OGH 9ObS2/87

OGH9ObS2/8717.6.1987

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Hon.-Prof. Dr. Kuderna als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Gamerith und Dr. Bauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Josef Fellner und Mag. Karl Dirschmied als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Angelika G***, Vertragslehrerin, Innsbruck, Frau Hitt-Straße 10, vertreten durch Dr. Renü S***, Sekretär der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, Wien, dieser vertreten durch Dr. Hans Schwarz, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei A***

U***, Wien 20., Adalbert Stifter-Straße 65,

vertreten durch Dr. Adolf Fiebich und Dr. Vera Kremslehner, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 5. Februar 1987, GZ 5 R S 1004/87-26, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Schiedsgerichtes der Sozialversicherung für Tirol in Innsbruck vom 21. Oktober 1986, GZ 7 C I 20/85-21, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin erlitt am 1. Dezember 1982 einen Arbeitsunfall. Mit Bescheid vom 13. November 1984 hat die beklagte Partei die der Klägerin für die Folgen dieses Arbeitsunfalles bisher gewährte vorläufige Versehrtenrente von 20 v.H. der Vollrente mit Wirkung ab 1. Jänner 1985 entzogen und zugleich ausgesprochen, daß ein Anspruch auf Dauerrente nicht bestehte.

Mit der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage begehrt die Klägerin die Gewährung einer Versehrtenrente im Ausmaß von 20 v.H. der Vollrente auch für die Zeit ab 1. Jänner 1985 und brachte dazu im wesentlichen vor, daß eine Besserung ihrer Kniebeschwerden nicht eingetreten sei. Das rechte Bein knicke nach wie vor nach hinten ein, schwelle bei größerer Belastung an und verursache Schmerzen; es könne nur beschränkt abgebogen werden. Die Klägerin könne wegen dieser Unfallsfolgen weder Turnunterricht erteilen noch sei ihre Teilnahme an Schilagern und Wandertagen möglich. Zusätzlich leide sie an Schmerzen im linken Knie, die auf dessen Überlastung infolge des Arbeitsunfalles zurückzuführen seien.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage und brachte vor, daß die unfallsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt nur mehr 10 v.H. betrage und somit das rentenbegründende Ausmaß nicht mehr erreiche.

Das Erstgericht gab dem Begehren der Klägerin teilweise Folge, verpflichtete die beklagte Partei zur Gewährung einer Versehrtenrente im Ausmaß von 20 v.H. der Vollrente für die Zeit vom 1. Jänner 1985 bis 30. Juni 1986 und wies das Mehrbegehren auf Gewährung der Leistung auch für die Zeit ab 1. Juli 1986 ab. Es legte seiner Entscheidung im wesentlichen nachstehende Feststellungen zugrunde:

Die Klägerin zog sich am 1. Dezember 1982 beim Turnunterricht eine Bänderverletzung im rechten Knie zu. Die Erstbehandlung erfolgte im Krankenhaus Wörgl, wo die Klägerin mit einer elastischen Bandage versorgt wurde. Anschließend wurde sie an die Universitätsklinik für Unfallchirurgie nach Innsbruck überwiesen, wo die Diagnose einer medialen Meniskuslaesion gestellt wurde. Nach ambulanten Kontrollen wurde am 27. Dezember 1982 an der unfallchirurgischen Klinik in Innsbruck eine Kniegelenksarthroskopie durchgeführt, welche eine Ruptur des vorderen Kreuzbandes am rechten Knie und einen Einriß des medialen Seitenbandes am Ansatz des medialen Tibiakopfes zeigte. Eine Bandnaht konnte nicht mehr durchgeführt werden, weshalb als Behandlung physikalische Therapie empfohlen wurde.

Eine Befundaufnahme am 18. Juni 1985 ergab für die Beweglichkeit des Kniegelenkes beiderseitig Werte von S 0/0/120, seitengleiche Umfangmaße der unteren Extremitäten von 45 cm am Oberschenkel, 36 cm am Knie und 37 cm am Unterschenkel sowie weitere vom Erstgericht näher festgestellte Werte für die Bandstabilität und die Schmerzempfindlichkeit.

Zusammenfassend kam die Befundaufnahme unter Zugrundelegung des Arthroskopiebefundes der unfallchirurgischen Klinik vom 27. Dezember 1982 zum Ergebnis, daß ein Zustand nach Ruptur des vorderen Kreuzbandes sowie Zerrung des medialen Seitenbandes am rechten Kniegelenk vorliege, sowie daß als Unfallsfolge eine antero-mediale Kniegelenksinstabilität bestehe, welche muskulär nur unvollständig kompensiert sei; die unfallskausale Minderung der Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt betrage seit 1. Jänner 1985 20 v.H.

