OGH 9Ob519/95

OGH9Ob519/9522.11.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes HonProf.Dr.Gamerith als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Maier, Dr.Bauer, Dr.Ehmayr und Dr.Steinbauer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Hans D*****, Inhaber der Galerie W*****, vertreten durch Dr.Conrad Carl Borth und Dr.Johannes Müller, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagten Parteien 1. Charlotte N*****, 2. Harald W*****, 3. Maria M*****, sämtliche vertreten durch Dr.Gerhard Benn-Ibler, Rechtsanwalt in Wien, wegen Wiederaufnahme (Streitwert S 210.901,32 sA), infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 8. März 1995, GZ 40 R 88/95-32, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien vom 25.Juli 1994, GZ 48 C 466/93y-9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird an das Prozeßgericht erster Instanz zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung über die Wiederaufnahmsklage zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit rechtskräftigem Urteil des Erstgerichts vom 18.9.1992, GZ 48 C 27/90k-31, wurde der Kläger als Erwerber des von ihm am Standort ***** W***** betriebenen Galerieunternehmens verpflichtet, das Bestandobjekt zufolge rechtsgültigen Verzichtes der Hauptmieterin auf ihre Bestandrechte zu räumen. Der Verzicht sei dadurch erfolgt, daß der Vertreter der Liegenschaftseigentümer mit der Vertreterin der Hauptmieterin, der Rechtsanwältin Dr.Bronia B***** in sämtlichen Punkten der (von der Tochter der Hauptmieterin unterfertigten) Verzichtserklärung Einigung erzielt und ihr als Gegenleistung Geld übergeben habe (Seite 123 und 131 im Akt 48 C 27/90k des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien).

Mit der vorliegenden Klage begehrt der Kläger die Wiederaufnahme des rechtskräftig abgeschlossenen Räumungsverfahrens. Er sei im Sinne des § 530 Abs 1 Z 7 ZPO in Kenntnis neuer Tatsachen und Beweismittel gelangt, deren Vorbringen und Benützung im früheren Verfahren eine ihm günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde. Die im früheren Verfahren nicht als Zeugin vernommene Rechtsanwältin Dr.Bronia B***** habe nämlich am 17.11.1993 und 23.11.1993 mitgeteilt, daß sie namens der Hauptmieterin weder auf die Mietrechte verzichtet noch ein Verzichtsentgelt in Höhe von S 100.000 entgegengenommen habe. Soweit der Vertreter der Liegenschaftseigentümer derartiges behaupte, habe er gelogen.

Die Beklagten beantragten, das Wiederaufnahmebegehren abzuweisen. Der Aussage der Zeugin Dr.Bronia B***** komme keine Bedeutung zu. Die Verzichtserklärung sei von der Tochter der Hauptmieterin, Edith S*****, in Vertretung der Mutter unterschrieben worden. Diese habe gegen Zahlung auf die Mietrechte verzichtet.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Kläger habe als damaliger Beklagter gar nicht vorgebracht, daß sich Dr.Bronia B***** mit dem Vertreter der Hauseigentümer nicht über einen Verzicht geeinigt habe, so daß es dem neuen Beweismittel schon an der Tatsachengrundlage ermangle.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, daß die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die aus dem Grunde der unrichtigen rechtlichen Beurteilung erhobene außerordentliche Revision des Klägers mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß dem Klagebegehren stattgegeben werde. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagten beantragen in ihrer Revisionsbeantwortung, der außerordentlichen Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die außerordentliche Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht das Vorliegen einer neuen "Tatsache" im Sinne des § 530 Abs 1 Z 7 ZPO verkannt hat und diese Fehleinschätzung geeignet ist, die Rechtssicherheit im Einzelfall zu beeinträchtigen (§ 502 Abs 1 ZPO.

Die Revision ist auch berechtigt.

Eine neue Tatsache im Sinne des § 530 Abs 1 Z 7 ZPO bildet einen tauglichen Wiederaufnahmsgrund, wenn sie der Partei vorher unbekannt war und sie diese nur aus diesem Grund im Vorprozeß nicht geltend machen konnte (vgl Kodek in Rechberger ZPO § 530 Rz 5 mwH). Entgegen der Ansicht der Beklagten ist es für den vorliegenden Fall nicht unerheblich, auf welche Weise der Verzicht auf die Mietrechte zustande gekommen und im Rahmen welcher Behauptungen der Vorprozeß geführt worden ist.

Richtig ist, daß der zu 48 C 27/90k des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien geführte Räumungsprozeß (kurz Vorakt) neben dem Streit, ob der Beklagte im Vorprozeß selbst Hauptmieter geworden ist, darüber geführt wurde, ob die Hauptmieterin Margaret F***** wirksam auf ihre Bestandrechte verzichtet hat. Dabei wurde jedoch im wesentlichen lediglich ein (schriftlicher) Verzicht der Tochter der Hauptmieterin Margaret F*****, Edith S*****, erörtert (Verzichtserklärung vom 23.1.1989, Beilage E). Der damalige Beklagte wandte dagegen ein, daß die Tochter nicht rechtsgültig bevollmächtigt und daß die 90 Jahre alte Margaret F***** bei Erteilung der Vollmacht an ihre Tochter nicht geschäftsfähig gewesen sei (vgl Seiten 50, 56, 58, 61, 95 und 103 des Voraktes).

