OGH 9ObA41/04a

OGH9ObA41/04a26.5.2004

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Maier als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Spenling und Dr. Hradil sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Harald Kaszanits und Anton Gabmayer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Armin D*****, Lehrling, derzeit ohne Beschäftigung, *****, vertreten durch Dr. Gerda Mahler-Hutter, Rechtsanwältin in Berndorf, gegen die beklagte Partei E***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Friedrich Lorenz, Rechtsanwalt in Baden, wegen EUR 5.075,48 brutto sA, über die außerordentliche Revision (Revisionsinteresse: EUR 4.236,78 brutto) der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 20. Jänner 2004, GZ 9 Ra 150/03z-14, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgericht vom 22. Juli 2003, GZ 3 Cga 60/03k-9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil und das Ersturteil, welches hinsichtlich der Teilabweisung eines Bruttobetrages von EUR 838,70 sA als in Rechtskraft erwachsen unberührt bleibt, werden aufgehoben. Die Rechtssache wird in diesem Umfang zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der Kläger war vom 1. 9. 2000 bis 24. 1. 2003 als Elektroinstallateur-Lehrling beschäftigt. Das Lehrverhältnis endete durch Entlassung. Im Revisionsverfahren ist unstrittig, dass der Kläger infolge Anrechnung einer Vorzeit per 1. 7. 2002 in das dritte Lehrjahr eingetreten ist. Das zweite Berufsschuljahr schloss er allerdings erst im Zuge des dritten Lehrjahres, nämlich im Herbst 2002 erfolgreich ab (es fehlt diesbezüglich eine Feststellung oder Außerstreitstellung des genauen Datums).

