VfGH B306/82

VfGHB306/8224.2.1984

Art8 StGG; Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; Festnahme aufgrund einer schriftlichen Festnahmeanordnung gemäß §85 Abs1 Finanzstrafgesetz - nicht unmittelbar als Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt anfechtbar; Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit durch länger als 48 Stunden andauernde Verwahrung

Normen

B-VGNov 1975
B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
StGG Art8
FinStrG §54 Abs1
FinStrG §85 Abs1
FinStrG §85 Abs3
FinStrG §91
PersFrSchG §4
VfGG §88
B-VGNov 1975
B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
StGG Art8
FinStrG §54 Abs1
FinStrG §85 Abs1
FinStrG §85 Abs3
FinStrG §91
PersFrSchG §4
VfGG §88

 

Spruch:

A) Die Beschwerde wird teilweise, und zwar insoweit zurückgewiesen,

als sie sich gegen die vom Vorstand des Finanzamtes für den I. Bezirk in Wien verfügte Festnahme des Bf. am 29. April 1982 richtet.

B) I. Der Bf. ist dadurch, daß er nach seiner Festnahme aufgrund der Festnahmeanordnung des Vorstandes des Finanzamtes für den I. Bezirk in Wien vom 29. April 1982 bis 1. Mai 1982, 16.10 Uhr, in finanzbehördlicher Haft gehalten wurde, weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.

In diesem Umfang wird die Beschwerde abgewiesen.

II. Hingegen ist der Bf. dadurch, daß er vom Finanzamt für den I. Bezirk in Wien auch nach dem 1. Mai 1982, 16.10 Uhr, bis 4. Mai 1982 in Haft gehalten wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

Begründung

Begründung

1.1.1. Unter Berufung auf §85 Abs1 FinStrG erließ der Vorstand des Finanzamtes für den 1. Bezirk in Wien als Finanzstrafbehörde erster Instanz am 29. April 1982 zur Straflisten-Nr. 59/82 gegen M B M eine mit folgender Begründung versehene schriftliche Festnahmeanordnung:

"Es besteht der Verdacht, daß Sie im Bereiche dieses Finanzamtes mit Wissen und Willen, also vorsätzlich unter Verletzung abgabenrechtlicher Anzeige-, Offenlegungs- und Wahrheitspflichten, nämlich durch Nichteinbringung von Abgabenerklärungen bewirkt bzw. zu bewirken versucht haben, daß Umsatz-, Einkommen-, Gewerbesteuer und Vermögenssteuer für die Jahre 1976 bis 1980 in noch festzustellender Höhe nicht, also verkürzt, festgesetzt wurden bzw. würden und daß Sie hiedurch Finanzvergehen iS der §§33 Abs1 und 2 lita bzw. 33 Abs1 iVm. 14 FinStrG begangen haben ...

Von den im §85 Abs1 FinStrG für eine Festnahme geforderten Voraussetzungen liegen Flucht-, Verabredungs- und Verdunkelungsgefahr aus nachstehenden Gründen vor:

Es besteht der begründete Verdacht, daß Sie wegen der Größe der bevorstehenden Strafe flüchten oder sich verborgen halten, andere an der Tat Beteiligte, Zeugen oder Sachverständige beeinflussen, die Spuren der Tat zu beseitigen oder sonst die Ermittlung der Wahrheit zu erschweren versuchen werden. ..."

M B M wurde daraufhin in Vollziehung dieser Anordnung am 29. April 1982, 16.10 Uhr von finanzbehördlichen Organen festgenommen und in das Polizeigefangenenhaus in 1090 Wien eingeliefert.

1.1.2. Am folgenden Tag, dem 30. April 1982, zeigte die Finanzstrafbehörde - weil sie fand, daß für die Durchführung des Finanzstrafverfahrens das Gericht zuständig sei - M B M gemäß §54 Abs1 FinStrG ua. wegen des Finanzvergehens nach §33 Abs1 und 2 lita FinStrG bei der Staatsanwaltschaft Wien an; sie beantragte zugleich zwar die "Übernahme des in Verwahrungshaft befindlichen Verdächtigen in gerichtliche Verwahrung", beließ ihn aber tatsächlich weiterhin in Verwaltungshaft.

Noch am selben Tag erließ der Untersuchungsrichter des Landesgerichtes für Strafsachen Wien gegen M B M - auf Antrag der Staatsanwaltschaft - zum dg. AZ 24 d Vr 4869/82 einen Haftbefehl (§175 Abs1 Z2 und 3 StPO).

Der Beschuldigte wurde im weiteren Verlauf am 3. Mai 1982 dem Untersuchungsrichter aus der finanzbehördlichen Haft zur Vernehmung vorgeführt, anschließend jedoch wieder von Organen der Finanzstrafbehörde in das Polizeigefangenenhaus zurückgebracht und erst am 4. Mai 1982 auf Aufforderung des Staatsanwaltes - kraft Verfügung des Finanzamtes für den I. Bezirk in Wien - in das gerichtliche Gefangenenhaus überstellt.