Aufgrund der am 3. Juli 1985 vorgenommenen Arthroskopie am linken Kniegelenk steht nunmehr fest, daß im linken Knie kein resektionswürdiger Schaden, insbesonders kein Riß des Meniskus, wie er durch ein Trauma verursacht würde, vorliegt, sondern offensichtlich nur eine geringe degenerative Laesion, deren Unfallskausalität zwar nicht auszuschließen, aber auch nicht zu beweisen ist. Eine verstärkte Belastung des linken Knies aufgrund der Unfallsverletzung des rechten Knies kommt für einen Meniskusschaden am linken Knie lediglich als eine von mehreren Ursachen in Betracht. Vor allem steht aufgrund des Operationsberichtes fest, daß der Arbeitsunfall vom 1. Dezember 1982 am rechten Kniegelenk entgegen den früheren Annahmen nicht zu einer kompletten Ruptur des Kreuzbandes geführt hat. Auf Grund einer am 3. Juli 1985 vorgenommenen Operation am eröffneten rechten Kniegelenk ist es zu einer wesentlichen Besserung der Funktion des Kniegelenkes gekommen. Es steht fest, daß objektiv gegenüber dem Befund vom 11. Juli 1985 eine deutliche Besserung im Sinne einer besseren Stabilität eingetreten ist. Die nunmehrige Befundaufnahme ergab nur noch eine leichte Einschränkung der Beweglichkeit des rechten Kniegelenkes im Sinne einer verminderten Beugung, eine geringe Instabilität sowie subjektive Beschwerden. Hingegen bestand keine Muskelverschmächtigung und kein Kniegelenkserguß. Aufgrund der deutlichen Besserung des Befundes im Sinner einer - näher festgestellten - besseren Stabilität beträgt die unfallskausale Minderung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seit dem 1. Juli 1986 nur mehr 10 v.H. Rechtlich führte das Erstgericht aus, daß es aufgrund der am 3. Juli 1985 vorgenommenen Operation zu einer wesentlichen Besserung der Stabilität im Bereich des rechten Kniegelenkes gekommen sei; dies habe zu einer Veränderung der bisher bestandenen Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v.H. auf nunmehr 10 v.H. geführt. Der Anspruch der Klägerin auf Gewährung der Versehrtenrente im begehrten Umfang bestehe daher ab 1. Jänner 1985 zu Recht. Da jedoch hinsichtlich der für den Anspruch maßgeblichen unfallskausalen Minderung der Erwerbsfähigkeit im Zuge des Verfahrens eine wesentliche Besserung eingetreten sei, sei gemäß § 183 Abs. 1 ASVG für die Zeit ab 1. Juli 1986 eine neue Feststellung der Dauerrente vorzunehmen und anläßlich dieser Neufeststellung die bisher gewährte Dauerrente zu entziehen; ab 1. Juli 1986 liege eine unfallskausale Erwerbsminderung im rentenbegründenden Ausmaß nicht mehr vor. Das Berufungsgericht gab der von der Klägerin gegen den abweisenden Teil dieses Urteils erhobenen Berufung nicht Folge. Es führte dazu aus, daß über den Anspruch auf Gewährung der Dauerrente erstmals mit dem hier bekämpften Bescheid innerhalb der Zweijahresfrist des § 209 Abs. 1 ASVG abgesprochen worden sei. Die Entziehung einer vorläufigen Versehrtenrente sei als Feststellung der Dauerrente - freilich mit Null - im Sinn des § 209 Abs. 1 ASVG anzusehen. Gemäß § 384 Abs. 1 ASVG trete durch die rechtzeitige Einbringung der Klage der Bescheid des Versicherungsträgers im Umfang des Klagebegehrens außer Kraft. Damit gehe die gesamte Entscheidungsbefugnis auf das Gericht über, das aufgrund der zum Schluß der mündlichen Verhandlung gegebenen Sach- und Rechtslage zu entscheiden habe. Mit dem Ersturteil, das als Einheit zu betrachten sei, sei erstmalig über die Frage der Dauerrente abgesprochen worden. Bei der erstmaligen Festsetzung der Dauerrente gemäß § 209 Abs. 1 ASVG sei aber eine Änderung der Verhältnisse als Anspruchsgrundlage nicht erforderlich. Die Entscheidung des Erstgerichtes könne nicht in zwei gesonderte Entscheidungen zerlegt werden, nämlich in eine die Dauerrente gewährende und eine diese Dauerrente wieder entziehende, da eine einheitliche Entscheidung über einen Gesamtsachverhalt, wie er am Schluß der Verhandlung bestanden habe, erlassen worden sei. Die im Ersturteil vorgenommene zeitliche Begrenzung der Dauerrente sei zulässig, weil die Beendigung nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit liege und damit einer endgültigen Beurteilung zugänglich sei. Da eine Minderung der Erwerbsfähigkeit im rentenbegründenden Ausmaß ab 1. Juli 1986 nicht mehr vorliege, habe das Erstgericht das Begehren der Klägerin ab diesem Zeitpunkt zu Recht abgewiesen. Die von der Klägerin gegen diese Entscheidung erhobene Revision ist nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Der von der Revisionswerberin vertretenen Auffassung, daß die Frage des Bestehens der begehrten Leistung lediglich ausgehend von der am 1. Jänner 1985 bestehenden Sachlage zu prüfen sei, kann nicht beigetreten werden.

