Normen
EMRK Art6 Abs1 / Tribunal
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
EMRK Art6 Abs1 / Verwaltungsakt
ASVG §345
EMRK Art6 Abs1 / Tribunal
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
EMRK Art6 Abs1 / Verwaltungsakt
ASVG §345
Spruch:
Die beschwerdeführende Partei ist durch die angefochtenen Bescheide im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art6 EMRK verletzt worden.
Die Bescheide werden aufgehoben.
Der Bund (Bundesministerin für Arbeit, Gesundheit und Soziales) ist schuldig, der beschwerdeführenden Partei zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit S 36.000,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1.1. Mit Schriftsatz vom 10. August 1995 stellte die Tiroler Gebietskrankenkasse (im folgenden: Tir GKK) an den Schlichtungsausschuß der §-2-Kassen Tirols gemäß §36 Abs6 des Gesamtvertrages den Antrag, in einer Meinungsverschiedenheit zwischen der Kasse und einem ihrer Vertragsärzte eine Vorentscheidung herbeizuführen. Die Abrechnungspraxis des Arztes stehe im Widerspruch zur Honorarordnung. Aufgrund gegensätzlicher Standpunkte sei es nicht möglich gewesen, "ein Einvernehmen über den Abzug des strittigen Honorares für die nach Ansicht der Kasse zu Unrecht verrechneten 353 Ordinationen im Gesamtbetrag von S 17.366,35 (inkl. MwSt) zu erzielen".
1.1.2. In seiner Sitzung vom 19. Oktober 1995 stellte der angerufene Schlichtungsausschuß mit näherer Begründung in einer Vorentscheidung fest, daß die Tir GKK berechtigt sei, beginnend mit dem IV. Quartal 1994 das zu Unrecht aufgewendete Honorar bei der nächsten Honorarabrechnung in Abzug zu bringen.
1.1.3. Gegen diese Entscheidung rief der Arzt die Paritätische Schiedskommission an und begehrte die Abweisung des Antrages der Tir GKK vom 10. August 1995 aus dem Grunde, daß der Schlichtungsausschuß seiner Entscheidung eine unrichtige rechtliche Beurteilung der Honorarordnung zugrundegelegt habe.
1.1.4. Die Tir GKK erstattete eine Gegenschrift.
1.1.5. Mit Bescheid der Paritätischen Schiedskommission für Tirol vom 1. Februar 1996 wurde der Antrag des Arztes auf Abweisung des Antrages der Tir GKK vom 10. August 1995 abgewiesen und ausgesprochen, daß die Kasse berechtigt sei, bei der nächsten Honorarauszahlung die entsprechenden Positionen in Abzug zu bringen.
1.1.6. Gegen den genannten Bescheid der Paritätischen Schiedskommission erhob der Arzt aus dem Grunde der unrichtigen rechtlichen Beurteilung Berufung an die Landesberufungskommission für Tirol und begehrte darüber hinaus im Wege eines vorbereitenden Schriftsatzes den bescheidmäßigen Abspruch über sechs Feststellungsanträge.
1.1.7. Die Tir GKK gab eine Stellungnahme ab.
1.1.8. Am 4. Juni 1996 fand eine mündliche Verhandlung vor der Landesberufungskommission für Tirol statt. In der Verhandlung lehnte der Berufungswerber ein Mitglied der Landesberufungskommission ab. Zwischen ihm und dem Kommissionsmitglied habe ein Ehrenbeleidigungsverfahren stattgefunden. Aus diesem Grunde erachte er das Mitglied für befangen.
Das abgelehnte Mitglied erklärte sich für nicht befangen. Es begründete dies laut Verhandlungsniederschrift wie folgt:
"Es ist richtig, daß zwischen mir (und anderen Ärzten) und dem
Antragsteller ein Privatanklageverfahren stattgefunden hat. Grob
gesprochen ging es um eine Äußerung im Zuge einer
standespolitischen Aussendung, wobei es um eine Formulierung des
Inhaltes ging, daß dem DDr. ... (dem Berufungswerber bzw. dem
nunmehrigen Beschwerdeführer) vorgeworfen wurde, er habe MR
Dr. ... (das abgelehnte Kommissionsmitglied) (und andere Ärzte)
diffamiert. Hierauf wurde ein Privatanklageverfahren eingeleitet, welches schlußendlich aufgrund des angetretenen Wahrheitsbeweises so endete, daß ich und meine Ärztekollegen in zwei Instanzen freigesprochen wurden. Persönlich erachte ich mich nicht für befangen, weil ich mich ansonsten von vorne herein bereits nicht als Beisitzer für die vorliegende Streitsache zur Verfügung gestellt hätte."