Der Kläger erhielt in den Monaten Juli bis November 2002 nur jene Lehrlingsentschädigung ausbezahlt, welche nach dem hier anzuwendenden Kollektivvertrag für Arbeiter des eisen- und metallverarbeitenden Gewerbes der Lehrlingsentschädigung für das zweite Lehrjahr entsprach, dies sind EUR 531,40 brutto monatlich. Der Kläger befand sich vom 27. 11. 2002 bis einschließlich 23. 1. 2003 im Krankenstand. Mit Schreiben vom 3. 1. 2003 teilte ihm die beklagte Partei unter Anschluss der Einberufung in die Berufsschule mit, dass er in der Zeit vom 27. 1. bis 31. 1. 2003 und vom 10. 2. bis 11. 4. 2003 die Berufsschule aufzusuchen habe. Insbesondere solle er die vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellte Arbeitskleidung, bestehend aus fünf Garnituren zu je einer Bundhose, einem Gilet, einer Arbeitsjacke sowie einer Winterjacke zurückgeben. Am Freitag, den 24. 1. 2003, trat der Kläger in der Früh wieder seinen Dienst an. Er retournierte um 8.46 Uhr insgesamt vier Garnituren Arbeitskleidung und das bei ihm befindliche Werkzeug. Da er jedoch eine Arbeitsjacke, eine Bundhose und ein Gilet zur Arbeit trug und kein Reservegewand mitgenommen hatte, konnte er die fünfte Arbeitskleidungsgarnitur zunächst nicht rückerstatten. Die Geschäftsführerin der beklagten Partei forderte ihn daher bei Dienstende um 11.30 Uhr auf, die letzte Garnitur bis 12.00 Uhr zu übergeben. Der Kläger musste, da er kein Wechselgewand mithatte, zunächst mit seinem PKW vom Arbeitsort in K***** zu seiner Wohnung nach B***** fahren, um dort das Gewand zu wechseln und wieder nach K***** zu seiner Arbeitsstätte zurückzufahren. Dort wollte er nach seiner Ankunft um 12.15 Uhr die noch fehlende Arbeitsgarnitur zurückerstatten. Bereits um 12.12 Uhr hatte die beklagte Partei aber ein Fax des Inhalts an den Kläger abgesandt, dass er mangels Rückgabe des Arbeitsgewandes bis 12.00 Uhr eine Arbeitsverweigerung begangen habe und daher die sofortige Entlassung ausgesprochen werde. Als der Kläger zum genannten Zeitpunkt an der Betriebsstätte eintraf, erklärte ihm die Geschäftsführerin, dass er schon entlassen sei. Am 24. 1. 2002 war der Kläger ermahnt worden, weil er am 21. 1. 2002 einen Zahnarzttermin nicht im ganzen Umfang wahrgenommen hatte, wie er angekündigt hatte, sodass sein Arbeitseinsatz an diesem Tag nicht möglich gewesen sei. Überdies wurde darauf verwiesen, dass er mündliche Ermahnungen wegen Vorfällen am 23. und 26. 11. 2001 erhalten habe, wo er vorgegeben habe, zur Fahrschule gehen zu müssen, diese Termine aber nicht bzw nicht im genannten Umfang wahrgenommen habe. Als weitere Gründe der Ermahnung wurden angeführt, dass der Kläger sich nicht in die Firmengemeinschaft eingeordnet habe, gegenüber Kunden und Kollegen unakzeptabel aufgetreten sei und nur weit unter dem Durchschnitt der anderen Auszubildenden liegende Berufsschulleistungen erbracht habe. Weiters sei ihm am 16. 5. 2001 seitens der Berufsschule der Internatsausschluss angedroht worden, weil er gegenüber Mitschülern tätlich geworden sei. Mit seiner Klage vom 7. 4. 2003 begehrte der Kläger den Zuspruch von EUR 5.075,48 brutto sA, bestehend aus nichtbezahlten Entschädigungen für Mehrarbeit und Überstunden, an Weihnachtsremuneration für das Jahr 2002, anteilige Sonderzahlungen für die Zeit vom 1. bis 24. 1. 2003, Entfernungszulage, einer Differenz an Lehrlingsentschädigung für die Zeit vom 1. 7. bis 30. 11. 2002 sowie Kündigungsentschädigung und Urlaubsersatzleistung. Die Entlassung sei unberechtigt erfolgt. Überdies stehe ihm seit Eintritt in das dritte Lehrjahr die für diesen Lehrabschnitt zustehende, kollektivvertragliche Entschädigung zu, und nicht nur die für das zweite Lehrjahr.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Da der Kläger die zweite Klasse der Berufsschule nicht positiv abgeschlossen habe, sei er entsprechend Artikel IX Abs 6 des Kollektivvertrages weiterhin wie ein Lehrling im zweiten Lehrjahr zu entlohnen gewesen und daher dementsprechend abgerechnet worden. Im Hinblick auf frühere Vorfälle und Ermahnungen wegen Dienstpflichtverletzungen sei die nicht rechtzeitige Rückgabe der Arbeitskleidung ein ausreichender Entlassungsgrund. Auch Kündigungsentschädigung stehe daher nicht zu.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren im Umfang von EUR 4.236,78 brutto sA statt und wies das Mehrbegehren von EUR 838,70 brutto sA (- dies unangefochten -) ab. Es vertrat die Rechtsauffassung, dass der Kläger keinen Entlassungsgrund iSd § 15 Abs 3 lit c BAG gesetzt habe. Einerseits hätten die Ermahnungen keine einschlägigen Dienstpflichtverletzungen betroffen, andererseits sei der Anlassfall kein ausreichender Entlassungsgrund. Hinsichtlich der Höhe der Entschädigung vertrat das Erstgericht die Auffassung, dass Artikel IX Abs 6 des Kollektivvertrages so auszulegen sei, dass für den Fall, dass der Lehrling die zunächst nicht bestandene Abschlussprüfung einer Schulstufe nachhole, zu fingieren sei, dass er diese bereits bei Beginn des Ausbildungsjahres absolviert und daher rückwirkend ab diesem Zeitpunkt Anspruch auf die höhere, dem laufenden Ausbildungsjahr entsprechende Lehrlingsentschädigung habe. Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil des Erstgerichtes. Es vertrat die Rechtsauffassung, dass die Entlassung unberechtigt erfolgt sei. Hinsichtlich der Lehrlingsentschädigung vertrat es ebenfalls die Rechtsauffassung, dass der erfolgreiche Abschluss der Abschlussprüfung für das zweite Lehrjahr während des dritten Lehrjahres dazu führe, dass der Kläger rückwirkend mit Beginn des dritten Lehrjahres Anspruch auf die dem laufenden Lehrjahr entsprechenden, höhere Lehrlingsentschädigung habe. Es sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei, weil keine erhebliche Rechtsfrage vorliege, insbesondere von der bisherigen Rechtsprechung nicht abgewichen worden sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der beklagten Partei aus dem Grund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens sowie der unrichtigen rechtlichen Beurteilung, "hilfsweise auch der Aktenwidrigkeit" mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, dass das Klagebegehren zur Gänze abgewiesen werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die klagende Partei beantragte, die Revision als unzulässig zurückzuweisen; hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil die Auslegung der hier relevanten Kollektivvertragsbestimmung in ihrer Bedeutung über den Einzelfall hinausgeht; sie ist im Umfang des Aufhebungsantrages auch berechtigt. Vorweg ist auf das Revisionsvorbringen insoweit nicht einzugehen, als angebliche Krankheitszeiten des Klägers, Abwesenheitszeiten und verbrauchte Urlaube sowie angebliche Entgeltfortzahlungen nicht berücksichtigt worden seien. Diese Umstände wurden nämlich in der Berufung nicht geltend gemacht. Sowohl unterbliebene Rügen angeblicher Mängel des Verfahrens erster Instanz als auch unterbliebene Rechtsrügen können nach ständiger Rechtsprechung im Revisionsverfahren nicht mehr nachgeholt werden.