Gemäß § 406 ZPO im Zusammenhang mit § 179 ZPO ist der Zeitpunkt, auf den sich die Entscheidung zu beziehen hat, der Schluß der mündlichen Verhandlung in erster Instanz (SZ 26/298). Der Entscheidung des Gerichtes ist also das Parteienvorbringen, wie es sich aufgrund von (zulässigen) Änderungen und Ergänzungen in diesem Zeitpunkt darstellt, und die Sachlage, wie sie in diesem Zeitpunkt feststeht, zugrundezulegen (Fasching III, 659). Das Schiedsgericht der Sozialversicherung hatte (ebenso wie nunmehr die Gerichtshöfe in erster Instanz in Arbeits- und Sozialrechtssachen) im Rahmen der sukzessiven Kompetenz keine Überprüfung des angefochtenen Bescheides durchzuführen. Durch die Einbringung der Klage trat gemäß § 384 ASVG der angefochtene Bescheid außer Kraft; das Schiedsgericht der Sozialversicherung hatte ein völlig neues Verfahren durchzuführen und gemäß § 406 ZPO die Entscheidung aufgrund der Sachlage zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung in erster Instanz zu treffen.

§ 183 Abs. 1 ASVG normiert, daß bei einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse, die für die Feststellung einer Rente maßgeblich waren, der Träger der Unfallversicherung auf Antrag oder von Amts wegen die Rente neu festzustellen hat. § 183 ASVG enthält in dem Bereich, in dem er die Voraussetzungen für die Neufeststellung der Rente normiert, materiellrechtliche Bestimmungen, soweit er den Vorgang bei der Neufeststellung anordnet, formellrechtliche Bestimmungen. Voraussetzung der Anwendbarkeit der formellen Bestimmungen ist, daß eine Rentenfeststellung (Dauerrente) mit Bescheid, Urteil oder Vergleich für die Zukunft erfolgte. Nur wenn eine derartige Grundlage besteht, kommt eine bescheidmäßige Neufeststellung in Frage. Die Bestimmung stellt darauf ab, daß in einem bestehenden Bezug eine Änderung eintritt. Diese Voraussetzung trifft hier aber nicht zu.

Ist im gerichtlichen Verfahren ein in der Vergangenheit liegender Sachverhalt zu beurteilen, ist eine Änderung des Sachverhaltes, die sich nach dem Zeitpunkt, auf den der angefochtene Bescheid abgestellt war, ereignet, und die bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung erster Instanz eintritt, bei der Entscheidung zu berücksichtigen. Dabei unterliegt der Prüfung durch das Gericht auch die Frage, ob ein zu Beginn des Zeitraumes bestehender Anspruch wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse bis zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung eine Veränderung erfahren hat. Das Gericht hat sohin die bis zum Schluß der Verhandlung eintretenden Änderungen der Anspruchsgrundlage unter Anlegung der im § 183 ASVG normierten materiellrechtlichen Kriterien zu prüfen, allfällige bis zu diesem Zeitpunt eingetretene Sachverhaltsänderungen bei der Entscheidung zu berücksichtigen und eine Beurteilung hinsichtlich des gesamten der Entscheidung unterliegenden Zeitraumes vorzunehmen. Nur auf diese Weise ist sichergestellt, daß die Entscheidung, die unter anderem die Grundlage für spätere Neufeststellungsbescheide bildet, der Sach- und Rechtslage in dem für die Urteilsfällung maßgeblichen Zeitpunkt entspricht. Für eine Entscheidung durch den Sozialversicherungsträger im Sinn des § 183 Abs. 1 ASVG besteht in dem Umfang, in dem die Sache Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens ist, keine Grundlage. Eine bescheidmäßige Neufeststellung nach dieser Gesetzesstelle hat eine vorhergehende Feststellung der Versehrtenrente zur Voraussetzung. Eine solche Feststellung liegt jedoch nach der Klageerhebung nicht vor, weil der Bescheid des Sozialversicherungsträgers durch die Klage außer Kraft getreten ist. Aus den Feststellungen ergibt sich, daß in der Zeit vom 1. Jänner 1985 bis 30. Juni 1986 eine Minderung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin von 20 v.H. bestand. Ab 1. Jänner 1986 ist die MdE unter den rentenfähigen Wert des § 203 ASVG gesunken. Zutreffend sind die Vorinstanzen zum Ergebnis gelangt, daß ab 1. Juli 1985 ein Anspruch der Klägerin auf Gewährung der begehrten Leistung nicht mehr besteht und haben diese wesentliche Änderung der Verhältnisse bei der Entscheidung berücksichtigt.

Der Revision mußte daher ein Erfolg versagt bleiben. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf § 77 Abs. 1 Z 2 lit. b ASGG; Gründe, die einen Kostenzuspruch nach Billigkeit im Sinn dieser Gesetzesstelle rechtfertigen könnten, wurden weder bescheinigt noch ergeben sich solche Gründe aus der Aktenlage.

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