VfGH B1119/03

VfGHB1119/0324.2.2004

Verletzung im Recht auf ein faires Verfahren durch Verhängung einer Disziplinarstrafe über einen Rechtsanwalt aufgrund Mißachtung des Grundsatzes der Waffengleichheit durch Unterlassung der Zustellung der Berufungsbeantwortung des Kammeranwaltes an den Beschwerdeführer

Normen

EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
DSt 1990 §48
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
DSt 1990 §48

 

Spruch:

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in dem durch Art6 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden.

Der Bescheid wird daher aufgehoben.

Die Rechtsanwaltskammer Wien ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seines Rechtsvertreters die mit € 2142,-

bestimmten Prozeßkosten bei sonstigem Zwang zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit Erkenntnis der Obersten Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (im folgenden: OBDK) wurde den Berufungen des Beschwerdeführers, soweit sie sich gegen die Schuldsprüche der angefochtenen Erkenntnisse des Disziplinarrats der Rechtsanwaltskammer Wien vom 31. Jänner 2001 (D 126/99) und 3. April 2002 (D 166/99) richteten, keine Folge gegeben. Aus Anlaß der Strafberufungen des Kammeranwaltes und des Beschwerdeführers wurden die angefochtenen Erkenntnisse des Disziplinarrats von der OBDK in den Strafaussprüchen aufgehoben. Die OBDK erkannte im Umfang dieser Teilaufhebung in der Sache selbst wie folgt:

"Dr. M B [der Beschwerdeführer] wird für die ihm nach den aufrecht gebliebenen Schuldsprüchen weiterhin zur Last fallenden Disziplinarvergehen der Berufspflichtenverletzung und Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes gemäß §16 Abs1 Z2 DSt zu einer Geldbuße von 5.000 (fünftausend) Euro verurteilt."

Dem Beschwerdeführer wurde im einzelnen vorgeworfen, gegen das Verbot der Doppelvertretung (§10 Abs1 RAO) verstoßen zu haben, nicht die Rechte seiner Partei mit Eifer und Gewissenhaftigkeit vertreten zu haben (§9 Abs1 RAO) und bei ihm eingegangene Barschaften nicht sogleich mit seiner Partei verrechnet zu haben (§19 Abs1 RAO).

2. Gegen dieses als Bescheid zu wertende Erkenntnis wendet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung näher bezeichneter verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird.

3. Die OBDK als belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie den Beschwerdeausführungen entgegentritt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Der Beschwerdeführer macht ua. geltend, daß ihm die Gegenäußerungen des Kammeranwaltes im Rechtsmittelverfahren vor der OBDK nicht rechtzeitig iS der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (der Beschwerdeführer zitiert in diesem Zusammenhang die Erkenntnisse VfSlg. 15840/2000, 16560/2002, VfGH 10.6.2003, B117/03) zur Kenntnis gebracht wurden. Aus diesem Grund könne nicht von einem "fairen Verfahren" (Art6 EMRK) vor der OBDK gesprochen werden.

2. Dieser Vorwurf erweist sich als berechtigt.

2.1. Der Verfassungsgerichtshof bleibt bei seiner ständigen Rechtsprechung, wonach die Verfahrensgarantien nach Art6 EMRK im Disziplinarverfahren vor der OBDK Anwendung finden (vgl. bereits VfSlg. 11512/1987, 15495/1999, 15840/2000).

2.2. Im vorliegenden Fall fordert der Grundsatz der Waffengleichheit, daß dem Beschwerdeführer die (jeweilige) Berufungsbeantwortung des Kammeranwaltes so rechtzeitig zugestellt wird, daß ihm ausreichend Zeit und Gelegenheit gegeben ist, dazu Stellung zu nehmen.

Zum gleichen Ergebnis ist der Verfassungsgerichtshof in den Erkenntnissen VfSlg. 15840/2000, 16560/2002 und VfGH 10.6.2003, B117/03 gelangt, denen gleichgelagerte Fälle zugrundelagen. In VfSlg. 15840/2000 sprach der Gerichtshof aus, daß

"... dem Beschwerdeführer die Äußerung des Kammeranwaltes übermittelt [hätte] werden müssen, um ihm auf diese Weise die Gelegenheit einer Replik zu geben. Der Wortlaut des §48 DSt 1990 steht dieser verfassungsgesetzlich gebotenen Vorgangsweise jedenfalls nicht im Wege. Der im §48 Abs3 DSt 1990 geregelte Anspruch des Beschwerdeführers auf Akteneinsicht ist nicht ausreichend, um den Garantien des Art6 EMRK zu genügen (vgl. EGMR im Fall Brandstetter). Im Unterbleiben der rechtzeitigen Inkenntnissetzung hat der Beschwerdeführer im Verfahren vor der OBDK gegenüber der 'Anklageseite' einen Informationsnachteil erlitten, der ihn im Hinblick auf den 'Grundsatz der Waffengleichheit' in seinem gemäß Art6 EMRK gewährleisteten Recht verletzt".

Der Verfassungsgerichtshof sieht aufgrund des vorliegenden Falles keinen Anlaß, von dieser Rechtsprechung abzugehen.

2.3. Wie sich aus den vorgelegten Verwaltungsakten des Disziplinarrats ergibt, hat der Kammeranwalt auf die Berufungen des Beschwerdeführers, die am 11. Juni 2001 (zu D 126/99) und am 8. Juli 2002 (zu D 166/99) beim Disziplinarrat eingelangt sind, iS des §48 Abs2 DSt 1990 repliziert. Darin setzte er sich mit den Berufungsvorbringen auseinander und stellte jeweils den begründeten Antrag, der Berufung des Beschwerdeführers keine Folge zu geben. Diese Äußerungen liegen in den Verwaltungsakten des Disziplinarrats in drei- bzw. vierfacher Ausfertigung vor, wobei keine dieser Ausfertigungen dem Beschwerdeführer zugestellt wurde.

Der angefochtene Bescheid war daher wegen Verletzung des durch Art6 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf ein faires Verfahren aufzuheben.

Bei diesem Ergebnis war es entbehrlich, auf das Beschwerdevorbringen im einzelnen einzugehen.

3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 327,-

enthalten.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

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