Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Arbeitsrechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Der Kläger war vom 30. Juli 1973 bis 4. April 1983 bei der Beklagten als Hilfsarbeiter beschäftigt. Sein Arbeitsverhältnis endete durch Entlassung.
Mit der Behauptung, seine Entlassung sei ungerechtfertigt erfolgt bzw. es treffe ihn jedenfalls kein Verschulden an der Entlassung, begehrt der Kläger den der Höhe nach unbestrittenen Klagebetrag als Abfertigung.
Die Beklagte beantragte, das Klagebegehren abzuweisen. Der Kläger sei trotz Abmahnung und Androhung der Entlassung mehrmals während der Arbeitszeit betrunken gewesen. Am 3. April 1985 habe er im alkoholisierten Zustand neben einer Baustelle auf der Straße die Notdurft verrichtet. Am 4. April 1985 sei er vom Geschäftsführer der Beklagten zwischen 9.00 Uhr und 9.20 Uhr in einem Gasthaus angetroffen worden, wo er gerade Rum zu sich genommen habe. Der Kläger sei außerdem unfähig, die bedungene Arbeit zu leisten. Die Entlassung sei daher zu Recht ausgesprochen worden. Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es traf im wesentlichen folgende Feststellungen:
Der von Geburt an geistesschwache Kläger beging schon vor der Entlassung jahrelang Alkoholmißbrauch. Aus diesem Grunde und wegen einer Hypertonie kam es bei ihm zu regressiven Veränderungen des Cerebrums im Sinne einer frontalgefärbten Hirnatrophie, woraus eine euphorische Kritiklosigkeit resultierte. Bei einer Hirnatrophie (Schrumpfung des Hirns) handelt es sich um eine organische Erkrankung, die beim Kläger dazu führte, daß er weder die Tatsache des Trinkens noch dessen Ausmaß erkennen und seinen Stuhldrang nicht mehr kontrollieren konnte. Auf Grund dieser Erkrankung, die auch ohne alkoholische Komponente auftritt, war der Kläger schon seit einem halben Jahr vor der Entlassung nicht mehr in der Lage zu beurteilen, was er tat, und befand sich in einem die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustand. Er war absolut dispositions- und diskretionsunfähig.
Am 3. April 1985 war der Kläger betrunken; er verrichtete in diesem Zustand auf einer Straße im Baustellenbereich öffentlich die Notdurft. Wegen dieses Vorfalls wurde er ermahnt und ihm die Entlassung angedroht. Am 4. April 1985 erschien der Kläger um 7.00 Uhr bereits alkoholisiert auf der Baustelle und trank bis 8.00 Uhr eine Flasche Rum. Anschließend begab er sich in ein Gasthaus, wo er gegen 9.20 Uhr vom Geschäftsführer der Beklagten angetroffen und wegen der Alkoholisierung und Arbeitsunfähigkeit entlassen wurde.
Das Fehlverhalten des Kläger ging im Zeitpunkt der Entlassung über den Zustand der Berauschung hinaus und war ein Symptom der Vorderhirnstörung. Er wäre auch ohne Alkoholisierung nicht in der Lage gewesen, die bedungenen Arbeiten zu verrichten. Dem Kläger war die ihm vorgeworfene Verletzung seiner Arbeitspflicht weder bewußt noch mußte sie ihm bewußt werden.
Er hatte unabhängig davon, daß er alkoholisiert war, seine Dispositions- und Diskretionsfähigkeit bereits ein halbes Jahr vor den festgestellten Vorfällen, die zur Entlassung führten, auf Dauer verloren.
Das Erstgericht vertrat die Rechtsauffassung, daß Entlassungsgrund nicht der langjährige Alkoholmißbrauch durch den Kläger gewesen sei; die zur Entlassung führenden Vorfälle habe der Kläger aber nicht mehr erkennen können, da er bereits ein halbes Jahr vorher organisch krank und völlig kritiklos geworden sei. Es lasse sich zwar nicht mit Sicherheit feststellen, ob nicht auch Bluthochdruck und andere neurologischen Erkrankungen zur Hirnschrumpfung geführt hätten, doch habe der Kläger seine Erkrankung auch mitverschuldet. Dies ändere jedoch nichts daran, daß die im Zeitpunkt der Entlassung vorhandene Kritiklosigkeit und Dispositionsunfähigkeit auch ohne die Alkoholisierung gegeben gewesen wäre. Den Kläger treffe daher kein Verschulden an seiner Pflichtverletzung.
Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens ab. Es vertrat die Rechtsauffassung, daß es nicht darauf ankomme, ob dem Kläger ein Verschulden an der Alkoholisierung am Tag der Entlassung anzulasten sei. Jeder müsse wissen, daß wiederholter längerer Alkoholmißbrauch zur Trunksucht führe. Der Kläger hätte beweisen müssen, daß ihn an seiner Alkoholsucht und der darin begründeten Pflichtverletzung aus besonderen Gründen kein Verschulden getroffen habe. Diesen Beweis habe der Kläger weder angetreten noch erbracht. Auf Grund der Vorfälle am 3. und 4. April 1985 treffe ihn daher ein Verschulden an der begründeten Entlassung.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die aus dem Grunde der unrichtigen rechtlichen Beurteilung erhobene Revision des Klägers mit dem sinngemäßen Antrag auf Wiederherstellung des erstgerichtlichen Urteils. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Beklagten beantragten in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist berechtigt.
Es ist im Revisionsverfahren nicht mehr strittig, daß die Entlassung des Klägers an sich gerechtfertigt war. Dies ergibt sich schon im Hinblick auf seine offenbar gewordene Arbeitsunfähigkeit gemäß § 82 lit b GewO 1859, welcher Tatbestand ein Verschulden des Arbeitnehmers nicht voraussetzt (vgl. Kuderna, Das Entlassungsrecht 45 und 59). Der Kläger hat jedenfalls einen Einwand, der Geschäftsführer der Beklagten habe seine (dauernde) Arbeitsunfähigkeit schon vorher erkennen können, nicht erhoben. Auch aus dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit einer Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses (vgl. Kuderna aaO 37 ff) folgt die Berechtigung der Beklagten zur vorzeitigen Auflösung. Weitere in Betracht kommende Entlassungstatbestände, die schuldhaftes Verhalten voraussetzen, sind daher nicht weiter zu prüfen.
Gemäß § 23 Abs 7 AngG, der nach § 2 ArbAbfG hier sinngemäß anzuwenden ist, verliert aber ein entlassener Arbeitnehmer seinen Abfertigungsanspruch nur dann, wenn ihn ein Verschulden an der vorzeitigen Entlassung trifft (vgl. Martinek-Schwarz, AngG6 § 23 Erl. 39, sowie Abfertigung - Auflösung des Arbeitsverhältnisses 370; Migsch, Abfertigung für Arbeiter und Angestellte Rz 312 f). Ein solches Verschulden des Klägers kann entgegen der Ansicht des Berufungsgerichtes jedoch nicht schon in der in den Vorfällen vom 3. und 4. April 1985 zum Ausdruck kommenden Verletzung der Treuepflicht gesehen werden. Richtig ist, daß bei Alkoholabhängigkeit zufolge Alkoholmißbrauches die Nichtbeachtung der in den Rahmen der Sorgfaltspflicht fallenden Erfahrungen, Erkenntnisse und Gebote als Verschulden zu verantworten ist. Dabei kommt es aber nicht nur auf den Beginn des Alkoholmißbrauches an (vgl. Arb. 9.460). Andererseits ist Alkoholabhängigkeit eine Krankheit im medizinischen Sinn und auch rechtlich wie eine Krankheit zu behandeln (vgl. Knöfler-Martinek, Mutterschutzgesetz7 183; ZAS 1988/16; BAG 9.4.1987, NJW 1987, 2956; BAG 11.11.1987, NZA 1988, 197 ua). Im vorliegenden Fall kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger hinsichtlich der zur Entlassung führenden Vorfälle schuldhaft einen Kontrollverlust herbeiführte und inwieweit ein Verschulden des Klägers gegen sich selbst seinem Abfertigungsanspruch entgegenstünde (vgl. Migsch aaO Rz 313), da er nach den Feststellungen des Erstgerichtes bereits seit längerer Zeit absolut dispositions- und diskretionsunfähig war. Er konnte sohin kein vorwerfbares schuldhaftes Verhalten einnehmen, da ein solches Verhalten Zurechnungsfähigkeit voraussetzt (vgl. Kuderna aaO 46 f). Wenn aber trotz der gerechtfertigten Entlassung kein Schuldvorwurf gegen den Kläger erhoben werden kann, steht ihm auf der Grundlage der erstgerichtlichen Feststellungen die begehrte Abfertigung zu. Die Rechtssache ist jedoch noch nicht spruchreif, weil das Berufungsgericht die Beweisrüge der Beklagten nicht erledigt hat. Mit ihrer Beweisrüge wendet sich die Beklagte gegen die Feststellungen des Erstgerichtes über das Vorliegen einer Hirnatrophie und der sich daraus ergebenden Folgen der Unzurechnungsfähigkeit. Den diesbezüglichen Feststellungen kommt aber, wie das Berufungsgericht in seinem seinerzeitigen Aufhebungsbeschluß im ersten Rechtsgang selbst ausführte, entscheidungswesentliche Bedeutung zu.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 52 ZPO.
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