Das Erstgericht stellte im Vorprozeß zwar fest, daß Margaret F***** ihrer Tochter Edith S***** am 24.8.1988 eine ihr gesamtes Eigentum umfassende Vollmacht mit allgemeiner Vertretungsbefugnis erteilt habe (Seite 121 des Voraktes), doch könne nicht festgestellt werden, wozu sie eine solche Vollmacht ausgestellt habe (Seite 123 des Vorakts). Die Einvernahme der Edith S***** sowie die Einholung eines Sachverständigengutachtens über die Geschäftsfähigkeit der Margaret F***** zum Zeitpunkt der Vollmachtserteilung könne aber entfallen, weil Margaret F***** ohnehin auch durch die Rechtsanwältin Dr.Bronia B***** aufgrund einer früheren Vollmacht vertreten gewesen und (der Beklagte des Vorprozesses) nicht behauptet habe, daß Margaret F***** schon zum Zeitpunkt dieser Vollmachtserteilung geschäftsunfähig gewesen sei (Seite 129 des Vorakts). Auf die Hauptmietrechte sei schon dadurch verzichtet worden, daß die Rechtsanwältin Dr.Bronia B***** als Vertreterin der Margaret F***** Einigung über die Verzichtserklärung erzielt und Geld als Gegenleistung für den Verzicht übernommen habe (Seite 131 des Voraktes). Mangels Eingehens auf die Einwendungen des damaligen Beklagten (mangelnde Geschäftsfähigkeit der Margaret F***** bei Vollmachtserteilung an ihre Tochter) ist daher aus der Feststellung des Erstgerichts im Vorprozeß, daß Edith S***** die Verzichtserklärung am 23.1.1989 in der österreichischen Botschaft unterfertigt habe (Seite 123 im Vorakt) entgegen der Ansicht der Beklagten nichts zu gewinnen.

Der damalige Beklagte wurde durch dieses (dem Prozeßthema ausweichende) Ergebnis überrascht (Seite 140, 144 ff des Voraktes). Das Berufungsgericht billigte aber die Rechtsansicht des Erstgerichtes, daß die Rechtsanwältin Dr.Bronia B***** Margaret F***** bei Abschluß der Dissolutionsvereinbarung wirksam vertreten habe (Seite 213 des Voraktes) und der Verzicht auf die Hauptmietrechte schon durch eine Einigung zwischen ihr und der Hausverwaltung zustande gekommen sei (Seite 210 des Voraktes). Der Oberste Gerichtshof wies die außerordentliche Revision des damaligen Beklagten mit der Begründung zurück, daß die einem Rechtsanwalt erteilte Vollmacht zur Geschäftsbesorgung auch zum Abschluß bevollmächtige (Seite 244).

Im nunmehrigen Wiederaufnahmeverfahren bringt der Kläger und damalige Beklagte neu vor, daß Dr.Bronia B***** weder auf die Hauptmietrechte verzichtet noch Geld entgegengenommen habe (Seite 3 ff). Das Erstgericht hält das Wiederaufnahmebegehren für unschlüssig, weil die Frage des Verzichts bereits im Räumungsverfahren geprüft worden sei (Seite 49). Das Berufungsgericht verneint das Vorliegen eines "neuen Beweismittels", weil es sich nicht um ein neues Beweismittel zu einer bislang unbekannten Tatsache handle (Seite 157). Es liege auch keine neue Tatsache vor, weil die Frage des Verzichts auf die Hauptmietrechte Gegenstand des Räumungsverfahrens und die Vertretungsbefugnis durch die Rechtsanwältin Dr.Bronia B***** unstrittig gewesen sei (Seite 158). Der Wiederaufnahmskläger habe aber Dr.B***** gar nicht als Zeugin dafür geführt, daß es mit der Hausverwaltung nicht zum Konsens gekommen sei (Seite 159).

Mit diesen Ausführungen übersehen die Vorinstanzen, daß der Beklagte im Räumungsprozeß nicht verhalten war, ohne entsprechende Tatsachenkenntnisse leere Einwendungen zu erheben (MietSlg 38.802); er konnte auch - da es im Räumungsprozeß nach dem Parteienvorbringen um die Vertretung der Margaret F***** durch ihre Tochter ging - die letztliche Erheblichkeit der Verhandlungsführung durch die Rechtsanwältin Dr.Bronia B***** nicht vorhersehen. Selbst bei einer solchen Vorhersehbarkeit (Seite 33 im Vorakt) hätte er ohne Kenntnis der Tatsachen nicht "ins Blaue" behaupten können, daß Rechtsanwältin Dr.B***** nicht zum Verzicht ermächtigt gewesen sei, keinen Verzicht auf die Hauptmiete abgegeben und auch kein Geld erhalten habe. Er war ohne konkrete Information nicht verpflichtet, zu der diesbezüglich "überschießenden" Aussage des Hausverwalters (Seite 33 und 99 des Voraktes) sofort jeweils Kontrollbeweise anzubieten. Das Vorbringen, daß die Rechtsanwältin Dr.B***** nicht verzichtet und auch kein Geld genommen habe, betrifft daher eine neue Tatsache im Sinne des § 530 Abs 1 Z 7 ZPO, die geeignet erscheint, eine wesentliche Änderung der Beweiswürdigung zu dieser Frage herbeizuführen (Kodek aaO § 530 Rz 5; GMA ZPO14 E 81 f). Da der Kläger und damalige Beklagte zufolge der Behauptungen im Vorprozeß auch keine Veranlassung hatte, Nachforschungen über die zusätzliche Vertretung der Hauptmieterin durch die Rechtsanwältin Dr.B***** anzustellen, gereicht es ihm auch nicht zum Verschulden, daß er die neue Tatsache nicht schon vor Schluß der Verhandlung erster Instanz im Räumungsprozeß geltend machen konnte (§ 530 Abs 2 ZPO).

Die Kostenentscheidung ist in § 52 ZPO begründet.

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