1.2.1. M B M begehrte in seiner auf Art144 Abs1 B-VG gestützten Beschwerde an den VfGH die kostenpflichtige Feststellung, daß er durch die geschilderte, dem Finanzamt für den I. Bezirk in Wien als bel. Beh. zuzurechnende Amtshandlung vom 29. April 1982, und zwar durch seine Festnahme, ferner durch seine Anhaltung in finanzbehördlicher Haft (auch noch nach Ausstellung eines gerichtlichen Haftbefehls), demnach durch Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG) verletzt worden sei.

1.2.2. Das Finanzamt für den I. Bezirk in Wien als bel. Beh. erstattete - unter Vorlage der Administrativakten - eine Gegenschrift und beantragte darin die Abweisung der Beschwerde.

2. Über die Beschwerde wurde erwogen:

2.1.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBL. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975 BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem) Inhalt bekämpfbar waren, wie dies für die Festnahme einer Person im verwaltungsbehördlichen Finanzstrafverfahren zutrifft, die nicht aufgrund eines - sie anordnenden - verwaltungsbehördlichen Bescheides stattfand.

Der VfGH nimmt den Rechtsstandpunkt ein, daß eine schriftliche Festnahmeanordnung gemäß §85 Abs1 FinStrG gleich einem schriftlichen Hausdurchsuchungsbefehl nach §93 Abs1 FinStrG - weil die Rechtslage des Betroffenen der Finanzbehörde gegenüber jeweils bindend gestaltend - als solcher Bescheid anzusehen ist (s. auch VfSlg. 7067/1973, 9346/1982).

Die bekämpfte Festnahme vom 29. April 1982 unterläge also nur dann einer selbständigen Anfechtung vor dem VfGH, wenn sie nicht durch einen bescheidmäßig ergangenen Festnahmebefehl gedeckt gewesen wäre.

Diese Rechtsansicht entspricht der hier sinngemäß anwendbaren ständigen Judikatur des VfGH über die Unzulässigkeit einer Beschwerde nach Art144 Abs1 B-VG gegen jene Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmen, die von Verwaltungsbehörden (oder ihren Hilfsorganen) aufgrund eines richterlichen Befehls durchgeführt werden (vgl. zB VfSlg. 5012/1965, 6815/1972, 6829/1972, 7203/1973, 8248/1978 und 9269/1981). Sie steht aber auch im Einklang mit der in wiederholten Erk. vertretenen Rechtsanschauung des VfGH, daß eine mit verwaltungsbehördlichem Bescheid verfügte Beschlagnahme nicht unmittelbar Gegenstand einer Beschwerdeführung nach Art144 Abs1 B-VG sein kann (s. zB. VfSlg. 2450/1952, 3848/1960, 4947/1965, 5720/1968). Die allerdings im Erk. VfSlg 3592/1952 und, ihm folgend, auch im Erk. VfSlg. 7067/1973 zum Ausdruck kommende abweichende Meinung, die Erlassung und der Vollzug eines Hausdurchsuchungsbefehls nach §93 Abs1 FinStrG bilde keinen einheitlichen normativen Akt, hielt der VfGH - soweit der Inhalt der Vollzugsmaßnahmen bereits durch den bescheimäßigen Befehl bindend bestimmt ist - angesichts seiner eingangs zitierten Rechtsprechung nicht länger aufrecht (s. auch VfSlg. 2019/1950, 9099/1981, 9346/1982, VfGH 25. Feber 1983 B439/82).

2.1.2. Demgemäß erweist sich, daß der in Beschwerde gezogene Verwaltungsakt (die Festnahme) vom 29. April 1982, der seine rechtliche Grundlage zur Gänze in dem vom Finanzamt für den I. Bezirk in Wien an diesem Tag gemäß §85 Abs1 FinStrG - (bescheidmäßig) gegen den namentlich bezeichneten Bf. - erlassenen Festnahmebefehl hatte, iS der unter 2.1.1. vertretenen Rechtsmeinung beim VfGH nicht unmittelbar anfechtbar ist, weshalb die auf Art144 Abs1 B-VG gegründete Beschwerde - insoweit - bereits aus dieser Erwägung als unzulässig zurückgewiesen werden mußte, ohne daß auf das entsprechende Beschwerdevorbringen im einzelnen eingegangen zu werden brauchte (Punkt A des Spruchs).

2.1.3. Dieses Ergebnis bliebe unverändert, wollte man die Beschwerde - ihrem ausdrücklichen Wortlaut zuwider - als gegen den Bescheid (den "Festnahmebefehl") vom 29. April 1982 selbst gerichtet werten: Denn dieser Bescheid unterliegt, weil nicht ein Rechtsmittel gesetzlich für unzulässig erklärt wurde, der Anfechtung mit Beschwerde gemäß §152 Abs1 FinStrG (VfSlg. 7067/1973). Danach Art144 Abs1 letzter Satz B-VG (§82 Abs1 VerfGG 1953) Beschwerde an den VfGH erst nach Erschöpfung des Instanzenzuges erhoben werden kann, wäre im gedachten Fall - angesichts der gegen den Festnahmebefehl offen gestandenen Administrativbeschwerde gemäß §152 Abs1 FinStrG - nämlich gleichermaßen ein Prozeßhindernis, und zwar der Unzuständigkeitsgrund der Nichterschöpfung des Instanzenzuges, zu bejahen.