1.1.9. Mit Bescheid der Landesberufungskommission für Tirol vom selben Tag wurden die Feststellungsanträge sowie der Antrag auf Feststellung der Befangenheit eines Kommissionsmitgliedes zurückgewiesen. Im übrigen wurde der Berufung nicht Folge gegeben. Hinsichtlich der Zurückweisung des Ablehnungsantrages wurde unter Verweis auf die Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes VfSlg. 3588/1959 und 7429/1974 sowie seinen Beschluß B421/91 vom 30. September 1991 ausgesprochen, daß der Partei des Verwaltungsverfahrens ein Ablehnungsrecht nicht zustehe, weshalb der Antrag zurückzuweisen war. Im übrigen sei aufgrund der von dem abgelehnten Kommissionsmitglied vorgetragenen Umstände dessen weiteren Mitwirkung am Verfahren im Hinblick auf §7 Abs1 AVG "kein Anstand" entgegengestanden.
1.2.1. Gegen diesen Bescheid wendet sich die zu B2366/96 protokollierte, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in welcher die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf ein faires Verfahren gemäß Art6 EMRK und auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides begehrt wird.
1.2.2. Die Landesberufungskommission für Tirol als belangte Behörde hat die Akten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in welcher sie den Antrag stellt, der Beschwerde den Erfolg zu versagen. Zur behaupteten Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes gemäß Art6 EMRK wird in der Gegenschrift folgendes ausgeführt:
"Ungeachtet des Umstandes, daß es sich bei den zu beurteilenden Ansprüchen um zivilrechtliche im Sinne von civil rights handelt, hat die Landesberufungskommission nicht die Vorschrift in der Zivilprozeßordnung, die der Beschwerdeführer heranzieht, anzuwenden, sondern das AVG. Wie bereits im angefochtenen Bescheid ausgeführt, steht der Partei eines Verwaltungsverfahrens ein Ablehnungsrecht nicht zu
(VfSlg. 3588/1959, 7429/1974, B421/91). Aufgrund der Stellungnahme des MR Dr. ... ist für die belangte Behörde keine Befangenheit erkennbar. Selbst wenn dies der Fall wäre, würde die Mitwirkung eines befangenen Organwalters an der Entscheidung nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes das relevierte Grundrecht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter nicht verletzen (zB VfSlg. 10205/1984, 11214/1987 uam, jüngst etwa wieder B421/91). Dem Grundsatz des Fair trial nach Art6 Abs1 EMRK ist dadurch Genüge getan, daß nach den hier anzuwendenden Bestimmungen des AVG Befangenheitsgründe von Amts wegen wahrzunehmen sind, mag auch im vorliegenden Verfahren eine Anfechtung der Entscheidung im Rechtsmittelwege nicht zulässig sein (vgl. Erkenntnis vom 07.10.1992, B724/92)."
1.2.3. Die am Verfahren beteiligte Tir GKK hat eine Äußerung erstattet, in der sie dem Beschwerdevorbringen entgegentritt.
2.1.1. Der im Verfahren B2366/96 beschwerdeführende Arzt ist auch in einen weiteren Rechtsstreit mit der Tir GKK verwickelt. Diesem liegt ein Antrag des Arztes vom 9. Februar 1996 zugrunde, mit welchem er aufgrund einzelner von seiten der Tir GKK (der Antragsgegnerin) vorgenommenen Befragungen seiner Patienten von der Paritätischen Schiedskommission die Fällung des folgenden Bescheides begehrte:
"a) Die beklagte Partei ist bei sonstigem Zwang schuldig zu unterlassen, Patienten des Klägers ohne vorhergehend einzuholendes Einverständnis seitens des Antragstellers aufzusuchen und zu ärztlichen Handlungen zu befragen, welche der Kläger an diesen vorgenommen hat.
b) Festgestellt wird, daß die Antragsgegnerin dem Antragsteller für jedweden Schaden haftet, der dem Kläger daraus erwächst, daß die Antragsgegnerin bzw deren Agenten Patienten des Antragstellers auf deren Arbeitsplatz aufspüren und überfallsartig an Ort und Stelle zu ärztlichen Handlungen befragen, die der Kläger an diesen vorgenommen hat.
c) Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger dessen Vertretungskosten in diesem Rechtsstreit zu bezahlen."
Außerdem wurde die Erlassung einer gegen die Tir GKK gerichteten einstweiligen Verfügung begehrt, derzufolge es dieser für die Dauer des Rechtsstreites verboten werden sollte, Patienten des Arztes ohne dessen Einverständnis aufzusuchen und einer Befragung zu der von ihm durchgeführten ärztlichen Behandlung zu unterziehen.
2.1.2. Der antragstellende Arzt urgierte in weiterer Folge die Erlassung der begehrten einstweiligen Verfügung und brachte einen weiteren vorbereitenden Schriftsatz ein, während die Tir GKK eine Gegenschrift erstattete. Mit Bescheid vom 22. Mai 1996 wies die Paritätische Schiedskommission den Antrag auf Erlassung eines Bescheides ab und den Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung zurück.
2.1.3. Im Wege eines bei der Geschäftsstelle der Paritätischen Schiedskommission am 23. Mai 1996 eingelangten vorbereitenden Schriftsatzes erstattete der beschwerdeführende Arzt ein weiteres Vorbringen.