Gemäß § 15 Abs 3 lit c BAG kann das Lehrverhältnis vorzeitig durch den Lehrberechtigten aufgelöst werden, wenn der Lehrling trotz wiederholter Ermahnungen die ihm aufgrund dieses Bundesgesetzes, des Schulpflichtgesetzes oder des Lehrvertrages obliegenden Pflichten verletzt oder vernachlässigt. Nicht jede Pflichtverletzung oder Pflichtvernachlässigung erfüllt aber diesen Tatbestand. Wohl genügt Fahrlässigkeit, doch muss die Pflichtverletzung erheblich sein. Bloße Ordnungswidrigkeiten reichen nicht aus (RIS-Justiz RS0052758;

Kuderna, Entlassungsrecht2 169 mit Verweis auf 114;

Berger/Fida/Gruber BAG-Kommentar Rz 73 zu § 15). Das Verhalten des Klägers, am letztmöglichen Tag in der Arbeitskleidung ohne Reservekleidung zu erscheinen, obwohl ihm bewusst gewesen sein musste, dass er auch diese Arbeitskleidung abgeben sollte, geht in seiner Intensität über eine Ordnungswidrigkeit nicht hinaus. Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang der Umstand, dass der Kläger die ihm zuletzt gesetzte Frist lediglich um eine Viertelstunde überschritten und erkennbar keine Absicht hatte, die Weisung des Arbeitgebers auf Rückgabe des Gewandes nachhaltig zu verweigern. Insoweit kann daher auf die Richtigkeit der Beurteilung durch das Berufungsgericht hingewiesen werden (§ 510 Abs 3 ZPO). Da die - rechtskräftige - Teilabweisung jedoch nicht ausreichend differenziert ist, kann auch kein Teilurteil im Sinne einer teilweisen Stattgebung des Begehrens auf Zuerkennung der beendigungsabhängigen Ansprüche erfolgen.

Der zur Entschädigung berufene Senat teilt hingegen nicht die Rechtsauffassung der Vorinstanzen, dass die erfolgreiche Ablegung der Abschlussprüfung für das zweite Berufsschuljahr während des dritten Lehrjahres - unabhängig vom Datum der Ablegung dieser Prüfung - dazu führt, dass rückwirkend mit Beginn des dritten Lehrjahres die höhere Lehrlingsentschädigung zusteht.

