu diesem Zeitpunkt war also ein Verfahren nach §62 Abs2 NÖ BauO 1996 vor einer Gemeindebehörde anhängig. Diese Bestimmung wurde durch die 1. Novelle zur NÖ BauO 1996 neu gefaßt; die Novelle wurde am 16. September 1999 im Landesgesetzblatt kundgemacht und trat daher gemäß §9 NÖ VerlautbarungsG, LGBl. 0700-2, nach Ablauf dieses Tages in Kraft. Gemäß ArtII der 1. Novelle zur NÖ BauO 1996 sind aber im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes bei Gemeindebehörden anhängige Verfahren nach der bisherigen Rechtslage zu Ende zu führen.
Der Gemeinderat und die belangte Behörde hatten daher §62 Abs2 NÖ BauO in der Stammfassung anzuwenden. Die Bescheide nehmen dazu nicht ausdrücklich Stellung; nichts spricht jedoch dagegen, daß diese Behörden zutreffenderweise die Stammfassung des §62 Abs2 NÖ BauO 1996 angewandt haben.
2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 12. Juni 2002, G 322,360,361/01, ausgesprochen, daß §62 Abs2 erster und zweiter Satz der NÖ BauO 1996 in der Stammfassung verfassungswidrig war.
2.2. Gemäß Art140 Abs7 B-VG wirkt die Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes auf den Anlaßfall zurück. Es ist daher hinsichtlich des Anlaßfalles so vorzugehen, als ob die als verfassungswidrig erkannte Norm bereits zum Zeitpunkt der Verwirklichung des dem Bescheid zugrundegelegten Tatbestandes nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte.
Dem in Art140 Abs7 B-VG genannten Anlaßfall (im engeren Sinn), anläßlich dessen das Gesetzesprüfungsverfahren tatsächlich eingeleitet worden ist, sind all jene Beschwerdefälle gleichzuhalten, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Gesetzesprüfungsverfahren (bei Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung) beim Verfassungsgerichtshof bereits anhängig waren (VfSlg. 10616/1985, 11711/1988).
2.3. Die nichtöffentliche Beratung im Gesetzesprüfungsverfahren begann am 5. März 2002. Die vorliegende Beschwerde ist beim Verfassungsgerichtshof am 10. Mai 2000 eingelangt, war also zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung schon anhängig. Der Fall ist somit einem Anlaßfall gleichzuhalten.
Die belangte Behörde wandte bei Erlassung des angefochtenen Bescheides die als verfassungswidrig erkannte Gesetzesbestimmung an. Es ist nach Lage des Falles offenkundig, daß diese Gesetzesanwendung für die Rechtsstellung der Beschwerdeführer nachteilig war. Die Beschwerdeführer wurden somit wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt.
Der Bescheid ist daher aufzuheben.
3. Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde zu berücksichtigen haben, daß der Verfassungsgerichtshof mit dem Erkenntnis vom 12. Juni 2002, G 322,360,361/01, auch §62 Abs2 erster und zweiter Satz der NÖ BauO 1996 idF der 1. Novelle als verfassungswidrig aufgehoben und daß er die Wirkung dieser Aufhebung auch auf das vorliegende Verfahren erstreckt hat.
4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 327,- sowie der Ersatz der entrichteten Gebühr gemäß §17a VfGG von € 181,68 enthalten.
5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 Z3 VfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.
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