2.2.1. Hingegen ist die Beschwerde im übrigen zulässig, nämlich insoweit, als sie sich (auch) gegen die weitere Haftanhaltung des Bf. bis zur Überstellung in das gerichtliche Gefangenenhaus und damit gegen Akte fortdauernden Polizeizwanges wendet (s. VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8146/1977, 9863/1983).

2.2.2. Nach §85 Abs4 FinStrG muß jeder (gemäß §85 Abs1 bis 3 FinStrG) Festgenommene sogleich freigelassen werden, wenn sich ergibt, daß kein Grund zu seiner weiteren Verwahrung vorhanden ist, sonst hat die Finanzstrafbehörde spätestens vor Ablauf von 48 Stunden nach der Festnahme zu veranlassen, daß der Vorsitzende des Spruchsenates (§86 FinStrG) die Untersuchungshaft verhängt.

Im vorliegenden Fall kam es nicht zur Verhängung der Untersuchungshaft; denn die Finanzstrafbehörde fand noch vor Ablauf der 48-Stunden-Frist des §85 Abs4 FinStrG, daß zur Durchführung des Strafverfahrens nicht sie selbst, sondern das Gericht (hier: Landesgericht für Strafsachen Wien) zuständig sei. Für diesen Fall schreibt §54 Abs1 FinStrG vor, daß Personen, die sich bereits in vorläufiger Verwahrung befinden, dem zuständigen Gericht zu übergeben sind.

Nach §4 des Gesetzes vom 27. Oktober 1862, RGBl. 87, zum Schutze der persönlichen Freiheit, das zum Bestandteil des StGG erklärt wurde und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, sind die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt - so auch die Organe der Finanzstrafbehörden - verpflichtet, jede von ihnen in Verwahrung genommene Person innerhalb der nächsten 48 Stunden entweder freizulassen oder an die "zuständige Behörde", das ist hier - da sich während des der Festnahme des Bf. folgenden Tages die gerichtliche Zuständigkeit ergab - das Landesgericht für Strafsachen Wien, abzuliefern (s. auch §85 Abs4 FinStrG). In diesem Sinn legt auch die schon erwähnte Bestimmung des §54 Abs1 FinStrG - für solche Fälle - die Verpflichtung der Finanzstrafbehörde zur (ohne unnötigen Verzug zu bewerkstelligenden) Übergabe des Häftlings an das (zuständige) Gericht fest. All das kann angesichts der kategorischen, vorbehaltlosen Fassung des Gesetzes nur bedeuten, daß unter den gegebenen Umständen spätestens mit Ablauf der besagten 48-Stunden-Frist jedes Verfügungsrecht der Finanzstrafbehörde über den von ihr in Verwahrung genommenen Bf. endete, und zwar mit der Folge, daß der Häftling spätestens zu diesem Zeitpunkt dem Untersuchungsrichter zu übergeben war. Die zwingende Vorschrift des Gesetzes richtet sich dabei sowohl an die Gerichte wie auch an die Verwaltungsbehörden, denen sie ein Verhalten vorschreibt, mit dem jedwede Verfügung über den Häftling nach Ablauf der 48-stündigen Frist - so auch seine weitere Belassung in Verwaltungshaft (s. aber §85 Abs4 FinStrG) - nicht mehr in Einklang steht (s. VfSlg. 2798/1955, ebenso VfSlg. 1984/1950). Das zeigt zugleich, daß die von der bel. Beh. aufgeworfene Frage, ob die längere (fristüberschreitende) Anhaltung des Bf. in finanzbehördlicher Haft auf Initiative der Verwaltungsbehörde selbst oder des Landesgerichts zurückgegangen sei, keiner weiteren Erörterung und Prüfung bedurfte.

Die Weiterbehaltung des Bf. in verwaltungsbehördlichem Gewahrsam auch nach Fristablauf, das heißt nach dem 1. Mai 1982, 16.10 Uhr, und zwar bis zu seiner erst auf Betreiben der Staatsanwaltschaft veranlaßten Überstellung in das landesgerichtliche Gefangenenhaus am 4. Mai 1982, mit der die ausschließliche Verantwortlichkeit des Gerichtes für diesen Häftling ihren Anfang nahm, stellt sich - zusammenfassend - als Verletzung des durch §4 des Gesetzes zum Schutze der persönlichen Freiheit gewährleisteten Grundrechtes dar (Art8 StGG).

Daß der Bf. bereits vor diesem Zeitpunkt wegen Entfalls der Verwahrungsgründe iS des §85 Abs4 Satz 2 FinStrG (infolge nachträglicher Änderung der Sachlage) freizulassen gewesen sei, wurde nicht behauptet und ist auch aus den Akten nicht zu ersehen.

2.2.3. Es mußte darum spruchgemäß entschieden werden (Punkt B des Spruchs).

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