Normen
B-VG Art144 Abs1 / Anlaßfall
B-VG Art144 Abs1 / Anlaßfall
Spruch:
Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtenen Bescheide wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden.
Die Bescheide werden aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Justiz) ist schuldig, den Beschwerdeführern zu Handen ihrer Rechtsvertreter die Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen, und zwar:
den Beschwerdeführern zu B1552/99 zusammen S 33.550,-, den Beschwerdeführerinnen zu B73/00, zu B74/00 und
zu B317/00 je S 29.500,-, und
den Beschwerdeführern zu B1178,1179/00 zusammen S 34.700,-.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Die Beschwerdeführer waren Rechtspraktikanten, die ihre Gerichtspraxis in den Jahren 1997 bis 1999 begonnen hatten, und zwar alle nach dem 30. Juni 1997.
Mit ArtXXXI des BG BGBl. I 61/1997 (kundgemacht am 30. Juni 1997) war der Abs2 des §17 Rechtspraktikantengesetz (RPG), BGBl. 644/1987, wonach für je drei Monate der Gerichtspraxis eine Sonderzahlung in Höhe von 50% des Ausbildungsbeitrages gebührt hatte, mit Wirkung vom 1. Juni 1997 (§29 Abs2 Z2 RPG) aufgehoben worden.
Anträge der Beschwerdeführer, ihnen die ausstehenden Sonderzahlungen zu überweisen bzw. festzustellen, daß ihnen Sonderzahlungen zustünden, wies der Präsident des Oberlandesgerichtes Wien bescheidmäßig ab. Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer Berufungen, welchen vom Bundesminister für Justiz keine Folge gegeben wurden.
2. Gegen diese Berufungsbescheide richten sich die vorliegenden, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerden, in denen die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz durch Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der bekämpften Bescheide beantragt wird.
3. Der Bundesminister für Justiz als belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und Gegenschriften erstattet, in denen er die Abweisung der Beschwerden beantragt. In den Gegenschriften weist der Bundesminister auf das - damals noch anhängige - Verfahren zur Prüfung von Teilen des ArtXXXI des BG BGBl. I 61/1997, G59 - 62/00, hin. Er führt aus, daß es in den Fällen, die dem Prüfungsbeschluß zugrundelagen, um Rechtspraktikanten gehe, die ihre Gerichtspraxis vor der Aufhebung der Bestimmungen über die Sonderzahlungen angetreten hätten. Die Bedenken jenes Prüfungsbeschlusses kämen hinsichtlich der Beschwerdeführer jedoch nicht in Betracht, weil diese erst nach der Kundmachung bzw. nach dem Inkrafttreten der Änderung des RPG durch das BG BGBl. I 61/1997 zur Gerichtspraxis zugelassen worden seien. Daher verbiete sich auch eine Erstreckung der Anlaßfallwirkung gemäß Art140 Abs7 B-VG auf die Fälle der Beschwerdeführer.
II. 1. Aufgrund der zu B745/98 bis B748/98 protokollierten Beschwerden leitete der Verfassungsgerichtshof gemäß Art140 Abs1 B-VG ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Z2 und 6 sowie der Zitate "§17," und "und §20" in Z7 des ArtXXXI des BG BGBl. I 61/1997 ein. Mit Erkenntnis vom 27. September 2000, G59 - 62/00, hob er die in Prüfung genommenen Vorschriften als verfassungswidrig auf.
2. Gemäß Art140 Abs7 B-VG wirkt die Aufhebung eines Gesetzes auf den Anlaßfall zurück. Es ist daher hinsichtlich des Anlaßfalles so vorzugehen, als ob die als verfassungswidrig erkannte Norm bereits zum Zeitpunkt der Verwirklichung des dem Bescheid zugrundegelegten Tatbestandes nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte.
Dem in Art140 Abs7 B-VG genannten Anlaßfall (im engeren Sinn), anläßlich dessen das Gesetzesprüfungsverfahren tatsächlich eingeleitet worden ist, sind all jene Beschwerdefälle gleichzuhalten, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Gesetzesprüfungsverfahren (bei Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung) beim Verfassungsgerichtshof bereits anhängig waren (VfSlg. 10616/1985, 11711/1988).
Die nichtöffentliche Beratung im Gesetzesprüfungsverfahren fand am 27. September 2000 statt. Die vorliegenden Beschwerden sind beim Verfassungsgerichtshof vor diesem Tag eingelangt, waren also zum Zeitpunkt der nichtöffentlichen Beratung schon anhängig; die ihnen zugrundeliegenden Fälle sind somit einem Anlaßfall gleichzuhalten.
Die belangte Behörde wandte bei Erlassung der angefochtenen Bescheide die als verfassungswidrig aufgehobenen Gesetzesbestimmungen an. Es ist nach Lage des Falles offenkundig, daß diese Gesetzesanwendung für die Rechtsstellung der Beschwerdeführer nachteilig war. Die Beschwerdeführer wurden somit wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt.
Die Bescheide sind daher aufzuheben. Dabei handelt es sich nicht um eine "Erstreckung der Anlaßfallwirkung", der die belangte Behörde entgegentritt und die der Verfassungsgerichtshof aufgrund des Art140 Abs7 zweiter Satz letzter Halbsatz B-VG anordnen kann, sondern um einen Anlaßfall im weiteren Sinn, auf den das aufgehobene Gesetz nach der zwingenden Vorschrift des Art140 Abs7 B-VG nicht anzuwenden ist. Soweit die belangte Behörde davon spricht, die Erwägungen, die dem Prüfungsbeschluß zugrundelagen, kämen hinsichtlich der Beschwerdeführer nicht in Betracht, genügt der Hinweis, daß der Verfassungsgerichtshof präjudizielle Vorschriften losgelöst von Aspekten des Anlaßfalles auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen hat (zB VfSlg. 9901/1983, S 596, 10291/1984, S 683, 11190/1986, S 863, 11289/1987, 11290/1987, 11307/1987, 12467/1990, 14231/1995, 14803/1997, S 441), gleichgültig, ob die Rechtswidrigkeit einer Norm im Anlaßfall überhaupt zum Tragen kommt (VfSlg. 9336/1982, S 98). Der Verfassungsgerichtshof hätte daher auch aufgrund der vorliegenden Beschwerden ein Prüfungsverfahren einleiten müssen.
3. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde gemäß §19 Abs4 Z3 VerfGG abgesehen.
4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von S 5.175,-
(zu B1552/99), von S 4.950,- (zu B1178,1179/00) bzw. von S 4.500,-
(zu den übrigen Zahlen) enthalten.
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