2.1.4. Aufgrund der gegen den Bescheid der Paritätischen Schiedskommission eingebrachten Berufung fand am 20. August 1996 eine mündliche Verhandlung vor der Landesberufungskommission für Tirol statt. An dieser nahm als Mitglied der Landesberufungskommission auch jener Medizinalrat teil, der in seiner Eigenschaft als Mitglied der Landesberufungskommission in der - der Erlassung des im Verfahren B2366/96 bekämpften Bescheides vorangegangenen - Verhandlung vom 4. Juni 1996 wegen seiner gerichtlichen Auseinandersetzung mit dem beschwerdeführenden Arzt abgelehnt worden war.
Am 15. Oktober 1996 fand eine weitere mündliche Verhandlung vor der Landesberufungskommission für Tirol statt, an welcher wiederum der in der Verhandlung vom 4. Juni 1996 abgelehnte Medizinalrat mitwirkte.
Mit Bescheid vom selben Tag wurde der Berufung nicht Folge gegeben.
2.2.1. Gegen diesen Bescheid richtet sich die zu B4864/96 protokollierte, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in welcher die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter und auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz behauptet und die kostenpflichtige Behebung des bekämpften Bescheides begehrt wird.
2.2.2. Die belangte Behörde erstattete eine Gegenschrift, in welcher sie den Beschwerdeausführungen entgegentritt und den Antrag stellt, der Beschwerde den Erfolg zu versagen.
3. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässigen und zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen - Beschwerden erwogen:
Mit den bekämpften Bescheiden wird je eine Entscheidung in einer Streitigkeit aus einem Einzelvertrag und damit über dem Kernbereich der "civil rights" zuzurechnende zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen getroffen (vgl. zB VfSlg. 11729/1988 und 12083/1989). Die bescheiderlassende Landesberufungskommission muß daher als "unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht" iSd Art6 EMRK konstituiert sein, was seit dem Inkrafttreten der 48. ASVG-Novelle, BGBl. Nr. 642/1989, auch der Fall ist
(VfSlg. 13895/1994).
In seinem Erkenntnis VfSlg. 11211/1987 ist der Verfassungsgerichtshof der vom EGMR im Fall Sramek (EuGRZ 1985, S. 336 ff.) und von der EKMR im Fall Ettl (EuGRZ 1985, S. 364 ff.) vertretenen Ansicht beigetreten, daß ein über civil rights befindendes Tribunal derart zusammengesetzt sein muß, daß keine berechtigten Zweifel an der Unabhängigkeit seiner Mitglieder entstehen, wobei bei der Beurteilung der Fairness eines Verfahrens auch der äußere Anschein von Bedeutung ist. Der Verfassungsgerichtshof hält an dieser Auffassung weiterhin fest.
Es gibt nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes keinen Zweifel, daß die Tatsache, daß eines der Kommissionsmitglieder von dem Beschwerdeführer in der Vergangenheit in ein Strafverfahren verwickelt wurde, bei einem unbefangenen Beobachter unter Umständen den Anschein einer Voreingenommenheit des Kommissionsmitgliedes gegenüber dem Beschwerdeführer hervorrufen könnte.
Konflikte, Nahebeziehungen und sonstige Verbindungen zwischen einer Verfahrenspartei und einem Mitglied eines Tribunals können Anlaß zu Zweifeln über die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit der Mitglieder des Tribunals geben (vgl. die Entscheidung des EGMR im Fall Holm, ÖJZ 1994, S. 522 ff.). Das Vorliegen der Unparteilichkeit iSd Art6 Abs1 EMRK ist nämlich nicht nur im Hinblick auf subjektive, sondern auch auf objektive Umstände zu beurteilen, deren Bestehen Zweifel an der Unparteilichkeit eines Tribunalmitgliedes hervorrufen könnten (vgl. die Entscheidungen des EGMR im Fall Fey, ÖJZ 1993, 394 ff., und im Fall der Beschwerde Nr. 20.577/92 gegen Österreich, ÖJZ 1994, 524 f.).
Aufgrund des Gewichtes der zugestandenen Tatsache, daß zwischen dem Beschwerdeführer und einem Mitglied des Tribunals ein Ehrenbeleidigungsverfahren stattgefunden hat, ist es offenkundig, daß die Unparteilichkeit des abgelehnten Mitgliedes der Landesberufungskommission im Verfahren B2366/96 nicht außer Zweifel steht. Es liegt daher eine Verletzung des durch Art6 EMRK gewährleisteten Rechts auf ein faires Verfahren vor.
Gleiches gilt aber auch für das Verfahren B4864/96: In diesem fand nur zwei Monate nach der in der Verhandlung vom 4. Juni 1996 erfolgten Ablehnung des Kommissionsmitgliedes eine weitere mündliche Verhandlung derselben - wenn auch nicht völlig ident zusammengesetzten - Kommission in einem denselben Arzt wie im ersten Verfahren betreffenden Rechtsstreit statt, an welcher das am 4. Juni 1996 abgelehnte Kommissionsmitglied teilgenommen hat.
Die bekämpften Bescheide waren daher aufzuheben, ohne daß auf das jeweils die Sachentscheidungen betreffende Beschwerdevorbringen einzugehen war.
4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von S 6.000,-- enthalten.
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