Gemäß Artikel IX Abs 6 des hier anzuwendenden Kollektivvertrages für Arbeiter im eisen- und metallverarbeitenden Gewerbe (- die Revisionswerberin zitiert fälschlich den Kollektivvertrag für Angestellte des eisen- und metallverarbeitenden Gewerbes -) haben Lehrlinge, gestaffelt nach dem ersten bis vierten Lehrjahr, Anspruch auf entsprechende Mindestsätze an Lehrlingsentschädigung. Nach dieser Bestimmung gebührt Lehrlingen, die aufgrund nicht genügender Leistungen (nicht aber wegen Krankheit bzw Unfall) nicht berechtigt sind, in die nächst höhere Schulstufe aufzusteigen, im darauffolgenden Lehrjahr nur die Lehrlingsentschädigung in Höhe des abgelaufenen Lehrjahres. Ist der Lehrling in diesem Lehrjahr zum Aufsteigen berechtigt, so gebührt im darauffolgenden Lehrjahr wieder die der Dauer der Lehrzeit entsprechende Lehrlingsentschädigung. Die Kollektivvertragsparteien hatten (wie offensichtlich auch Adametz in seiner Kommentierung des § 19 des Kollektivvertrages für Angestellte des Metallgewerbes) den Fall vor Augen, dass die Aufstiegsprüfung für das abgelaufene Lehrjahr erst am Ende des laufenden Lehrjahres erfolgt. Was für den Fall gilt, dass der Lehrling die Aufstiegsprüfung für das nächste Berufsschuljahr noch vor dem Ende des folgenden Lehrjahres schafft, und - wie im vorliegenden Fall - überdies in die Lage versetzt wird, auch noch die Abschlussprüfung für dieses laufende Lehrjahr zu absolvieren (siehe hier: die Einberufung für Jänner 2003) kann nur durch Auslegung dieser Kollektivvertragsbestimmung ermittelt werden. Den Kollektivvertragsparteien ist grundsätzlich zu unterstellen, dass sie eine vernünftige, zweckentsprechende und praktisch durchführbare Regelung treffen sowie einen gerechten Ausgleich der sozialen und wirtschaftlichen Interessen herbeiführen wollten, sodass bei mehreren an sich in Betracht kommenden Auslegungsmöglichkeiten, wenn alle anderen Auslegungsgrundsätze versagen, jener der Vorzug zu geben ist, die diesen Anforderungen am meisten entspricht (stRsp RIS-Justiz RS0008828; RS008897 ua). Adametz (aaO) ist dahin zu folgen, dass Sinn der Bestimmung des § 19 des Angestelltenkollektivvertrages, aber auch des Artikels IX Abs 6 des Arbeiterkollektivvertrages ist, für Schüler einen Ansporn zu setzen, das Lernziel zu erreichen, nicht aber, dem Lehrberechtigten eine Kostenersparnis zu verschaffen. Schafft nun ein Lehrling in dem auf das vorgesehene Berufsschuljahr folgenden Lehrjahr die Aufstiegsprüfung für das mit dem Lehrjahr korrespondierende Berufsschuljahr, ist damit nicht nur das vorgenannte Ziel erfüllt, sondern für den Lehrberechtigten auch der Vorteil verbunden, einen Lehrling mit nachgewiesen höherer Qualifizierung beschäftigen zu können. Wollte man den Umstand der Nachholung dieser Prüfung für die auf das restliche laufende Lehrjahr entfallende Lehrlingsentschädigung ohne Bedeutung sein lassen, würde dies dem Ziel eines Ansporns zur möglichst frühen Nachholung dieser Prüfung diametral zuwiderlaufen. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen verhindert aber der jede Auslegung begrenzende äußerste Wortsinn der Kollektivvertragsbestimmung eine Rückwirkung, nämlich auf den Beginn des laufenden Lehrjahres. Die vorerwähnte vernünftige Auslegung gebietet vielmehr die Erhöhung der Lehrlingsentschädigung mit der auf den erfolgreichen Prüfungsabschluss folgenden Lohnperiode. Da dieser Zeitpunkt aber nicht festgestellt wurde, erweist sich das Verfahren für die Beurteilung sowohl einer möglichen Entschädigungsdifferenz als auch der davon abhängigen weiteren Ansprüche (insbesondere Sonderzahlungen) als ergänzungsbedürftig. Im fortgesetzten Verfahren wird daher das Erstgericht den Zeitpunkt der erfolgreichen Aufstiegsprüfung festzustellen und dann eine neuerliche Entscheidung zu treffen haben.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

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